Donnerstag, 27. Oktober 2022

Energiewende versus Artenschutz – deutsche Vorreiter zeigen, wie die Versöhnung gelingen kann

  Geo hier  von Fred Langer  26.10.2022

Windräder töten Vögel, Solarparks versiegeln Landschaften – sind Klima- und Artenschutz auf Kollisionskurs? Nein, ganz im Gegenteil. Eine Reise durch die neuen deutschen Energielandschaften zeigt: Die beiden großen Herausforderungen der Zukunft lassen sich in gutem Einklang miteinander lösen.

Wir haben einiges vor, als Menschheit. Zwei Jahrhundertprojekte stehen an, die wir gleichzeitig bewältigen müssen, und zwar schnell, sehr schnell. Zum einen den Schutz des Klimas, den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe also, um die Erderwärmung zu begrenzen. Zum anderen den Erhalt der Tier- und Pflanzenarten, deren Ausrottung in einem schockierenden Ausmaß und Tempo voranschreitet – der Kollaps ganzer Ökosysteme bedroht mittlerweile unsere Lebensgrundlagen.

Die Collage illustriert, was Biolog*innen vor Ort erforschten: Im Solarpark Klein Rheide sind Arten wie Dunkle Erdhummel, Pappelschwärmer und die bedrohte Feldlerche heimisch geworden
Die Collage illustriert, was Biolog*innen vor Ort erforschten: Im Solarpark Klein Rheide sind Arten wie Dunkle Erdhummel, Pappelschwärmer und die bedrohte Feldlerche heimisch geworden

© Lêmrich, Montage: David Kern

Klimakrise abwenden, das massenhafte Artensterben verhindern: Steht das eine in Konkurrenz zum anderen, weil etwa Windkraftanlagen Vögel töten und Fotovoltaikparks die Landschaft versiegeln? Nein, wir können saubere Energie erzeugen und gleichzeitig sogar die Artenvielfalt stärken. Wir können neue Kulturlandschaften erschaffen, die Unmengen sauberen Stroms erzeugen und gleichzeitig Tieren und Pflanzen ein Überleben ermöglichen.

Eine optimistische Zukunftsvision? Ja. Aber eine, die sich bereits besichtigen lässt.

Kapitel 1: Sonnige Aussichten

Fotovoltaikpark in Klein Rheide, Nordfriesland: ....

Das nämlich ist besonders an dieser Anlage: Hier ist viel Platz. Und zwar nicht nur für menschliche Besucher. Die Modulreihen stehen ungewöhnlich weit auseinander. Sie lassen Raum – Lebensraum für Tiere und Pflanzen.

Rolf Peschel, der Biologe, der uns begleitet, sucht nach der idealen Formel, in der sich Stromerzeugung und Artenschutz versöhnen lassen. Das vorläufige Ergebnis seiner Forschungen: "Wenn die Sonne mittags im Zenit steht, muss der sonnenbeschienene Streifen zwischen den Modulreihen mindestens 2,5 Meter breit sein. Dann steigt die Artenvielfalt auf dem Gelände sprunghaft an", erklärt er. Für Klein Rheide bedeutet das, die Modulreihen stehen vier Meter weit auseinander, für andere Parks gelten möglicherweise andere Abstände, je nach Bauweise und Größe.

Fotovoltaik, flächenhaft ausgebreitet, versiegele die Landschaft, das ist ein gängiger Vorbehalt gegen diese Art der Energieerzeugung. Hier aber, in Klein Rheide, und in immer mehr Fotovoltaikparks im ganzen Land, geschieht das genaue Gegenteil. Und man muss nicht erst die langen Artenlisten von Biologe Peschel studieren, um das zu erkennen.

Wir laufen stellenweise über ein Blütenmeer; Wiesenpieper sitzen zwitschernd auf den Gestellen, Feldlerchen steigen tirilierend auf, beide Arten brüten hier auch; ein Turmfalke steht über der Anlage und hält nach Mäusen Ausschau.

