Montag, 24. Oktober 2022

"25 Prozent der Wärmeenergie ließen sich durch einen Gang in den Heizungskeller sparen"

 Manager magazin hier  04.10.2022  Das Interview führte Claus Gorgs

Nachhaltiges Bauen 

Windräder und Wärmepumpen allein werden die deutschen Energieprobleme nicht lösen, sagt Lamia Messari-Becker, Professorin für nachhaltiges Bauen. Sie plädiert für mehr Kreativität beim Klimaschutz, einen Umbau des Gebäudesektors und ein Ende der Verzichtsdebatte.

manager magazin: Frau Prof. Messari-Becker, die Preise für Gas und Strom explodieren, Deutschland fürchtet den Energienotstand im Winter. Rächt es sich jetzt, dass die Energiewende lange vor allem darin bestand, Windräder und Solaranlagen zu bauen?

Lamia Messari-Becker: Deutschland hat in der Energiepolitik grobe Fehler gemacht. Die Abhängigkeit von russischem Gas ist der eine, aber ebenso kurzsichtig war der ausschließliche Fokus auf Strom. Deutschland hat 2020 einen Endenergiebedarf von rund 2330 Terawattstunden. Davon macht Strom als Energieform nur 20 Prozent aus, der Rest verteilt sich auf Wärme und Treibstoffe. Viele Politiker und Experten haben das Bild vermittelt, dass wir nicht nur die bestehende Stromerzeugung durch Wind- und Solarkraft ersetzen können, sondern dass Strom auch die Funktion aller anderen Energieformen übernimmt, also die Versorgung von Industrie, Gebäuden und Verkehr. Das ist Wunschdenken.

Aber genau das passiert doch: Immer mehr Menschen fahren E-Autos oder installieren Wärmepumpen.

Natürlich kommt es zu Verschiebungen, das ist auch richtig so. Aber wir können niemals so viel Strom erzeugen, dass wir damit alle anderen Energieformen ersetzen und alle Sektoren sicher versorgen können, schon gar nicht mit Wind- und Solarkraft allein. Was wir brauchen, ist eine diversifizierte Energiewende, Speichertechnik, Speicherinfrastruktur und eine echte Wärmewende.

Wie müsste die aussehen?

Ziel muss sein, Strom, Wärme und Treibstoffe klimaneutral herzustellen. Zu Wind- und Solarkraft müssen weitere Optionen kommen, um Wärme zu erzeugen, etwa Solarthermie, Geothermie und Biomasse. Mit Tiefengeothermie kann man Wärme und Strom gewinnen. Auch Wasserstoff wäre nicht nur in der Industrie, sondern auch in Gebäuden einsetzbar. Bei der Energieeffizienz müssen wir besser werden. Jährlich fließen Milliarden Liter Abwasser in die Kanalisation, ohne die darin enthaltene Wärme zu nutzen. Wir werfen sie einfach weg. Ähnlich ist es bei industrieller Abwärme.

Dafür Infrastruktur zu schaffen, kostet Zeit. Woher soll die Wärme bis dahin kommen?

Jedenfalls nicht aus der Steckdose. Zu glauben, dass wir schlecht isolierte Bestandsgebäude nur mit Luftwärmepumpen versorgen können, ist jedenfalls Irrsinn. Das würde die Stromnetze überlasten. Die Gebäude müssen zunächst gedämmt werden, damit ihr Energiebedarf zur Leistung der Wärmepumpe passt. Sonst haben wir an kalten Wintertagen eine reine Stromheizung – ineffizienter geht es kaum. Das wäre kein Problem, wenn Ökostrom in großen Mengen günstig verfügbar wäre. Aber die Realität ist doch eine andere. Beim Strom sind wir bei einem Anteil der Erneuerbaren von 50 Prozent. Bei Wärme sind es 15 Prozent, beim Verkehr gerade mal sieben. Sieben! Da sind wir völlig blank.

Was wäre die Lösung?

Wir müssen den Umbau unseres Energiesystems viel umfassender angehen: Nicht nur Strom, auch Wärme und Treibstoffe. Nicht nur Wind und Fotovoltaik, auch Solarthermie, Erdwärme und Biomasse. Wir werden auch hybride Heizungen für den Übergang brauchen. Mit welchem Recht wollen wir private Hausbesitzer zwingen, einen fünfstelligen Betrag zu investieren, um den gerade mit staatlicher Förderung installierten Gaskessel zu ersetzen? Viele können sich das gar nicht leisten. Statt nur neue Vorschriften zu machen, sollte die Politik jede Form des Klimaschutzes fördern, auch wenn der Effekt nicht sofort bei 100 Prozent liegt. Es gibt nicht die eine Lösung, die für alle funktioniert. Aber wir müssen alle mitnehmen. Dafür braucht es viele Optionen.

Was schwebt Ihnen vor?

