Dienstag, 15. November 2022

"Die ökologische Gewalt fordert längst Opfer"

Leserin Wom.Mel schreibt dazu: Ich bin richtiggehend dankbar für diesen Artikel! Ich hatte schon resigniert angesichts der in meinen Augen heuchlerischen Versuche, die Klimaaktivisten zum eigentlichen Problem zu erklären. Ich dachte, wir sind komplett ins Mittelalter zurück gerutscht, wo der Bote geköpft wird, der die schlechte Nachricht überbringt. Frau Lindemann hat mir mit Ihrer klugen Analyse etwas Hoffnung zurück gegeben.

Und ich schließe mich dieser Aussage vorbehaltslos an!

Zeit  hier Klimawandel   Von Gesa Lindemann   11. November 2022

Sind Klimaproteste eine Form von Gewalt? Der Klimawandel selbst ist es jedenfalls. Damit sind die Täter, anders als bisher wahrgenommen, auch strafrechtlich interessant.

Die ökologische Gewalt fordert längst Opfer 

Die Debatte um Gewalt und Klimawandel hat einen seltsamen blinden Fleck. Es wird viel und intensiv darüber diskutiert, ob der Klimawandel zu Gewalt führt oder darüber, ob Klimaschützer:innen Gewalt anwenden müssten, beziehungsweise ob das legitim oder überhaupt zielführend ist. 

Aber es wird nicht darüber diskutiert, ob der Klimawandel selbst als von Menschen ausgeübte Gewalt zu verstehen ist, also als ökologische Gewalt, die die Lebensgrundlagen der meisten Menschen massiv gefährdet. Selbst wenn der Klimawandel juristisch als von Menschen gemacht gedeutet wird, führt dies bislang dazu, dass versucht wird, die Schädiger zivilrechtlich zu belangen, um einen Schadensausgleich zu erreichen.

In Anbetracht der vielfältigen zerstörerischen und tödlichen Wirkungen des Klimawandels ist das erstaunlich. Inselstaaten sind buchstäblich vom Untergang bedroht und auch für Europa gilt, dass es aufgrund der durch den Klimawandel bedingten Intensivierung von Hitzewellen bereits jetzt zu einer Übersterblichkeit kommt. Der Klimawandel fordert bereits jetzt Todesopfer.

Ebenfalls erstaunlich ist, mit welcher Intensität in der öffentlichen Debatte umgekehrt die Aktionen von Klimaschützer:innen als illegitime Gewalt bezeichnet werden, seitdem diese sich an Fahrbahnen festkleben und damit den Autoverkehr behindern oder Kunstwerke mit Kartoffelbrei und Ähnlichem "angreifen" und sich an Bildern festkleben. Einen neuen Schub hat diese Debatte bekommen, nachdem eine Straßenblockade von Klimaschützer:innen einen Rettungswagen behindert haben soll, weshalb die Aktivist:innen für den Hirntod eines Unfallopfers mitverantwortlich gemacht werden.

Dieses Beispiel zeigt, dass Gewalt ein politischer Begriff ist. Wer Gewalt ausübt, dessen Handlungen sind zu verurteilen. Deshalb ist es innerhalb einer politischen Diskussion immer relevant, wessen Handlungen als Gewalt bezeichnet werden. In diesem Sinne geht es in der öffentlichen Debatte nicht um den Autofahrer, der den Unfall verursacht hat und deshalb für den Tod der Radfahrerin verantwortlich ist, sondern um die Klimaschützer:innen, deren Protest delegitimiert werden soll. Dass Gewalt ein politischer Begriff ist, eröffnet neue Perspektiven in der Debatte um den Klimaschutz und den Protest der Klimaschützer:innen. Hierzu möchte ich einen Vorschlag machen und den Begriff der ökologischen Gewalt einführen.

Das moderne Gewaltverständnis

Der Begriff ökologische Gewalt kann von einer entscheidenden Bedeutung für die politische Diskussion um den Klimaschutz sein. Um das zu verstehen, ist ein Blick auf das moderne Gewaltverständnis erforderlich. Die moderne Ordnung zeichnet sich dadurch aus, dass es ein staatliches Gewaltmonopol gibt, das ein friedliches Zusammenleben der Bürger:innen gewährleisten soll. Dies bildet die Grundlage dafür, dass wir alle in Gewaltlosigkeit vertrauen können sollen, wie der Gewaltforscher Jan Philipp Reemtsma herausarbeitet. Hier liegt ein Paradox vor, denn es handelt sich genau genommen um ein durch die staatliche Zentralgewalt gestütztes Vertrauen in Gewaltlosigkeit. Der Staat muss Gewalt anwenden (können), um das Vertrauen in Gewaltlosigkeit zu ermöglichen. Die Gewalt des Staates ist legitim, weil ihr die Aufgabe zukommt, jeder Gewalt entgegenzutreten, die das Vertrauen in Gewaltlosigkeit gefährdet, er soll diese Gewalt beenden. Das heißt: Die Menschen sind als Bürger:innen der Gewalt des Staates unterworfen. Dies soll die Ausübung privater Gewalt in der Praxis verhindern und ermöglicht ein friedliches Zusammenleben.