Die Anlage ist auf einem ehemaligen Kiesabbau entstanden, der Solarpark hat das Gelände ökologisch aufgewertet. "Nährstoffarmer Trockenrasen" nennt Rolf Peschel den Landschaftstyp, der sich nun zwischen den Modulreihen ausbreitet. Für den Natur- und Artenschutz hat er besondere Bedeutung, denn er ist selten geworden in unseren mit Kunstdünger und Gülle übersättigten Agrarlandschaften.

"Wir wollen solche Parks keinesfalls in intakten Naturlandschaften bauen", sagt René Nissen, dessen Unternehmen "Wattmanufactur" diese und bundesweit 25 weitere Anlagen betreibt. "Und auch nicht auf gutem Ackerland." Er sagt das mit Nachdruck, und er wiederholt diesen Satz später noch einmal, weil da immer noch das andere große Imageproblem von Fotovoltaikparks im Raum steht: dass finanzstarke Solarparkinvestoren den landwirtschaftlichen Betrieben kostbare Flächen wegschnappten.

Doch auch hier gilt: Es könnte ganz anders funktionieren. Bäuerliche Betriebe, gerade solche, die auf "Grenzertrags-Standorten" ackern, könnten mit Solarfarmen zusätzliche Einnahmen erzielen. In einigen Regionen Brandenburgs etwa, wo der Klimawandel die Sandböden immer weiter austrocknen lässt, geschieht dies bereits.

Fotovoltaikparks, die Raum schaffen für die Natur: Das wäre auch eine Alternative zu den weiten mit Mais bebauten Flächen, auf denen kaum ein Tier, kaum eine wilde Pflanze ihr Dasein mehr fristen kann. Fotovoltaikparks, die auch als Lebensräume geplant sind, wären ein gleich doppelter Gewinn. Auf ihnen könnte eine viel größere Zahl von Tier- und Pflanzenarten leben, auf Grünland, das frei bleibt von Pestiziden und Kunstdünger. Und auf ihnen ließe sich ein Vielfaches jener Energie erzeugen, die aus Mais und anderen Energiepflanzen in Biogasanlagen gewonnen wird: nämlich das 50- bis 100-Fache, auf gleicher Fläche, vielleicht noch mehr.

Auch eine nachhaltige Landwirtschaft wäre zwischen den Modulreihen möglich. Auf der Anlage in Klein Rheide etwa mäht Landwirt Dag Frerichs die Grünflächen, "ein bis zwei Mal im Jahr, öfter nicht", und fährt wertvolles Bio-Heu ein. An anderer Stelle im Park lässt er Schafe grasen.

Es ist eine Rückkehr zu jenem "Extensivgrünland", das noch in den 1970er Jahren gut ein Drittel der gesamten deutschen Agrarfläche einnahm. Heute ist es weithin durch intensiv gedüngte Wiesen verdrängt, auf denen Hochleistungsgräser wachsen. Diese werden so häufig und oft schon so früh im Jahr gemäht und maschinell bearbeitet, dass kein Vogel auf ihnen mehr seine Küken großziehen kann.

Bleibt das dritte Imageproblem von Fotovoltaik-Freiflächenanlagen – Landschaftsverschandelung. Die Lösung dieses Problems ist denkbar einfach und birgt wiederum ökologischen Nutzen: Die Anlage samt Zaun ließe sich hinter Gehölzstreifen verstecken. Auch damit wäre der Natur geholfen, denn Hecken, die vielen Lebewesen Nahrung und Schutz bieten, fehlen vielerorts in unserer Agrarlandschaft mit ihren riesigen Flächen, die maschinengerecht leer geräumt wurden.

Zum Ende unseres Rundgangs frage ich René Nissen, was es ihn als Betreiber eigentlich zusätzlich kostet, die Solarmodulreihen weiter auseinanderzurücken. "Null Cent", antwortet er. "Wir haben dadurch keinerlei Einbußen."

Wie bitte? "Viele Betreiber stellen so viele Module wie möglich auf ihre Areale, aber das ist betriebswirtschaftlich Unsinn", sagt er. "Dann beschatten die Anlagen sich gegenseitig, das mindert den Ertrag." Auch lässt sich das Gelände viel einfacher und kostengünstiger bewirtschaften, wenn Platz für die Mähmaschine bleibt.

