Dienstag, 1. November 2022

Wohnen in der Zukunft: Experten fordern Kehrtwende bei Entwicklung und Stadtgestaltung

 Aulendorf  hier   28.10.2022,Karin Kiesel

Das geplante Baugebiet am nordwestlichen Aulendorfer Ortsrand ist für die Bürgerinitiative „Buchwald – für ein lebenswertes Aulendorf“ (BI) Anlass gewesen, eine vom Land finanziell geförderte Veranstaltung mit drei Experten in der Stadthalle zu organisieren.

Unter dem Titel „Klimagespräch: Wohnen in der Zukunft – Flächenschutz-Bodenschutz-Stadtentwicklung“ ging es dabei nicht nur um das umstrittene Baugebiet, sondern darüber hinaus grundsätzlich um eine Kehrtwende im Umgang mit den Ressourcen und bei der Landschafts- und Stadtgestaltung.

Die Ressource Fläche sowie der Hochwasser- und Klimaschutz nahmen an dem Abend, bei dem neben Fachreden in Gruppen zu einzelnen Themenblöcken diskutiert wurde, eine große Rolle ein. Eine veränderte Siedlungsentwicklung für lebenswerte Räume und mehr Nachhaltigkeit waren ebenso Themen.

Fakten, Ideen und Austausch

Drei relativ kurz gehaltene Impulsvorträge mit interessanten Fakten und innovativen Ideenein reger Austausch sowie manche Wortbeiträge von Bürgern und Stadtspitze – das könnte eine Kurzzusammenfassung des Abends sein. Die BI hatte sich viel Mühe gegeben, in der Stadthalle eine einladende Atmosphäre zu schaffen und einen offenen Austausch zu ermöglichen.

Dass überhaupt mehr getan wird, als bloß Unterschriften zu sammeln und lautstark Unmut zu äußern, wie es bei manchen Bürgerinitiativen im Land beobachtet werden kann, darf positiv hervor gehoben werden. Der Fakt, dass die Inhalte der eigens geladenen Fachleute die Positionen der BI unterstützten, dürfte keinen Besucher verwundert haben.

Weil es bei der Veranstaltung nicht darum ging, die Gäste mit ausufernden fachlichen Frontalvorträgen zu beschallen, war die Stadthalle entsprechend nicht als Hörsaal bestuhlt. Etwa 60 Anwesende, darunter zahlreiche Mitglieder der BI sowie Gemeinderäte und Bürgermeister Matthias Burth, konnten an einzelnen Tischgruppen aufgeteilt miteinander ins Gespräch kommen. Sicher hätte die BI nichts dagegen gehabt, wären noch mehr Bürger zum Austausch in die Stadthalle gekommen.

Junge Menschen, die explizit angesprochen und eingeladen waren, sind gar nicht da gewesen. Auch gab es keine geplante Ideenpräsentation von Schülern, wie sie sich auch im Hinblick auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit als Nachfolgegeneration künftiges Leben und Wohnen vorstellen.

„Es kam von Lehrern die Rückmeldung, dass vier Wochen Vorbereitungszeit zu kurz seien“, merkte Susanne Veser, die sowohl Moderatorin als auch eine der Expertinnen war, mit einem kritischen Unterton an.

Was ist das „Schwammstadtprinzip“?

Die Diplom-Bauingenieurin der Ingenieurgesellschaft „Björnsen Beratende Ingenieure GmbH“ in Leonberg gestaltete mit ihrem Vortrag „Das Schwammstadtprinzip“ den Auftakt des Abends. Grundsätzlich gut zu wissen ist, dass das Ziel einer Schwammstadt dahin zielt, das Niederschlagswasser dort zwischen zu speichern, wo es fällt. Ein Großteil kann über grüne Elemente wie Mulden, Baumrigolen, Gründächer und -fassaden verdunstet und vor Ort versickert werden. Das reduziert den Abfluss stark.

Veser, die auch in Aulendorf einen Wohnsitz hat, erläuterte, dass es aufgrund der CO2-Mengen in der Atmosphäre immer heißer und stickiger wird, weswegen heiße und trockene Tage auf der Erde stark zunehmen und die Grundwasserneubildung hingegen stark abnimmt. Extreme Wetterkapriolen und Starkregen nehmen hingegen zu. Die Folge sind überlastete veraltete Kanalsysteme und vermehrt urbane Sturzfluten.

Dass Aulendorf bislang weitgehend verschont blieb, liegt ihren Ausführungen nach an dem „natürlichen Schwamm aus Feld, Wald und Wiesen als Schutzgürtel“. Gerade das Naherholungsgebiet Buchwald hat laut Veser diese Funktion. Wird dort die Fläche versiegelt, läuft das Wasser runter in die Stadt, erklärte sie. „Gerade die Unterstadt ist bedroht und in Gefahr überflutet zu werden.“

Dem widersprach Bürgermeister Burth prompt. Genau diese Punkte seien untersucht und im Erschließungsplan berücksichtigt worden. Es werde ein kleiner Wald um das Gebiet errichtet und das Wasser um das Gebiet herum geführt und abgeleitet. „Wir werden die jetzige Situation sogar verbessern, es kommt kein Wasser unten an.“

Lebendige Städte in Zeiten des Klimawandels

Bettina Dreiseitl-Wanschura, Stadtplanerin und Landschaftsökologin mit eigenem Büro in Überlingen, hielt einen Impulsvortrag zum Thema „Lebendige Stadt in Zeiten des Klimawandels“. Dabei drehte sich viel um die Frage, wie lebendige Räume ohne Verzicht erschaffen werden können, was sie an zahlreichen Beispielen etwa aus Tübingen (Stichwort „Französisches Viertel“ als Vorbild alternativer Stadtplanung) oder aus Asien und den USA deutlich machte.

