Mittwoch, 30. August 2023

Konflikte in Demokratien: Was bedeutet es eine Demokratie zu leben?

  hier  Ein Gastbeitrag in der Zeit von Jan-Werner Müller  Aktualisiert am 27. August 2023

links: Grafik von der Seite der Konrad Adenauer Stiftung 

Verlieren ist auch eine Chance

Nirgendwo wird so penetrant an "Zusammenhalt" appelliert wie in Deutschland – dabei brauchen Demokratien die Bereitschaft, Konflikte konstruktiv auszutragen.

Konflikte in Demokratien: Streitkultur: eine deutsche Besonderheit, bei der immer unklar bleibt, was eigentlich den einen Streit produktiv und den anderen gefährlich macht.

Der Historiker Reinhart Koselleck bemerkte einmal, Politik operiere mit "asymmetrischen Gegenbegriffen". Die Diagnose trifft unsere Gegenwart: "Spaltung" – was immer andere betreiben – schlecht. "Zusammenhalt" – den man selber stets zu stärken trachtet – gut. 

Begonnen hat die Karriere des durchgehend positiv verwandten Begriffs mit dem Aufstieg der AfD. Doch ist der Appell an den Zusammenhalt eine stumpfe Waffe im Kampf gegen den Rechtspopulismus. Gleichzeitig legt er die Latte für ein gelingendes Gemeinwesen viel zu hoch, weil Konflikt, der doch in einer freien Gesellschaft unvermeidbar ist, unter eine Art Generalverdacht gestellt wird. Es wird zudem suggeriert, Demokratie hänge ab von den richtigen Einstellungen – einem "Empfinden" von "gesellschaftlichem Miteinander", wie es im schönsten Sozialkundesound oft heißt, nicht von politischem Handeln oder funktionierenden Institutionen. Zusammenhalt, ein Begriff, der in anderen Demokratien kaum eine Rolle spielt, lenkt letztlich ab von realen Problemen wie maroder oder ganz fehlender Infrastruktur, die es Bürgern schlicht schwerer macht zusammenzukommen.

Wer Zweifel am Zusammenhalt anmeldet, wird schnell auf das Beispiel USA verwiesen: Dort sei die Gesellschaft völlig gespalten, zum Schaden der Demokratie; was jenseits des Atlantiks an Polarisierung abgehe, könne auch bei uns Realität werden – so warnte erst jüngst, unter dem Schock der lokalen AfD-Wahlerfolge, der sächsische Ministerpräsident (bisher eher als Russlandversteher denn als USA-Kenner in Erscheinung getreten). Energiewende, Heizungsgesetz, Flüchtlingspolitik und Russland-Embargo, so Michael Kretschmer, drohten die Gesellschaft zu "zerreißen".

Derartige Klagen müssen skurril klingen für jeden, der sich noch an die Nachrüstungsdebatte oder an Willy Brandts Ostpolitik erinnert. Ist ein Streit über Heizungen wirklich gleichzusetzen mit der Diffamierung eines SPD-Kanzlers als Landesverräter? Nun ist die Erinnerung an die Zeit vor 16 Jahren Merkel-Demobilisierung noch kein Argument. Das eigentliche Argument lautet: Demokratie ist keine Konsensveranstaltung, sondern eine moralisch anspruchsvolle Methode zur friedlichen Konfliktbewältigung, bei der sich freie und gleiche Bürger am Ende bereitfinden, die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen anzuerkennen.

Der inflationäre Demokratiekrisendiskurs übersieht, dass eine Demokratie erst dann in der Krise, also einer Todesgefahr ausgesetzt ist, wenn die Kontrahenten sich in keiner Weise mehr als Konfliktpartner verstehen, sondern als Feinde – und dann zu Gewalt greifen. Die Bombardierung des Präsidentenpalasts in Santiago de Chile durch die Militärjunta 1973; der Angriff auf das Kapitol in Washington 2021: So sieht eine Krise der Demokratie aus.

Damit ist nicht gesagt, dass alles zum Besten steht, solange keine Waffen gezückt werden. Es ist auch nicht gesagt, dass jede friedliche Auseinandersetzung "produktiv" enden muss. Das Pendant zum kommunitaristischen Kitsch des Zusammenhalts-Diskurses ist die "Streitkultur", eine weitere deutsche Besonderheit, bei der immer unklar bleibt, was eigentlich den einen Streit produktiv und den anderen gefährlich macht.