Dabei bindet sich der Staat an Gesetze, dies kommt insbesondere in der Institutionalisierung von Grundrechten zum Ausdruck, die eine Stoppregel für den Staat bilden. Hiermit werden den Bürger:innen zugleich Abwehrrechte gegen den Staat garantiert – vor allem Freiheitsrechte. Darüber hinaus haben die Bürger:innen auch subjektive öffentliche Rechte, das heißt, sie sollen dem Staat auch als potenziell aufrührerische politische Subjekte gegenüberstehen können.

Im Rahmen dieser Ordnung kommt es notwendigerweise immer wieder zu Auseinandersetzungen darum, was als Gewalt gilt. Dies ist von ungeheurer politischer Relevanz, denn Gewalt bezeichnet das schlechthin Problematische. Sie muss in jedem Fall vermieden werden. Deshalb sollte auch der Staat keine Gewalt anwenden, wenn er die öffentliche Ordnung sichert. Wenn etwa Polizisten nachgewiesen werden kann, dass sie Gewalt anwenden, werden auch ihre Handlungen delegitimiert. Deshalb kommt es nahezu unausweichlich bei politischem Protest immer wieder zu der Frage, wer Gewalt ausgeübt hat.

Nicht umsonst hat Olaf Scholz, damals Oberbürgermeister von Hamburg, 2017 nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant:innen anlässlich der Proteste gegen den G20-Gipfel festgestellt, dass die Polizei keine Gewalt angewendet hat. Auch das Auftreten der Staatsgewalt ist nur so lange legitim, wie sie keine Gewalt anwendet, sondern etwa nur Zwang ausübt. Die legitime Staatsgewalt wird zumindest in der öffentlichen Diskussion nahezu unsichtbar. Wenn es gelingt, diskursiv etwas erfolgreich als Gewalt zu identifizieren, ist in jedem Fall die Gewalt des Staates aufgerufen, dieser Gewalt ein Ende zu setzen. Dies gilt auch für den Fall, dass staatliche Organe Gewalt anwenden sollten. In diesem Fall müsste der Staat gegen seine eigenen Organe, etwa einzelne Polizist:innen vorgehen, um das Vertrauen in Gewaltlosigkeit aufrechtzuerhalten.

Hierin liegt eine der zentralen Legitimationen eines demokratischen Rechtsstaats. Die eingangs beschriebenen Debatten um die Aktionen von Gruppen wie Letzte Generation oder Ende Gelände führen die unmittelbare politische Bedeutung des modernen Gewaltverständnisses vor Augen. Wenn ihr Vorgehen folglich als Gewalt bezeichnet werden kann, werden damit zugleich ihre Aktionen delegitimiert und kriminalisiert. Sie gelten nicht mehr als ernst zu nehmende Beteiligte am politischen Diskurs.

Eine Überdehnung des Gewaltbegriffs?

Wenn wir von ökologischer Gewalt sprächen, wäre die Staatsgewalt in gleicher Weise gefordert. Sie müsste gegen die Protagonist:innen der ökologischen Gewalt genauso vorgehen, wie es jetzt gegenüber den Klimaschützer:innen gefordert wird.

Aber ist es nicht eine haltlose Überdehnung des Gewaltbegriffs, von ökologischer Gewalt zu sprechen? Aus meiner Sicht gibt es gute Argumente dafür, von ökologischer Gewalt zu sprechen, denn die Minimalanforderungen sind erfüllt: Es gibt identifizierbare Täter:innen und Opfer dieser Gewalt und es lässt sich nachzeichnen, wie die Handlungen des Täters auf die Opfer wirken, sonst wären auch keine zivilrechtlichen Klagen möglich.