Fotovoltaikparks könnten als sanfte Kraftwerke einen neuen Typus von Kulturlandschaft prägen. Die Leistung der Anlagen steigt immer weiter an. 23 000 Megawattstunden, Strom für 7200 Haushalte, gewinnt Nissen auf den 23,5 Hektar in Klein Rheide pro Jahr. "Neue Anlagen gleicher Größe erbrächten schon 30 000 Megawattstunden pro Jahr", sagt er. Denn sie werden immer effizienter. "Trackingmodule" etwa folgen automatisch dem Lauf der Sonne. Auch die Speichermöglichkeiten werden ständig verbessert. Höhere Strommengen, die über Mittag gewonnen werden, lassen sich für den nächsten (vielleicht verregneten) Morgen in Batterien vorhalten.

"Dies ist eine der günstigsten Energieformen überhaupt", sagt Nissen. Und es ist viel einfacher, Fotovoltaik zu installieren als Windkraftanlagen. Und weniger problematisch, weil Klima- und Naturschutz hier nicht konkurrieren, wie oft bei der Windkraft. Aber auch da gibt es neue Ideen.

Kapitel 2: Im Aufwind?

.....Zu sehen ist der Angriff des (echten) Rotmilans auf den (falschen) Falken in einem Video der Firma Westfalenwind. Mit dem "Falken", per Fernsteuerung auf Kollisionskurs mit dem Windrad gebracht, führt die Firma die Wirksamkeit ihres neuen Vogelschutzsystems vor. "Wenn wir den Effekt Behörden oder Naturschützern demonstrieren wollen, können wir ja nicht warten, bis ein Vogel vorbeikommt und sich zufällig der Anlage nähert", sagt Johannes Lackmann, Geschäftsführer von Westfalenwind. Deshalb der falsche Falke (der eigentlich entwickelt wurde, um Vögel von Flughafen-Rollbahnen zu verschrecken).

Hier nun demonstriert der Flugroboter, wie sich ein Konfliktfeld zwischen Artenschutz und Windkraft befrieden ließe: Wenn sich ein Vogel dem Rotor nähert, erfasst ein Kameraauge im Mast ihn ab einer Entfernung von 270 Metern, bei guter Sicht. Kommt er der Anlage kritisch nahe, dann stoppen die Rotorblätter. Sie drehen sich 90 Grad um ihre Längsachse, die Luftströmung reißt ab, sie gehen über in den "Trudelbetrieb" – werden so langsam, dass sie den Rotmilan nicht mehr gefährden.

Windkraftanlagen können Vögel töten. In welchem Ausmaß, das ist umstritten. 13 Arten sind besonders gefährdet, darunter der Rote Milan. Für dessen Schutz trägt Deutschland auch internationale Verantwortung, denn mehr als die Hälfte des weltweiten Bestandes lebt bei uns.

Der Rotmilan ist durch Windkraftanlagen stärker gefährdet als andere Arten, weil er bevorzugt in Höhen zwischen 50 und 300 Metern fliegt. Er verbringt einen großen Teil seines Daseins also genau in jenem Bereich, in dem Rotorblätter durch die Luft sausen. Das System "SafeWind", das Johannes Lackmann an seinen Anlagen erprobt, könnte diese und andere Vogelarten wirksam schützen.

Das System wurde in Frankreich entwickelt und ist in mehreren Ländern schon im Einsatz. Lackmann wünscht sich, dass es an den Standorten in Deutschland, an denen es zu Konflikten mit dem Vogelschutz kommen könnte, "verpflichtender Standard" wird. Mit dieser Forderung habe er sich zunächst nicht viele Freunde in der Branche gemacht, gesteht er. Wenn aber jede Anlage mit diesem Vogelschutzsystem ausgestattet wäre, dann, so sein Argument, würden viele Klagen gegen Windkrafträder gegenstandslos. "SafeWind" oder ähnliche Kamerasysteme könnten den Ausbau der Windkraft beschleunigen.

Und was kostet solch ein optisches Erkennungssystem? "Im Falle von ,SafeWind‘ 30 000 Euro", sagt Lackmann. Bei rund vier Millionen Euro Gesamtkosten pro Anlage also ein sehr überschaubarer Betrag. Und die Verluste durch den Stillstand? "Sind nicht erheblich", sagt Bhavin Soni, Projektleiter "SafeWind" bei Westfalenwind. "Die Anlage stoppt wegen einfliegender Vögel zwei, drei Mal am Tag und steht maximal zehn Minuten am Tag still." Im Winter weniger, dann ziehen viele Milane und auch andere gefährdete Arten nach Süden.