Bei demokratisch ausgetragenen Konflikten lernen alle Seiten etwas: Neue Fakten werden präsentiert, an Argumenten wird gefeilt. Und wer denen nicht zustimmt, muss sich etwas Besseres einfallen lassen. Auch wenn man den Gegner nicht umstimmen wird, bemüht man sich doch, dem Wahlvolk die bestmöglichen Argumente nahezubringen – statt nur in den sozialen Medien hetzerische Clips für die eigenen Anhänger zu produzieren.

Wann sind Konflikte nicht mehr demokratieverträglich? Wenn eine Leitplanke der Auseinandersetzung geschrammt oder gar durchbrochen wird: Man kann allerlei Unhöfliches, gar persönlich Verletzendes über seine Gegner sagen. Aber man darf seinen Gegnern nicht grundsätzlich die Legitimität absprechen, insbesondere indem man suggeriert, sie seien existenzielle Feinde des Gemeinwesens oder, eine weniger offensichtliche Methode der Diffamierung, sie gehörten gar nicht zum Demos. Rechtspopulisten behaupten, allein ihre Anhänger seien the real people (so adressierte Trump die Aufrührer am 6. Januar 2021). Das hieße ja, dass es auch fake people gibt, die dann illegal an Wahlen teilnehmen und sie dadurch ungültig machen. Sprüche wie "Wir holen uns unser Land zurück" insinuieren, dass da irgendjemand sich des Landes bemächtigt hat, der gar nicht zum Land gehört – in diesem Fall wohl eine "globalistische" Elite, die als Gruppe Nicht-Volkszugehöriger in demokratischen Konflikten gar nicht auftreten dürfte.

Hier wird in der Tat kräftig gespalten: Politische Fragen werden auf Zugehörigkeit reduziert. Aber statt pauschal nach mehr Zusammenhalt zu rufen, sollte man klar sagen, dass es um die Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten geht. Die können übrigens mit Zusammenhalts-Rhetorik gut leben – die Forderung nach nationalem Zusammenhalt, sprich Homogenität, ist ja Kern ihres politischen Geschäftsmodells. Und die Warnung vor Polarisierung hilft ihnen auf perverse Weise auch noch, denn sie suggeriert, die Republik sei in zwei homogene Gruppen geteilt, ergo: Das halbe Land hat man sich schon zurückgeholt! Diese Zwei-Welten-Theorie beschreibt jedoch ganz sicher nicht die Verhältnisse in Deutschland.

Viele Beobachter, die meinen, Populisten seien die großen Vereinfacher, hantieren mit der völlig unterkomplexen Unterscheidung von "Kosmopoliten" und "Kommunitariern". Natürlich gibt es Dissens in Sachen Zuwanderung, ebenso wie bei Klimaschutz und Sterbehilfe. Aber die Existenz zweier gigantischer, moralisch gleichgeschalteter Gesellschaftsblöcke, wonach vermeintliche "Kosmopoliten" dann auch immer gleich Veganer und Klimaschutzfanatiker seien, ist empirisch nicht nachweisbar.

Den einen großen Graben gibt es nicht

Man hört viel von lauten Minderheiten – und ihre Lautstärke ist in einer Demokratie auch völlig legitim, solange sie die erwähnten Leitplanken respektieren. Aber es gibt nicht den einen großen Graben und schon gar keine schweigende Mehrheit, die von Populisten so gern beschworen wird.

Auch in den USA ist die Situation nicht ganz so simpel, wie es die pauschale Polarisierungsdiagnose nahelegt. Die Spaltung in zwei Bevölkerungsteile, die sehr negative Gedanken (und vor allem Gefühle: Man spricht von "affektiver Polarisierung") übereinander hegen, ist Realität. Die Spaltung ist jedoch bei Eliten viel ausgeprägter, und vor allem ist sie politisch induziert, sie ist keine Abbildung vermeintlich gegebener kultureller Unterschiede (Stadt gegen Land oder dergleichen). Sie wurde systematisch von Polarisierungsunternehmern geschaffen, die nicht nur Konflikte anzetteln, sondern den Gegner als Volksfeind entlarven wollten: Newt Gingrich, in den Neunzigern Sprecher des Repräsentantenhauses, hielt seine Republikaner dazu an, die Namen von Demokraten stets mit Wörtern wie "Verräter", "korrupt" und anti-flag zu versehen.

"Polarisierung" suggeriert, die zwei Parteien hätten sich beide radikalisiert. In Wirklichkeit bewegt sich aber nur eine stetig in Richtung Extremismus. Die US-Republikaner haben heute mehr mit der AfD gemein als mit der CDU/CSU. Da wäre es kurios, würden die amerikanischen Demokraten, und sei es im noch so sonoren Steinmeier-Sound, als Antwort auf die Radikalisierung der Rechten jetzt nach mehr Zusammenhalt rufen.

