Mittwoch, 29. September 2021

"Merci, Deutschland"

Die Bundestagswahl hat uns alle ganz schön herausgefordert. Nach Ansicht vieler ausländischer Medien war sie sterbenslangweilig. Für mich war sie fast nicht zum Aushalten. Am Schluss hab ich nur noch den Wahltag herbei gesehnt, um diese Spannung endlich zu beenden.

Es ging natürlich auch um sehr viel: Veränderung oder "Weiter so". Und das Ergebnis scheint ein laues Bekenntnis zur Veränderung zu sein, nicht gerade das erhoffte begeisternde Zupacken und Vorwärtsdrängen.
Und dabei gäbe es so viele Gründe dafür: Deutschland ist nicht das gelobte Wunderland der im Wahlkampf viel bemühten CDU-Legenden. In der Wirtschaftswoche ! wurde erst vor Kurzem attestiert: "Der Standort Deutschland ist in keinem sonderlich guten Zustand" hier

In der Pressemitteilung des KlimaCamps vom 24.9.21 wurden bereits einige interessante Tatsachen (mit Quellenangaben  hier) zusammen getragen:

„Wir können stolz sein auf das, was wir getan und erreicht haben“, wird Thomas Bareiß (CDU) erst am 10.9.21 in der Ludwigsburger Kreiszeitung zitiert. „Nach 16 Jahren unter Bundeskanzlerin Merkel steht Deutschland besser  da als alle anderen Länder der Europäischen Union“, betont der  Wirtschaftsstaatssekretär.

Wie wenig man solchen Beteuerungen . glauben darf,  bewies die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) erst kürzlich mit  vielen Grafiken. Die FAZ schreibt zur Lage der Infrastruktur in Deutschland:  "Das ließ unser Land im internationalen Vergleich regelrecht abstürzen:  Von Rang 2 in der Befragung 2007/2008 auf Rang 12 zehn Jahre später".

Ähnliche Schlagzeilen waren vor Kurzem im Bereich Digitalisierung  bekannt geworden: "In der digitalen Wettbewerbsfähigkeit fällt  Deutschland weiter zurück. Laut einem neuen Ranking reicht es nur noch  für den vorletzten Platz Europas" - vor Albanien (5).

Auch die EU mahnt Deutschland regelmäßig wegen massiver Versäumnisse  beim Schutz unserer Lebensgrundlagen an:

 "Die Wasserqualität in Deutschland zeigt keine Anzeichen für Besserung. Die Qualität des Grundwassers in Deutschland gehört zu den  schlechtesten in Europa“, erklärte der zuständige EU-Umweltkommissar im Juli 2019 (6).

Im Februar 2021 hieß es: "EU-Kommission verklagt Deutschland wegen jahrelanger Verstöße gegen geltendes Naturschutzrecht vor dem  Europäischen Gerichtshof (EuGH)" (7).

Im Juni 2021 schließlich konnte man erfahren: "Deutschland hat lange zu wenig gegen Luftverschmutzung getan, urteilt der Europäische Gerichtshof (8).

Es gibt also viele gute Gründe Veränderung herbei zu sehnen und dem "Weiter so" einen Riegel vorzuschieben. Insbesondere für die junge Generation, die mit den Folgen leben muss.
Und nun dieser Artikel in der Süddeutschen Zeitung - 
 er beleuchtet unser anscheinend so langweiliges und ganz und gar nicht perfektes Deutschland noch einmal von einer  ganz anderen Seite, auf die wir tatsächlich stolz sein können. Und dafür bin ich dankbar.


Süddeutsche Zeitung  hier
Frankreichs bekanntester Philosoph  Bernard-Henri Lévy 

:

Von Paris aus betrachtet war diese Bundestagswahl eine schöne Lehrstunde in Demokratie - in einem hoch gefährdeten Europa.

Diese deutsche Wahl war eine ganz und gar außergewöhnliche Wahl. Da ist einmal die Wahlbeteiligung von mehr als 76 Prozent, die, auch dank der Briefwahl, die Lebendigkeit dieser Demokratie bezeugt. Es war eine Wahl, in der die radikale Linke nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde schaffte. In der die radikale Rechte immer noch zu stark ist, aber doch viel schwächer als in meinem Land. Obendrein wird die radikale Rechte durch den cordon sanitaire ausgegrenzt, eine Art Hygieneabstand, den die beiden großen Parteien, ohne viel Aufhebens darum zu machen, um diese AfD gezogen haben.

Bei den Grünen ist der Streit zwischen Fundis und Realos entschieden, anders als in Frankreich, wo jemand wie Sandrine Rousseau ihre radikale und arrogante Ideologie über die Sorge stellt, den Planeten wirklich zu reparieren. Die Wählerinnen und Wähler bewahren, in souveräner Ausübung ihrer Macht, die beiden großen Parteien vor der politischen Sünde bewegter Zeiten, nämlich der Hybris: Beide Parteien landen fast gleichauf, wenn auch mit einem Vorsprung für die SPD - und beide werden sich mit Grünen und Liberalen verständigen müssen.