Die meisten Menschen in Deutschland wollen Klimaschutz und sind auch bereit, dafür zu investieren. Aber wer einen Kredit aufnimmt, um eine Wohnung zu kaufen, kann oft nicht noch zusätzlich Geld für eine energetische Sanierung aufbringen. Ein Drittel der Immobilienbesitzer ist im Rentenalter, die bekommen oft keinen Bankkredit mehr. Hier braucht es eine kluge Förderpolitik: Wer Energie spart und das Klima schützt, bekommt einen Bonus. Das können staatliche Zuschüsse sein oder Steuererleichterungen. Aber es muss den Menschen überlassen bleiben, welchen Weg sie wählen. Die Politik darf keine Vorgaben machen, die an der Lebensrealität vorbeigehen.

Welche Maßnahmen hätten kurzfristig den größten Effekt?

Etwa 25 Prozent der Wärmeenergie ließen sich schon durch einen Gang in den Heizungskeller sparen. Viele Anlagen sind nicht optimal eingestellt – was ein Handwerker leicht beheben könnte.
Viel ließe sich mittelfristig auch über die Erhöhung der Recyclingquote erreichen. Und wir müssen anfangen, größer zu denken. Nicht jedes Gebäude für sich betrachten, sondern Lösungen im Quartier suchen.

Was meinen Sie konkret?

Quartierslösungen sind Einzelgebäudelösungen weit überlegen, vieles lässt sich ökologischer, kostengünstiger und sozialverträglicher realisieren. Dazu gehören gemeinsame Sanierungen oder Energieversorgung, kommunale Wärme- und Mobilitätskonzepte. In vielen Kleinstädten gibt es Industriebetriebe, mit deren Abwärme sich ganze Ortsteile versorgen ließen.

Welche Rolle spielt die Bauindustrie bei der grünen Transformation?

Eine überragende, denn der Gebäudesektor ist für knapp 30 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich, für 40 Prozent des Energieverbrauchs, für 50 Prozent des Ressourcenverbrauchs, 60 Prozent des Abfallaufkommens und mehr als 70 Prozent des Flächenverbrauchs. Wenn wir diese Branche nicht entscheidend verändern, wird es keine nachhaltige Transformation geben. Gleichzeitig steht die Bauindustrie für Hunderttausende Jobs und eine Wirtschaftsleistung von 620 Milliarden Euro allein in Deutschland – und da sind die öffentlichen Investitionen noch gar nicht eingerechnet.

Die Herstellung von Stahl, Beton und Ziegeln verursacht hohe CO2-Emissionen. Werden wir in absehbarer Zeit auf solche energieintensiven Baustoffe verzichten können?

Ich halte nichts von dieser Verzichtsdebatte, ich finde sie sogar gefährlich. Ja, es stimmt: Wären Stahl und Beton ein Land, stünden sie auf Platz drei der weltgrößten CO2-Emittenten. Doch wir werden alle Materialien weiter brauchen. Beton hat eine schlechte CO2-Bilanz, die besser werden muss, aber eine hohe Belastbarkeit. Wir werden auch in Zukunft Autobahnbrücken oder Staudämme nicht aus Holz bauen, übrigens auch nicht die Fundamente von Windrädern. Eine nachhaltige Transformation schaffen wir nur, wenn wir alle Akteure mitnehmen. In den vergangenen 30 Jahren hat der Gebäudesektor den CO2-Ausstoß um 40 Prozent reduziert. Jetzt gilt es, bis zum Ende des Jahrzehnts dasselbe noch mal zu erreichen.

Wie soll das gehen? Eine Umstellung auf klimaneutrale Brennstoffe dürfte Jahrzehnte dauern.

Das Tempo ist ambitioniert. Aktuell reden wir aber nur über den Gebäudebetrieb, etwa die Heizung. Das reicht nicht, wir müssen ganzheitlich denken und den Lebenszyklus inklusive der Herstellung mit einbinden. Für eine Klimaneutralität ist daher die Kreislaufwirtschaft unabdingbar. Wenn wir die große Wirtschaftskraft der Baubranche mit diesem Hebel verbinden, erreichen wir viel mehr für den Klimaschutz als nur durch strengere CO2-Vorgaben. Wir müssen die Welt nicht komplett neu denken, sondern unsere Art des Wirtschaftens korrigieren: weg vom Ressourcenverbrauch, hin zum Ressourcengebrauch. Das heißt, Materialien so sparsam wie möglich einzusetzen und sie immer wieder in den Kreislauf zurückzuführen. Wenn uns das gelingt, haben wir viel erreicht – ohne Verzicht, ohne Verbote oder Vetorechte für Experten gegen das Parlament, wie der Sachverständigenrat für Umweltfragen vorschlägt. Klimaschutz gelingt besser in Demokratie und Freiheit.

Welche Schritte wären nötig?

