von Jung& Naiv hier
von Phoenix hier
Von Alexandra Endres 22. August 2023
Das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung ist ein Fortschritt, sagt der Expertenrat. Doch die Klimaziele werden nicht erreicht. Dafür bräuchte es eine offenere Debatte.
Klimaschutzprogramm: Bis 2030 müssen die Treibhausgasemissionen in Deutschland laut Klimaschutzgesetz um 65 Prozent unter das Niveau von 1990 sinken.
Allerdings wird die Regierung ihr Ziel mit den derzeitigen Maßnahmen wohl nicht erreichen.
Die Bundesregierung bringt den Klimaschutz zwar voran – aber was sie tut, reicht nicht aus, um die gesetzlich vorgegebenen Ziele zu erreichen. Die klimaschädlichen Emissionen sinken dafür absehbar zu langsam. Zu dem Ergebnis kommt der Expertenrat für Klimafragen in einer aktuellen Stellungnahme. Damit bestätigt das Gremium erneut: Die Ampel-Koalition, die bei ihrem Antritt einen Aufbruch in der Klimapolitik angekündigt hatte, löst ihre damaligen Versprechen höchstens teilweise ein.
Das hat der Rat der Regierung schon mehrfach mit auf den Weg gegeben – allerdings bisher mit begrenztem Erfolg. Doch die aktuelle Prüfung ist besonders. Diesmal liegt ihr Schwerpunkt nicht auf den bisherigen Emissionen, aus deren Höhe dann Trends abgeleitet und Schlüsse gezogen werden. Stattdessen konzentrieren sich die Fachleute auf das große Ganze: Sie analysieren das Klimaschutzprogramm 2023, das im Juni von der Koalition im Juni als "Gesamtplan" vorgestellt wurde, der "die wichtigsten Maßnahmen" der Klimapolitik bündele und "das deutsche Klimaziel für 2030 erstmals in Reichweite" bringe.
Damit meint die Regierung das im Klimaschutzgesetz festgeschriebene Ziel, den Ausstoß klimaschädlicher Gase bis 2030 um 65 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Es ist eine entscheidende Marke auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität, die dann im Jahr 2045 erreicht werden soll. Die Regierung geht davon aus, dass ihr Maßnahmenprogramm zumindest fast dafür ausreicht, dieses Ziel zu erreichen: Würde das Klimaschutzprogramm konsequent umgesetzt, lägen die Emissionen laut Ampel um 200 Millionen Tonnen CO₂ über dem 2030er-Ziel. Immer noch etwas zu hoch – aber der allergrößte Teil der nötigen Emissionsreduktion wäre damit geschafft.
Die Emissionen werden weniger stark sinken, als die Regierung annimmt
Der Expertenrat hat das Klimaschutzprogramm nun bewertet, bevor es im Kabinett beschlossen wird. Sein Ergebnis: Die Fachleute halten die Maßnahmen für einen großen Fortschritt im Klimaschutz. Sie erwarten aber, dass die Emissionen weniger stark sinken als von der Bundesregierung angegeben.
Das Klimaschutzprogramm könne "signifikante Treibhausgasminderungen" ermöglichen, sagt Hans-Martin Henning, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme und der Vorsitzende des Gremiums, "gerade in den Sektoren Energie und Industrie, aber auch im Gebäudesektor". Dort hänge der Emissionsrückgang stark davon ab, wie das Gebäudeenergiegesetz (GEG) nun umgesetzt werde. Besonders groß seien die Versäumnisse der Bundesregierung nach wie vor im Verkehr.
Doch die Regierung könnte noch mehr schaffen. Vor allem fehle laut dem Rat noch immer ein schlüssiges Gesamtkonzept und eine angemessene Bepreisung fossiler Energien. Die Regierung müsse klimaschädliche Subventionen senken, die fossile Infrastruktur abbauen und den nationalen Emissionshandel stärken.