Diese gemäßigte Wahl ist kein Zufall, sondern der Sieg einer jungen Frau aus der DDR
Genau genommen war es ein anspruchsvoller, sachlicher und gemäßigter Wahlkampf, bei dem die Wähler aufmerksam Debatten um Digitalisierung und Schuldenbremse verfolgen konnten. Der Ton zwischen den Kandidatinnen und Kandidaten war respektvoll, angenehm, und alle waren um eine klare, verständliche Sprache bemüht, aber es gab auch Momente in Altgriechisch, als vor einer Stasis des politischen Systems gewarnt wurde.

Natürlich war es ein Kampf ohne Gnade, in dem kein Argument ausgespart blieb, das den Gegner in Schwierigkeiten bringen konnte, und in dem der Kandidat der CDU, wie das in unserer Gesellschaft des Spektakels heute nun mal ist, seine Ungeschicklichkeiten und Zerstreutheit schwer büßen musste.

Aber anders als bei uns in Frankreich waren in Deutschland weder der Islam noch die Zuwanderung ein Thema. Weil sie tabu gewesen wären? Weil man, wie es ein Éric Zemmour und andere Redenschwinger in Paris behaupten, solche Fragen nicht stellen darf? Keineswegs. Wenn so wenig über den Islam und die Zuwanderung zu reden war in Deutschland, dann, weil Angela Merkel ihr Land über ihre Partei und die Geschichte über die Macht gestellt hat.

Angela Merkel hatte 2015 den Mut, "Wir schaffen das" zu sagen, eine ebenso schlichte wie nahezu biblische Formel. Heute hat die Mehrheit der damaligen Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan einen Job. Es ist wirklich geschafft. Man musste über den ganzen Komplex nicht mehr reden, weil es in Berlin diesen reinen Moment der Größe gab, von kantischer Moralität und Wahrheit, dessen Geist die gesamte politische Klasse beseelt hat.
Diese gemäßigte, friedliche Wahl ist kein Zufall, sondern sie ist der Sieg einer einst jungen Frau aus der DDR, die an der Mauer entlang zur Arbeit ging und heute nicht allzu weit vom Denkmal für die ermordeten Juden wohnt.
Sie wird zum Symbol eines anderen Deutschlands. ..... Schließlich gelingt es ihr noch, den in der Vergangenheit so katastrophalen politischen Extremismus der Deutschen auf ein Ausmaß zu reduzieren, um das wir Franzosen diese Deutschen beneiden können und müssen.

Ein Tornado aus Dummheit fegt über Europa. In Deutschland funktionieren die Blitzableiter
Vor dreißig Jahren traute man ihr nur die Leitung irgendwelcher Jugendbewegungen zu, oder die Beschwerden von Ostseefischern zu sammeln - nun verlässt sie nach sechzehn Jahren die Bühne der Politik, um quicklebendig in die Geschichte des Jahrhunderts einzugehen. Und weil die Regierungsbildung sich hinziehen kann, ist ihr sogar der Luxus einer politischen Ehrenrunde vergönnt, einige Wochen oder gar Monate einer Amtszeit, die sie mit Glanz und Anerkennung beendet. Die Leute sind eben nicht aller Eliten überdrüssig - auch das ist ein gutes Zeichen.

Manche sind freilich genervt von der strengen Miene, dem stets braven Auftreten des Merkel'schen oder nun post-Merkel'schen Deutschlands, und sie bemerken nicht zu Unrecht, dass die Seele Europas sich kaum auf einen Geist der Ernsthaftigkeit und der Sorge um Wohlstand reduzieren lässt. Aber darum ging es dieses Mal nicht. Es ging dieses Mal um den üblen Wind, der über diesem Kontinent weht.
Das ist nicht der Sturm aus dem Begriffspaar mit dem romantischen Drang, kein Gewitter aus Kunst, Geist und Intelligenz, sondern ein Orkan aus Hass und Gewalt. Ein Tornado der Radikalität und Dummheit. ...Nun ist das Unwetter, das man über Berlin erwartet und angekündigt hat, aber gerade dort vermieden worden. Ganz im Gegenteil: Die Dämonen des Extremismus, des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit fanden bei dieser deutschen Wahl - nehmt alles nur in allem - wirksame Blitzableiter.

Heute kann man feststellen: Das Land der Frankfurter Schule und des Verfassungspatriotismus, die kulturelle Heimat von Kant und des kategorischen Imperativs, jene von Hölderlin und seiner Wanderer, die ihr Nationalbewusstsein in der Dialektik mit dem Fremden ausbilden, das Land von Nietzsche und seinem Horror vor jeder bigotten Selbstzufriedenheit - dieses Deutschland erteilt der Welt, insbesondere Frankreich, eine schöne Lehrstunde in Demokratie. Danke, Deutschland.

Bernard-Henri Lévy, geboren 1943 im algerischen Béni Saf, ist Mitbegründer der Nouvelle Philosophie. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt ein Briefwechsel mit Michel Houellebecq unter dem Titel "Volksfeinde". In diesem Jahr hatte ein von ihm realisierter Dokumentarfilm über sein politisches Engagement Premiere, "Une autre Idée du Monde". Übersetzung: Nils Minkmar

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