Die Anlagen stünden mit "SafeWind" sogar kürzere Zeit still als ohne das System. In manchen Regionen verordnen die Behörden nämlich tagelange Zwangspausen, etwa wenn im Umfeld der Rotoren gemäht wird. Die Greifvögel haben dann freie Sicht auf ihre schutzlosen Beutetiere und blicken im Jagdfieber konzentriert nach unten – deswegen solche "Mahdabschaltungen". Mancherorts herrscht bei bestimmten Witterungsbedingungen auch in den Nachtstunden Stillstand, um Fledermäuse zu schützen.

Natürlich sind mit dem elektronischen Auge nicht alle Probleme der Windkraft vom Tisch. In einem "Thesenpapier zum naturverträglichen Ausbau der Windenergie" bemängeln sieben Umweltschutzverbände (darunter Nabu, Greenpeace, BUND und WWF) eine unzureichende Regionalplanung, schlechte Abstimmung zwischen den Genehmigungsinstanzen, fehlendes und häufig nicht gut ausgebildetes Personal in den Behörden. Sie schlagen vor, Zonen zu definieren, in denen der Ausbau der Windkraft gefördert wird, und solche, in denen er aus Gründen des Naturschutzes unterbleiben solle.

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"Auch wir sind für den Ausbau der Windkraft", betont Carla Langsenkamp, Meeresschutzexpertin der Umweltorganisation WWF. "Aber er muss naturverträglich sein." Die Politik denke Klima- und Naturschutz nicht hinreichend zusammen. Etwa 45 Prozent von Nord- und Ostsee sind geschützt – allerdings lediglich auf dem Papier. In den Reservaten finden Schifffahrt und Fischerei statt, die Bundeswehr hält Militärübungen ab, Sand und Kies werden abgebaut. "Die Schutzgebiete können nicht die Rolle erfüllen, die ihnen zugedacht ist. Sie sind jetzt schon übernutzt", sagt Langsenkamp.

Wir brauchen Windstrom vom Meer, nirgendwo ist mehr zu gewinnen. Was also tun? Eigentlich ganz einfach: Wenn dort Offshore-Windparks errichtet werden sollen, muss die Belastung durch anderweitige Nutzung eben drastisch zurückgefahren werden. Muss die Bundeswehr da üben? Müssen ausgerechnet dort Kies und Sand abgebaut werden?

Mehr noch: Der Schutz dieser Gebiete sollte insgesamt intensiviert werden, damit die maritime Artenvielfalt erhalten bleibt. Für 80 Spezies wäre es ohnehin zu spät, sie sind bereits komplett verschwunden. Auch die EU-Kommission verliert die Geduld mit Deutschland, am Europäischen Gerichtshof ist ein Verfahren anhängig, weil die Bundesregierung Naturschutzregelungen ungenügend umsetzt.

Ja, Klima- und Naturschutz können zusammengehen. Aber das Beispiel Offshore-Windparks zeigt: Wir können nicht immer alles gleichzeitig haben – vor allem nicht stets zu Lasten der Natur. Die Politik darf nicht so tun, als wenn der große Wurf ohne Einschränkungen gelingen könnte.

Kapitel 3: Schön bunt hier

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Seit 1980 sind drei von vier Feldhasen aus der deutschen Agrarlandschaft verschwunden, über 90 Prozent der Kiebitze und Rebhühner, mehr als die Hälfte aller Feldlerchen. Sie sind Opfer einer Hochertragslandwirtschaft geworden, die ihnen schlichtweg keinen Platz mehr lässt zum Leben.

Dabei ist auch diese Wiese hier eine landwirtschaftlich genutzte Fläche. Was auf ihr grünt und blüht, wurde gesät und wird geerntet, um Biogas zu erzeugen – anstelle von Mais. "Bunte Biomasse", so heißt das Projekt, betreut von der Deutschen Wildtier Stiftung, der Veolia-Stiftung und dem Deutschen Jagdverband. Die Idee: Maismonokulturen durch mehrjährige Wildpflanzenmischungen ersetzen, die in der Biogasanlage viel Energie liefern.