Gewalt ist ein politischer Begriff und deshalb immer umstritten. Zwei kurze Beispiele aus der Geschichte: Zu streiken wurde von der deutschen kaiserlichen Obrigkeit am Ende des 19. Jahrhunderts eher als illegitime beziehungsweise illegale Gewalt betrachtet. Erst im Laufe der Zeit wurde der Streik zu einer anerkannten und damit gewaltfreien Form der Tarifauseinandersetzung. Und: Bis in die Neunzigerjahre gab es keine Vergewaltigung in der Ehe. Nur die politischen Anstrengungen der Frauenbewegung haben dazu geführt, dass der Deutsche Bundestag am 15. Mai 1997 beschloss, die Vergewaltigung in der Ehe zu einem Straftatbestand und damit zu illegitimer Gewalt zu machen. In beiden Fällen handelte es sich um eine politische Frage, was als Gewalt gilt und was nicht. Genauso ist es auch heute eine politische Frage, ob wir ökologische Gewalt anerkennen oder nicht. Am weitesten ist bisher das Bundesverfassungsgericht in diese Richtung gegangen.

Das Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem sogenannten "Klimaschutzurteil" das Konzept der "intertemporalen Freiheitssicherung" (Rn. 182ff) entwickelt, das im Kern das Konzept der ökologischen Gewalt enthält. Im Urteil werden ausführlich die bekannten durch wissenschaftliche Modellrechnungen belegten Konsequenzen des Klimawandels dargelegt (Rn. 16ff). Das Gericht schließt sich dann der Auffassung an, dass der Klimawandel menschengemacht ist.

Das BVerfG analysiert, inwiefern der grundrechtlich geforderte Einsatz des Staates gegen den Klimawandel mit dem Freiheitsschutz kollidiert. Denn letzterer schützt grundsätzlich auch den "CO₂-relevanten Freiheitsgebrauch", welcher aber eingeschränkt werden müsse, um den Klimawandel zu verhindern. (Rn. 122). Das bedeutet konkret: Der Klimaschutz erfordert staatlich verordnete Einschränkungen des CO₂-relevanten Freiheitsgebrauchs, die, gestützt auf die staatliche Zentralgewalt, durchgesetzt werden müssen. Je später diese Eingriffe erfolgen, umso massiver wird der Eingriff in die Freiheitsrechte der Einzelnen ausfallen müssen.

Das vom Gericht entwickelte Konzept der Intertemporalen Freiheitssicherung meint also, dass die gegenwärtig Lebenden stärkere staatliche Eingriffe in ihre Freiheitsrechte hinnehmen müssten, um zukünftige Generationen vor noch weitergehenden Eingriffen in ihre Freiheitsrechte zu bewahren (Klimaschutzurteil Randnummer 186). Oder noch deutlicher: Wenn man auch zukünftigen Generationen noch einen CO₂-relevanten Freiheitsgebrauch zubilligen möchte, muss hier und jetzt eine Einschränkung dieses Freiheitsgebrauchs vorgenommen werden. Hier geht es also darum, den für die Verhinderung des Klimawandels notwendigen Einsatz der Staatsgewalt über die Generationen zu verteilen, um zu vermeiden, dass in Zukunft drastische, eventuell sogar diktatorische Maßnahmen ergriffen werden müssten.

Dazu führt das BVerfG ein weiteres Argument an: Der Gesetzgeber weiß um die dramatischen Konsequenzen der Erderwärmung (Dürre, Überschwemmungen, intensive und langandauernde Hitzewellen, Migration aus den betroffenen Gebieten). Dadurch werden Lebensbedingungen geschaffen, die das Leben und die Freiheit zukünftiger Generationen gefährden. Wenn der Staat es jetzt unterlässt, etwas gegen diese Konsequenzen zu tun – etwa, indem er es unterlässt, die rechtlichen Strukturen zu verändern, die bislang einen CO₂-relevanten Freiheitsgebrauch beispielsweise durch Förderung, Verkauf und Nutzung von Öl und Erdgas ermöglichen –, sind die Konsequenzen auch denjenigen anzulasten, die nichts dagegen tun: "Im Vordergrund stünde danach die unzureichende Reduzierung von Treibhausgasen durch den Gesetzgeber (hier und jetzt, Anmerkung der Autorin), also ein Eingriff durch Unterlassen."

Das Revolutionäre des Urteils des BverfGs besteht also darin, mit dem Grundsatz der "intertemporalen Freiheitssicherung" (Rn. 182ff) auch die langfristigen Wirkungen des Klimawandels einzubeziehen. Deshalb können auch die zukünftigen Opfer bereits jetzt als Opfer der ökologischen Gewalt anerkannt werden.

Wer sind die Täter?