Mehrere Ebenen sind wichtig: Gesetze, Förderung, Forschung und Praxis. Wir könnten einen Ressourcenpass einführen, der alle Aufwände an Materialen, Energie und CO2 im gesamten Lebenszyklus erfasst. Das würde helfen, innovative Ideen in die Breite zu bringen, um Ressourcen klimabewusster einzusetzen und in Kreisläufen zu halten. Wenn Bauherren zusätzlich zu Bauplänen auch Rückbaupläne einreichen müssten, würde das viel bewegen. Auch vor jedem Abriss gehört ein solcher Plan erstellt, um viel von der alten Substanz zu recyceln. Derzeit werden nur 12,5 Prozent der mineralischen Materialien wiederverwertet. Für ein auf Rohstoffe angewiesenes Industrieland ist das nicht haltbar. Der Club of Rome hat bereits vor 50 Jahren vor unkontrolliertem Rohstoffabbau gewarnt.

Bringt die aktuelle Energiekrise mehr Tempo in die Transformation?

Die Hoffnung habe ich. Wer jetzt noch weitere Preissignale braucht, um sich zu bewegen, hat ohnehin ein Problem. Trotz der Krise darf die Politik aber nicht sämtliche Steuerungsmechanismen aus der Hand geben. Auf Dauer müssen alle Baustoffhersteller in den Emissionshandel einbezogen werden. Der CO2-Ausstoß wird nur sinken, wenn er auch einen Preis hat.

Viele Firmen können die steigenden Energiekosten bereits jetzt nicht mehr tragen.

Das ist mir bewusst, deswegen ist es wichtig, solche Regularien gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen. Niemand hat etwas davon, wenn alte Fehler wie bei der Stahlindustrie wiederholt werden, wo der Großteil der Produktion heute in Asien stattfindet. Das hilft auch dem Klima nicht. Wir müssen die Wertschöpfung im Land halten und Menschen durch gute Jobs von der Energiewende profitieren lassen.

Welche Hürden behindern den Klimaschutz in der Baubranche am stärksten?

Der Flaschenhals schlechthin ist der Fachkräftemangel. Ohne die nötigen Handwerker gibt es weder klimaneutrale Neubauten noch Altbausanierungen oder mehr erneuerbare Energien. Zweitens stockt es auf der Angebotsseite, weil die Politik die Wärmewende zu lange vernachlässigt hat. Heute wartet man acht Monate oder länger auf eine Wärmepumpe – und wir stehen erst am Anfang des Umbaus. Drittens brauchen wir dringend eine grundlegende Reform des Bau- und Förderrechts.

Warum das?

Wir haben Regularien, die Klimaschutz eher erschweren als ermöglichen. Viele baurechtliche Standards sind so hoch, dass sich Sanierungen wirtschaftlich nicht rechnen und man lieber abreißt und neu baut. Dabei ist es oft ökologischer, den Bestand zu erhalten und energetisch zu ertüchtigen. Aber viele Vorschriften verhindern das.

Hätten Sie Beispiele?

Einen Holzbalken, der aus einem Gebäude ausgebaut wird, darf man anschließend nicht wiederverwenden. Er muss als Altholz entsorgt werden. Es gibt Bebauungspläne, die bestimmte Dachneigungen vorschreiben – die aber oft für Fotovoltaik nicht optimal sind. Wer Erdwärme nutzen möchte, muss Gutachten erstellen und Probebohrungen durchführen lassen. Das ist so teuer, dass sich der Aufwand oft nicht lohnt. Warum gibt es keinen bundesweiten Geothermie-Atlas, der dokumentiert, wie tief man in welcher Region bohren darf? Wo sind Kreislaufwirtschaftsprogramme der KfW? Wo bleiben die digitale Bauakte und die Digitalisierung im Bau?

Klingt nach sehr vielen Baustellen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die Transformation gelingt?

Es gibt viele kleine Hebel, die helfen würden, den Kurs der großen, manchmal schwerfälligen Branche zu verändern. Deutschland ist nicht reich an Rohstoffen, unser Kapital sind Köpfe und Innovationen. Die gilt es zu fördern, damit sozialverträgliche Lösungen und tragfähige Geschäftsmodelle entstehen können. Politische Vorgaben sind das eine, aber unternehmerisches Denken, Praxistauglichkeit gehören dazu und die Bürger dürfen nicht über Gebühr belastet werden. Klimaschutz darf nicht zum Eliteprojekt werden und braucht nicht weniger, sondern viel mehr Ideen, viel mehr Wettbewerb, viel mehr Ludwig Erhard.

Zur Person

Lamia Messari-Becker (49) ist Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Die Expertin für Nachhaltigkeit im Immobiliensektor ist Mitglied im Club of Rome und wirkte als Politikberaterin im Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen sowie im Wissenschaftsgremium Zukunft Bau des Bundesbauministeriums mit.

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