Sie zeigte auf, was für Menschen wichtig ist, um sich wohl zu fühlen: Der positive Einfluss der Natur auf die Menschen (Biophilia) im Sinne grüner urbaner Räume, kulturelle Traditionen und starke soziale Netzwerke wurden unter anderem genannt. Das alles gelte es in moderner und nachhaltiger Stadtentwicklung zu beachten.

Ihren Erläuterungen zufolge braucht es „schlaue multifunktionale Lösungen“. Als Beispiel zeigte sie mehrere Bilder, darunter das eines Wohnquartiers mit einer großen grünen Spielfläche, die bei Starkregen überflutet werden kann und sich in einen kleinen See verwandelt.

„Entwickeln statt nur Bauen“

In der Baukultur braucht es zudem laut Dreiseitl-Wanschura mehr Visionen und Mut und vor allem einen kreativeren Umgang mit dem, was da ist. „Entwickeln statt nur Bauen“, sagte sie. Auf Einfamilienhäuser – davon gebe es in Deutschland 17 Millionen – zu setzen entspreche nicht mehr der Zeit.

Der ehemalige Hochschulprofessor und Buchautor Willfried Nobel aus Filderstadt sprach über „Bodenschutz und Flächenverbrauch – zwischen Dilemma und Chance“ und machte die Bedeutung des Bodens als wichtiger Bodenschatz sowie auf die Grenzen des Planeten aufmerksam.

Besonders die hochwertigen und fruchtbaren Böden sind Laut Nobel „Gold wert“ und wichtig für eine nachhaltige Entwicklung, allerdings sind sie verwaltungsrechtlich kaum geschützt, was er sehr kritisierte, aber auch Chancen sah, dass sich dies bald ändere.

Der Flächenverbrauch in Baden-Württemberg und speziell im Landkreis Ravensburg ist laut Nobel viel zu hoch, was er mit vielen Zahlen des Statistischen Landesamts untermauerte. So ist der Flächenverbrauch im Kreis sogar höher als im Landesdurchschnitt.

Wertvolle Ackerböden, die es im Kreis Ravensburg laut Flurbilanz des Landkreises vor allem rund um Aulendorf gibt, sollten dringend geschützt und nicht versiegelt werden, so seine Botschaft.

Beatrix Sommer-Locher von der BI stellte die Vorteile von Hochhäusern als lebenswertes Wohnmodell vor, das zu unrecht einen schlechten Ruf habe, und zeigte dazu einen ansprechenden Entwurf eines solchen Hauses in Aulendorf in Holzbauweise.

Häuser sollten im Grundriss jederzeit flexibel aufteilbar sein

Bei den Diskussionen an den Tischen wurden über viele Themen gesprochen – etwa zu „Wohnen in der Zukunft“, Quartierskonzepte, Stadtentwicklung oder Abwasserkreisläufe. Die Ideen wurden an Pinnwänden gesammelt und besprochen. So etwa die Forderung, dass Häuser so gebaut werden sollten, dass sie beispielsweise jederzeit flexibel in mehrere Wohneinheiten geteilt werden können.

Darunter gab es aber auch viel Kritik, etwa dass sich Bürger häufig nicht gehört fühlen, dass Bürgerbeteiligungen früher und intensiver stattfinden sollte oder warum es in Aulendorf überhaupt mehr Menschen braucht, für die ein Wohngebiet geschaffen werden muss.

Wer genau hinhörte, konnte an dem Abend einige Anregungen von den Experten mitnehmen. Etwa, dass Baugenehmigungen nur nach dem „Schwammstadtprinzip“ erteilt werden sollten, wozu auch Dachbegrünungen und vieles mehr gehört, und es intelligente kreislaufgeführte Wassersysteme für Wohngebiete geben sollte.

Tiny-House-Wohnparks und die Transformation von Industriebrachen

Angesichts der Wohnraumknappheit sei es sinnvoll, die vorhandenen Einfamilienhäuser anders zu nutzen – etwa als Wohngemeinschaften. Auch der Wohnraumtausch, den auch das baden-württembergische Ministerium für Landesentwicklung und Wohnen als sinnvolles, aber schwer umsetzbares Instrument erachtet und bei dem ältere Menschen das zu große Einfamilienhaus zugunsten einer barrierefreien Wohnung an Familien abgeben könnten, spielte eine Rolle.

Tiny-House-Wohnparks, mehr Fassaden- und Dachbegrünung von Häusern sowie die Transformation von ehemaligen Gewerbeflächen (so wurde etwa die „Alte Weberei“ in Tübingen von einer Industriebrache in ein lebendiges Stadtviertel umgewandelt) waren weitere Inspirationen.

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