"Wir wollen auf diesen Flächen die Artenvielfalt stärken und gleichzeitig ökonomischen Nutzen ermöglichen", sagt Christian Kemnade, der das Projekt für die Wildtierstiftung koordiniert und Fördergelder zuteilt. Denn die Umstellung kostet Geld, 250 Euro erhalten die Betriebe pro Hektar und Jahr als finanziellen Ausgleich, weil der Energieertrag von Wildpflanzen geringer ist als der von Mais.

"In sehr trockenen Sommern erreichen wir mit Wildpflanzen unter dem Strich allerdings fast die Gasausbeute wie bei Mais, da sie mit dem Klimawandel besser zurechtkommen", sagt Kemnade. Die blühenden Wiesen könnten fünf Jahre lang geerntet werden, das senke die Produktionskosten im Vergleich zu einjährigen Biomassepflanzen wie Mais. Außerdem tun sie dem Boden gut, der sich erholen kann, und dem Grundwasser, in das weniger Nitrat einsickert.

Die Fläche, auf der ich stehe, ist eine von mehreren in der Region und eine von vielen in Deutschland. Es war nicht schwer, Betriebe zu finden, die teilnehmen wollten, sagt Kemnade. Viele Landwirtinnen und Landwirte wollten etwas für die Artenvielfalt tun. "Aber sie stehen gleichzeitig unter immensem ökonomischem Druck."

Allerdings: Es sind bislang nur kleine Oasen "Bunter Biomasse" entstanden. Rund 500 Hektar sollten es bis Ende 2021 werden, in ganz Deutschland – gegenüber einer Million Hektar Mais, der allein für Biogasanlagen angebaut wird (weitere 1,5 Millionen Hektar kommen für Futtermais hinzu). Kemnade sagt, das Ganze solle ein Anstoß sein, es gehe ihm um die Signalwirkung. "Wir wollen die Politik mobilisieren, Subventionen in die richtige Richtung zu lenken." Aber reicht das? Oder müssen wir nicht eher ganz neu nachdenken über Nutzen und Nachteil der Bioenergie?

Mit nachwachsenden Rohstoffen Energie erzeugen: Diese Erfolgsformel hat die Menschheit durch Zehntausende Jahre immer weiter vorangetragen. ....

Bei der Stromgewinnung gelingt das bereits: Kohlekraftwerke abschalten, stattdessen Sonne und Wind nutzen. Bei Mobilität und Wärmeerzeugung aber kommen wir zu langsam voran. Elektromotoren und elektrische Wärmepumpen müssen auch hier die Feuer ersetzen, viele Verbrennungsprozesse in der Industrie müssen elektrifiziert werden. Wir brauchen Strom – sehr viel sauberen Strom.

Und aus Biomasse werden wir ihn nicht gewinnen. Mais zum Beispiel mag Wildpflanzen bei der Energieausbeute überlegen sein, doch ist seine Bilanz jämmerlich schlecht etwa im Vergleich zur Fotovoltaik. Auch das Umweltbundesamt empfiehlt, "die Entwicklung der Biogas-Bestandsanlagen in eine ökologisch sinnvolle Richtung zu lenken: weg von der Nutzung extra angebauter Energiepflanzen hin zu einer Nutzung von Rest- und Abfallstoffen, wie Gülle oder Bioabfälle." Da nun aber weit mehr als 9000 Biogasanlagen in Deutschland stehen, kann die "Bunte Biomasse" eine ökologisch sinnvolle Alternative zu anderen Energiepflanzen sein, zumindest vorübergehend.

Längst aber ist klar geworden: Der Anbau von Energiepflanzen für Biogasanlagen war ein Versprechen auf die Zukunft, das sich nicht erfüllt hat. Er ist in Zeiten, da wir Erderwärmung und Artensterben zusammendenken müssen, nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Wie auch eine andere vermeintlich saubere Form der Stromgewinnung.