Wenn wir der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts folgen und die Notwendigkeit einer intertemporalen Sicherung von Freiheit und Leben ernst nehmen, hat dies gravierende Konsequenzen. Vor diesem Hintergrund muss man die Politik des Bundesverkehrsministeriums als Kriegserklärung an die junge Generation verstehen. Denn es weigert sich aktuell auch nur im Ansatz Vorschläge zur sektorspezifischen Reduktion des CO₂-relevanten Freiheitsgebrauchs zu machen. Das ist ökologische Gewalt durch Unterlassen.

Wenn es aber bereits Gewalt ist, dass der Staat keine ausreichenden Maßnahmen zur Verhinderung des Klimawandels ergreift, um wie viel mehr ist es als Gewalt zu werten, den CO₂-relevanten Freiheitsgebrauch ohne Rücksicht zu forcieren.

Eine Studie, die auf Science direct publiziert wurde und deren wesentliche Inhalte der Spiegel einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat, nennt die maßgeblichen Protagonist:innen einer solchen Gewalt. Es handelt sich hierbei um eine Gruppe von Organisationen und Staaten, die am Klimawandel durch die Förderung und den Verkauf von Öl, Gas und Kohle verdienen: teils börsennotierte Staatskonzerne wie etwa ARAMCo (Saudi-Arabien) oder Gazprom (Russland), private Ölgesellschaften (beispielsweise Shell, BP), private Finanzdienstleister (beispielsweise Blackrock) oder Staaten wie etwa Saudi-Arabien. Bei diesen Protagonist:innen handelt es sich um äußerst wohlhabende und gut informierte Leute. Sie wissen, was sie tun, und kündigen im Wissen um die Konsequenzen ihres Tuns in aller Öffentlichkeit massive Investitionen in die Förderung des Klimawandels an.

Die Liste der Protagonist:innen der ökologischen Gewalt ist international. Ist die Bundesregierung deshalb aus der Verantwortung entlassen? Nein, denn das BverfG hat festgestellt, dass es zu den Verpflichtungen der Bundesregierung gehört, im Sinne der intertemporalen Freiheitssicherung auch auf der Ebene der internationalen Beziehungen zu agieren. Es ist Aufgabe der deutschen Politik zum Schutz ihrer Bürger:innen, international der ökologischen Gewalt entgegenzutreten.

Die Aktionen von Letzte Generation oder Ende Gelände tun nichts anderes, als die deutsche Politik daran zu erinnern, dass das BVerfG sie dazu verpflichtet, der ökologischen Gewalt nach innen und in der internationalen Politik entgegenzutreten. Diese Aktivist:innen kämpfen nicht nur für den Schutz des Klimas, sondern faktisch auch für den Schutz der Verfassung. Nur, wenn die ökologische Gewalt wirksam bekämpft wird, lässt sich die moderne verfassungsbasierte Ordnung des Vertrauens in Gewaltlosigkeit erhalten.

Genauso wie es erforderlich ist, ein Bündnis gegen Russland beziehungsweise Putin zu schmieden, um deren Überfall auf die Ukraine entgegenzutreten, ist es erforderlich, ein Bündnis gegen die Protagonist:innen der ökologischen Gewalt zu formieren – ein Bündnis gegen den Finanzdienstleister Blackrock und die anderen maßgeblichen Finanziers und Akteure der ökologischen Gewalt. Gemäß unserer staatlich verfassten internationalen Ordnung muss dieses Bündnis nach innen adressiert an den deutschen Staat kämpfen, um die ökologische Gewalt einzudämmen. Zugleich muss dieses Bündnis den Nationalstaat, also für uns Deutschland, integrieren, um ein internationales Bündnis gegen die Täter der ökologischen Gewalt zu schmieden. Nicht die Klimaaktivist:innen, sondern die Täter:innen der ökologischen Gewalt gehören vor ein (nationales oder internationales) Strafgericht.


GESA LINDEMANN:Jahrgang 1956, Professorin für Soziologie. Sie forscht zu einer Theorie der modernen Gesellschaft, Menschenrechten, Technik und Gewalt. Sie ist Gastautorin von 10nach8.

Wir sind ein vielseitiges Autorinnenkollektiv. Wir schreiben selbst und suchen nach Texten, die neue Welten erschließen oder altbekannte in neuem Licht erscheinen lassen. Wir laden Schriftstellerinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen, aber auch Expertinnen spezieller Fachgebiete ein, mit und für uns zu schreiben; bei uns kommen Gastautorinnen zu Wort, die in ihren Ländern nicht mehr publizieren dürfen oder aus deren Ländern gerade kaum berichtet wird. Wir sind neugierig auf neue Sichtweisen, neue Erzählungen, Text für Text, bei uns, zweimal pro Woche, immer um 10 nach 8.

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