Was folgt daraus für die deutschen Debatten? Es ist nicht demokratieschädlich, wenn Friedrich Merz die Grünen zum offiziellen Gegner kürt. Problematisch wird es, wenn die Gegnerschaft primär kulturkämpferisch inszeniert wird. Der Grund ist nicht, dass der Streit um Minderheitenrechte (das ist ja mit dem Wort Kulturkampf oft gemeint) nicht demokratisch bewältigt werden kann. Die Vorstellung, materielle Interessen ließen sich stets ausgleichen, Identitäten seien jedoch unverhandelbar, ist falsch: Wenn es um den eigenen Geldbeutel geht, sind keineswegs immer sofort alle kompromissfreudig. Umgekehrt sind Rechte für verschiedene Gruppen politische und letztlich auch rechtliche Aushandlungssache, wie die Debatte um affirmative action in den USA einmal mehr zeigt.

Die simple Gegenüberstellung von Interessen und Identitäten ist ein Zeichen von Geschichtsvergessenheit: Faschisten kamen nicht nur, aber eben auch an die Macht, weil sie Wirtschaftseliten genehm waren. Mussolini marschierte nicht auf Rom, sondern bequemte sich per Schlafwagen aus Mailand in die Hauptstadt: Die alten Eliten hatten ihm den Regierungsauftrag erteilt und arrangierten sich aufs Beste mit seinem Regime.

Das Problem ist vielmehr, dass Kulturkampf in so gut wie allen europäischen Ländern die Tür zu einer Kollaboration von Mitte-rechts-Akteuren mit Populisten geöffnet hat. Anders als es das Bild einer vermeintlich unaufhaltsamen populistischen "Welle" suggeriert, haben sich – darauf hat der amerikanische Politikwissenschaftler Larry Bartels hingewiesen – die Meinungen zu sensiblen Fragen wie Flüchtlingspolitik und Euro in den meisten Teilen Europas in den vergangenen Jahren kaum verschoben. Was sich verschoben hat: die Haltung von etablierten konservativen Eliten, die seit einigen Jahren viel eher bereit sind, mit Rechtspopulisten zu koalieren oder zumindest deren Rhetorik zu kopieren. Nicht zuletzt, weil bei der rechten Mitte oft eigene Ideen fehlen, wird Kulturkampf betrieben und Politik langsam, aber stetig auf Zugehörigkeit reduziert.

Die Zusammenhalts-Mahnerei macht es schwieriger, mit ganz normalen Konflikten wie dem Heizungsgesetz auch ganz normal umzugehen. Zu suggerieren, Zusammenhalt (und Demokratie) blieben nur gewahrt, wenn man alle "mitnehme" oder "abhole", verrät ein zutiefst paternalistisches Verständnis von Politik: Es gibt bei allen Konflikten – ob es nun um Interessen, Ideen oder auch Identitäten geht – Gewinner und Verlierer. Der Clou der Demokratie ist nicht, dass alle immer gewinnen, sondern dass Verlierer immer eine Chance bekommen, die Dinge anders zu gestalten.

Zweifelsohne ist die Bereitschaft, sich mit der Verliererrolle abzufinden, voraussetzungsvoll: Man muss bereit sein, es weiterhin in einem politischen Raum mit anderen auszuhalten, deren Ideen man falsch findet oder deren Interessen man partout nicht teilt. Aber Aushalten ist etwas anderes als Zusammenhalten: Es hält auch den Raum für Konflikte offen.

Der Zusammenhaltskitsch kleistert legitime Interessengegensätze zu und suggeriert, man habe schon etwas getan, wenn man sich um Zusammenhalt sorgt. Der Begriff ist nahe dran, aber eben nicht identisch mit Solidarität oder, moralisch noch höher gegriffen: Gerechtigkeit. Wenn man Letztere ernst nimmt, müsste man vielleicht wirklich etwas abgeben, wie womöglich jetzt gut situierte Familien, die nicht mehr automatisch Geld für Kinder bekommen. Oder man sollte etwas für die verrottende Infrastruktur tun, denn nur die kann Menschen wirklich zusammenbringen, sofern sie nicht ewig auf Bus und Bahn warten müssen. Wer von solchen Dingen nicht reden will, sollte auch von Zusammenhalt schweigen.

Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton.

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