Energie muss teurer werden – aber ein sozialer Ausgleich darf nicht fehlen
Es liege nahe, möglichst bald eine feste Obergrenze im nationalen Emissionshandel für Benzin, Diesel, Heizöl und Gas einzuführen, sagt Brigitte Knopf, Generalsekretärin des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC und stellvertretende Vorsitzende des Rats. Zwar würden die Brennstoffpreise dadurch steigen. Aber es gebe "die Option, die Einnahmen zur sozialen Abfederung als Klimageld sofort wieder an die Bevölkerung zurückzugeben". Dafür plädieren viele Fachleute, denn durch ein Klimageld wäre die finanzielle Belastung nicht ganz so groß. Gerade, wer besonders wenig Energie verbraucht – oft sind das jene Menschen, die ohnehin sparen müssen –, hätte durch die Rückzahlungen am Ende sogar mehr im Portemonnaie als zuvor.
Fachleute hatten schon vor Jahren vorgeschlagen, ein Klimageld im Voraus auszuzahlen – noch bevor der Staat tatsächlich zusätzliche Einnahmen aus höheren CO₂-Preisen erzielt. Ein zentraler Punkt der Idee: Am Ende hätten alle Einnahmen aus dem CO₂-Preis an die Bevölkerung zurückfließen sollen. "So hätte man zeigen können: Es geht nicht um mehr Geld für den Staat, sondern um den Klimaschutz und darum, den marktlichen Rahmen so zu setzen, dass Preise die Schäden durch den Klimawandel abbilden", sagt Andreas Löschel, Energieökonom an der Uni Bochum. Geschehen ist das Gegenteil: Der CO₂-Preis für Benzin, Diesel, Heizöl und Gas wurde eingeführt. Das Klimageld gibt es bis heute nicht.
Dabei hat die Ampel-Regierung es in ihrem Koalitionsvertrag versprochen. Doch inzwischen sind die Einnahmen aus dem europäischen Emissionshandel und dem nationalen CO₂-Preis anderweitig verplant. Vor allem die FDP sagt zwar, sie wolle Klimaschutz durch einen starken Emissionshandel erreichen statt durch staatliche Vorgaben. Das wäre auch im Sinne des Rats, der empfiehlt, die Vorteile "eines marktwirtschaftlichen Rahmens" stärker zu nutzen, "vor allem mit Blick auf Effizienz und Innovation". Doch im Gegensatz zu den Experten sträubt die FDP sich gegen steigende Energiepreise: ein nicht aufzulösender Widerspruch.
Ohne steigende Preise werde es nicht gehen, sagt Löschel. Gerade die Energiekrise der vergangenen Monate habe gezeigt, welch starke Wirkung Preise hätten. "Die hohen Gaspreise haben zu einem sinkenden Verbrauch geführt, den kaum jemand für möglich hielt – ganz ohne den Menschen bis ins Detail vorzuschreiben, wer wie viel Gas sparen muss." Wenn die Regierung aber den Eindruck erwecke, dass fossile Energie nicht teurer werden solle, "durch die Gaspreisbremse, die Spritpreisbremse, die Strompreisbremse: Dann bekommt sie den Klimaschutz schwer gewuppt."
Löschel fordert: Die Regierung müsse die Rahmenbedingungen so setzen, dass fossile Energie dauerhaft teuer bleibe, und zugleich die besonders Betroffenen unterstützen. Im vergangenen Jahr beispielsweise hätte die Koalition die Energiekrise nutzen können, um eine Importsteuer auf russisches Gas zu erheben, sagt er. Das hätte einen Teil der Gewinne abgeschöpft, die der russische Staat durch die Energiekrise erzielte, und gleichzeitig gezeigt, dass Gas auch künftig teuer bleiben werde. Doch die Steuer kam nicht. Und inzwischen sinken die Gaspreise wieder. Dass die Regierung dem zusehe, ohne einzugreifen, "dürfte klimapolitisch zum Problem werden".
Hat die Koalition ihr Klimaziel für 2030 insgeheim schon aufgegeben?