Kapitel 4: Alles im Fluss

Die Loisach rauscht bei Großweil im Landkreis Garmisch-Partenkirchen durch eine Bilderbuchlandschaft; ein Fluss in einem geschützten Gebiet, bedrohte Fischarten wie die Groppe leben in ihm. Die Groppe ist kein besonders tüchtiger Schwimmer, selbst niedrige künstliche Schwellen im Fluss kann sie kaum überwinden. Auch deswegen ist diese Art selten geworden.

Ausgerechnet hier nun entstand ein neues Wasserkraftwerk. Das Besondere: Es ist kaum zu sehen. Keine massiven Wehre, keine Ausleitungen, nur ein leichtes Strudeln an der Oberfläche, das zeigt: Da tut sich etwas in der Tiefe. Turbine und Generator sind in einem Schacht versenkt, der in die Sohle des Flusses eingebaut ist. Das Kraftwerk ist untergetaucht.

Herkömmliche Wasserkraftwerke verursachen schon aufgrund ihrer massiven Bauweise schwere Störungen des ökologischen Gleichgewichts. Die Wehre, die Flüsse aufstauen, bevor ihr Wasser zum Maschinenhaus geleitet wird, sind für flussaufwärts schwimmende Fische unüberwindliche Hindernisse. Und jene, die flussabwärts unterwegs sind, geraten häufig in Todesfallen, wegen der Turbinen.

Hier nun, in der Loisach, ist in diesem Jahr das weltweit erste Schachtkraftwerk ans Netz gegangen. Entwickelt hat es Peter Rutschmann, Professor für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der Technischen Universität München. Der ökologische Vorteil seines Schachtkraftwerks liege darin, dass es vom Fluss überströmt werde und der Sog des Wassers in den Schacht vergleichsweise gering sei, sagt Rutschmann. Ein Gitter, ein so genannter Rechen, hält die Fische zudem vom Schacht fern, ein Bypass leitet sie gefahrlos flussabwärts.

Die wenigen kleinen Fische, die durch den engen Rechen in die Turbine gelangen, könnten diese meist gefahrlos durchschwimmen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass sie von den großen, langsam drehenden Schaufeln getroffen werden, kleiner als bei herkömmlichen Wasserkraftwerken ist. Flussaufwärts wandern die Fische auch hier über Fischtreppen. In der Loisach seien die Fischwanderwege durch den Bau sogar verbessert worden: Das Kraftwerk mitsamt Aufstiegsanlagen wurde an einer bereits vorhandenen Rampe errichtet, die für Fische bis dahin nur schwer überwindbar war.

Europas Fließgewässer zählen zu den am stärksten zerstörten Ökosystemen der Erde, die Bestände wandernder Fische sind seit 1970 um mehr als 90 Prozent eingebrochen. In Bayern, wo über die Hälfte der deutschen Wasserkraftwerke stehen, ist, rein rechnerisch, alle 500 Meter eine Barriere im Fluss.

Von den 7700 deutschen Wasserkraftwerken sind 7300 Kleinanlagen, die nicht mehr als 0,09 Prozent zum gesamten Energiemix beitragen. "Bei Kleinkraftwerken sind die ökologischen Schäden sehr groß im Verhältnis zur erzeugten Strommenge", sagt Christiane Zarfl, Umweltwissenschaftlerin in Tübingen. Den Neubau von Wasserkraftanlagen mit einer Leistung bis zu 100 Kilowatt hält auch das Bundesamt für Naturschutz "nicht für zielführend" – die ökologischen Schäden stünden in keinem Verhältnis zum "energetischen Ertrag". Erweiterung und Modernisierung solcher Kleinanlagen seien nur vertretbar, wenn dies zu einer Verbesserung der ökologischen Situation führe.

Hier könnte, wie an der Loisach, das Schachtkraftwerk den Konflikt zwischen Naturschutz und Energiegewinnung zumindest teilweise entschärfen. Wasserkraftwerke, deren Konzessionen auslaufen oder die aus Altersgründen aufwendig renoviert werden müssen, sollten jedoch abgerissen und die Flüsse renaturiert werden. Zumal infolge des Klimawandels ohnehin mit geringeren und sehr viel stärker schwankenden Wasserständen zu rechnen ist. Rückbauprogramme mit spektakulären ökologischen Erfolgen gibt es bereits, vor allem in den USA, aber auch in Frankreich.

Warum nicht auch in Deutschland? Wiedergewonnene Auenlandschaften böten nicht nur Pflanzen und Tieren Lebensraum, sie könnten unter Umständen auch große Mengen des klimaschädlichen Treibhausgases CO2 speichern. Und sie würden als natürliche Überschwemmungsflächen Hochwasserfluten aufnehmen, die ansonsten Siedlungen und Menschenleben bedrohen.

Kapitel 5: Der kühne Wurf 

Welches Fazit ließe sich aus dieser Reise durch deutsche Energielandschaften ziehen? Wir brauchen Strom, viel mehr sauberen Strom als bisher. Wasserkraftwerke und Biogasanlagen können ihn nicht umweltverträglich liefern, so viel ist klar. Wie kann es dennoch gelingen, ihn zu beschaffen?

Die Frage stelle ich Bernhard Strohmayer vom Bundesverband Neue Energiewirtschaft (BNE). Nun ist der BNE keine gemeinnützige Organisation, sondern eine, die eigene Interessen vertritt. Die Berechnungen, die der Verband vorlegt, scheinen mir aber nachvollziehbar. Etwas kühn vielleicht. Aber ohne kühne Entwürfe werden wir die Herausforderungen des Jahrhunderts – Klimaschutz plus Artenschutz – nicht meistern können. Der Verband geht davon aus, dass Windkraft eher moderat ausgebaut wird und im Jahr 2050 etwa 40 Prozent des Strombedarfs decken könnte. Den Rest würde die Sonne liefern. Das aber würde bedeuten, die Fotovoltaik müsste von heute etwa 60 auf 1000 Gigawatt Leistung bis 2050 ausgebaut werden. Eine utopische Vorstellung?

Der BNE kontert mit einem Rückblick in die Geschichte: "Zwischen 1840 und 1870 wurde das deutsche Eisenbahnnetz von 480 auf 18 300 Kilometer erweitert, was einem Wachstum um das 38-Fache entspricht." Das war doppelt so viel wie die angestrebte Kapazitätsausweitung der Fotovoltaik – mit den damals vergleichsweise bescheidenen technischen Mitteln. Ein großer Anteil des Sonnenstroms würde an und auf Gebäuden erzeugt, wo er direkt verbraucht oder zwischengespeichert werden kann. Auch Fotovoltaikanlagen an Fassaden werden zunehmend eine Rolle spielen.

Und dann ist da ja noch die Flächenfotovoltaik, mit der unsere Reise begann. Solarparks könnten reichlich, im Sommer überreichlich Strom erzeugen. Die Herausforderung wäre, ihn für den Winter einzulagern. Nur leider lassen sich Elektronen nicht hinter der Hütte stapeln.

Aber es gibt schon jetzt vielfältige Speichermöglichkeiten, durchaus auch technische Lösungen für saisonale Speicher: "Der Strom kann als Wärmeenergie in Pufferspeichern von Wärmenetzen eingelagert und dann über Wärmepumpen als Fernwärme genutzt werden", sagt Bernhard Strohmayer. Auch als chemische Energie könne Sonnen- und Windstrom gespeichert werden, etwa umgewandelt in Wasserstoff. Dieser ließe sich dann über Gasturbinen oder Brennstoffzellen in Strom zurückverwandeln.

Die für sämtliche Fotovoltaikparks benötigte Fläche kalkuliert der BNE mit 5000 Quadratkilometern, gut 70 mal 70 Kilometer also. Derzeit sind in Deutschland etwa 14 000 Quadratkilometer mit Energiepflanzen für die Erzeugung von Biogas bebaut, vor allem mit Mais. Lediglich ein gutes Drittel dieser Fläche würde also ausreichen. Viel Platz ließe sich somit einsparen, der nachhaltig genutzt werden könnte, für den Natur- und Klimaschutz. Etwa indem auf ihm naturnahe Wälder gepflanzt oder Moore wiederbelebt würden. Mehr sauberer Strom bei geringerem Flächenverbrauch und gleichzeitig mehr Lebensraum für Pflanzen und Tiere: Das könnte eine Formel für die Zukunft sein.

Erschienen in GEO Nr. 11 (2021)

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