Ebenso wie der Expertenrat halten auch andere Fachleute die Maßnahmen der Regierung für nicht ausreichend, um das Klimaziel für 2030 einzuhalten. So bestätigt das Umweltbundesamt (UBA) im aktuellen Projektionsbericht: Mit der derzeitigen Klimapolitik werden die Klimaziele für 2030 und 2045 "ohne zusätzliche Maßnahmen" nicht erreicht. Und auch das UBA kommt zu dem Ergebnis, dass die Lücke größer ist als von der Bundesregierung berechnet. Laut UBA werden im Jahr 2030 immer noch 331 Millionen Tonnen mehr erreicht, als für das Klimaziel notwendig wäre.
Der Klimawissenschaftler Niklas Höhne fürchtet sogar, dass die Koalition ihr Klimaziel für 2030 insgeheim schon aufgegeben hat. "Im Koalitionsvertrag erklären alle Regierungsparteien, dass sie unbedingt am 1,5-Grad-Ziel festhalten", sagt Höhne, der mit dem Climate Action Tracker eine Plattform gründete, die misst, wie gut einzelne Länder im Klimaschutz sind. "Die Rhetorik ist bis heute so. Aber in der Praxis wird um jeden Sektor gekämpft, und es geht viel zu langsam voran." Rein technisch könne man das 2030er-Ziel noch erreichen, sagt Höhne. "Alles hängt ab vom politischen Willen." Den sieht er im Moment nur in Teilen der Koalition.
Auch Wolfgang Lucht, Erdsystemwissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), sagt: "Die Regierung ist als Fortschrittskoalition für den Klimaschutz angetreten, aber sie hat diesen Anspruch bisher kaum eingelöst." Lucht hat mit dem Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung das globale CO₂-Budget – also die Menge an CO₂, die die Welt höchstens noch ausstoßen darf, um unter der 1,5-Grad-Grenze zu bleiben – auf Deutschland umgerechnet. Seine Zahlen trugen dazu bei, dass die deutschen Klimaziele verschärft wurden. In seiner Forschung sieht Lucht, wie dringend es wäre, sie einzuhalten: Die extremen Wetterlagen dieses Sommers, die Fluten, Stürme, Brände und Hitzewellen, seien nur der Anfang der Klimakrise, sagt er. Dennoch sei bei vielen immer noch nicht angekommen, wie ernst die Lage wirklich sei.
Aus der Sicht von Lucht ist die laufende Legislaturperiode entscheidend fürs Klima. "Was jetzt verschlafen wird, schaffen wir vermutlich nicht mehr aufzuholen." Denn alle Emissionen, die jetzt über dem Budget liegen, müsste Deutschland später doppelt sparen. Doch der klimapolitische Fortschritt werde gerade "massiv verschleppt": Für Lucht ist das ein historisches Versagen. "Die Folgen werden wir in Zukunft massiv spüren. So wie wir schon heute in der Energiepolitik, zum Beispiel in der Gaskrise, die Folgen der verschleppten Energiewende spüren."
Doch nicht nur die Regierung vernachlässigt den Klimaschutz. Auch in der Bevölkerung sei die Unterstützung für engagierten Klimaschutz in den vergangenen beiden Jahren gesunken, sagt Brigitte Knopf: weil die Koalition nicht klar kommuniziere, in welche Richtung sie politisch wolle und zu welchem Ziel; wegen der polemischen Debatte ums Gebäudeenergiegesetz und weil es inzwischen um knallharte wirtschaftliche Verteilungskonflikte gehe. "Darüber darf man nicht hinweggehen. Es gibt ja reale Verlustgefahren."
Der Expertenrat plädiert deshalb für eine neue Debatte über den Klimaschutz, die mit gesellschaftlichen Konflikten offen umgeht und sozialen Aspekten der Klimapolitik mehr Raum gibt. Man müsse den Menschen mehr Mitsprache ermöglichen, das Parlament stärker einbinden und widersprüchliche politische Ziele klar benennen, um eine offene Diskussion zu ermöglichen. Klimaschutz sei nicht nur eine technische Frage, sagt Knopf. "Vor allem muss die Politik die Menschen dafür gewinnen. Sie müssen spüren, dass sie am Wandel positiv teilhaben können." Doch damit das gelingt, "bräuchte es einen Gesamtansatz der Regierung und politische Führung".
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen