Sonntag, 15. Juni 2025

Kleine Geschichte des Energie-Hungers: Die Atom-Ära fiel aus, doch jetzt erleben wir eine andere Energie-Revolution

 

 Focus hier  Tim Meyer 

Ein Solarpark auf dem Gelände des ehemaligen Kernkraftwerks Trino (Italien) zwischen Mailand und Turin  © Getty Images

„Am Anfang war das Feuer“.


In anderen Worten: Holz war die erste Energiequelle, die sich der Mensch systematisch zur Nutzung erschlossen hat. Als gesichert gilt diese Verwendung von Biomasse für Wärme, Licht und Schutz vor Raubtieren seit rund einer Million Jahren.

Erst viel später kam die Wasserkraft 

als weitere, frei in der Natur verfügbare Energiequelle dazu. Erst diente sie dem Betrieb von Schöpfrädern und damit zur Bewässerung von Feldern, später als Antrieb für alle möglichen Arbeitsmaschinen. Historiker vermuten, dass die Geschichte der Wasserkraft bereits vor etwa 5000 Jahren in China begann und vor etwa 3500 Jahren in Europa. Wobei die damaligen Mengen der Biomasse- und Wasserkraftnutzung winzig waren im heutigen Vergleich: Rund um Christi Geburt lebten einige Hundert Millionen Menschen auf der Erde – ohne im globalen Maßstab nennenswerten Energieverbrauch.

Die erste Energierevolution: Kohle überflügelt Biomasse

Bis zum Jahr 1800 wuchs die Weltbevölkerung auf etwa eine Milliarde Menschen. Wärme, Licht und Kraft wurden unverändert über Biomasse und Wasserkraft gedeckt sowie über Nutztiere. Doch die erste Energierevolution näherte sich. Im historischen Vergleich zu späteren Umbrüchen schlich sie sich auf vergleichsweise leisen Sohlen an. Bereits im Zuge der Vorindustrialisierung wurden immer größere Energiemengen und Leistungen benötigt.

Kohle statt Holz war die Lösung. Sie war in großen Mengen verfügbar, hat eine hohe Energiedichte und lässt sich gut transportieren. Mit der immer weiter um sich greifenden Industrialisierung nahm die Kohleförderung und -verbrennung ab etwa 1850 immer schneller zu. Im Ergebnis hatte sich der weltweite Energieverbrauch bis zum Jahr 1900 mehr als verdoppelt.

Der Löwenanteil dieses gewachsenen Energiehungers wurde mit der Verbrennung von Kohle gestillt. Ihr Marktanteil lag bereits bei über 45 Prozent des weltweiten Primärenergiebedarfs. Zwar sind auch die absoluten Mengen klassisch genutzter Biomasse und Wasserkraft bis 1900 weiter gewachsen. Sie machten dennoch nur noch knapp über 50 Prozent der weltweiten Energieversorgung aus. Die erste Energierevolution war entschieden, die Kohle blieb als Gewinnerin auf dem Platz. Davon kündete auch der Gestank aus den Fabrikschloten, der sich in den Straßen der Städte zunehmend festsetzte.

Es dauerte ungefähr 40 Jahre, bis sich auf diesem Weg der weltweite Energieverbrauch erneut verdoppelt hatte. Die Kohle blieb in dieser Zeit mit stabil über 50 Prozent Anteil der wichtigste Energieträger. Doch die nächste Energierevolution warf ihre Schatten bereits voraus. 

Stammten im Jahr 1900 nur etwas über 1 Prozent des Weltenergieverbrauchs aus der Verbrennung von Öl, waren es 1940 bereits 11 Prozent. Auch die gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfundene Stromerzeugung aus Wasserkraft und die Verbrennung von Gas wuchsen, aber noch auf vernachlässigbarem Niveau.

Die zweite und dritte Energierevolution: Öl und Gas überflügeln Kohle

Nach dem Zweiten Weltkrieg polterte die zweite Energierevolution dann regelrecht durch die Tür  – das Ölzeitalter hatte begonnen. Bereits in den 1950er-Jahren verdrängte das Öl die Biomasse von ihrem bisherigen zweiten Platz und klaute auch der Kohle Marktanteile. Um das Jahr 1965 stand Öl mit 34 Prozent Anteil am weltweiten Energieverbrauch schon auf Platz 1 vor der Kohle. 

Gleichzeitig hatte auch die nächste Verdopplung des Weltenergieverbrauchs stattgefunden. Bereits 12  Prozent dieses Verbrauchs wurden zudem über die Verbrennung von Erdgas gedeckt. Dominierte Erdöl den Mobilitätssektor, bahnte sich mit der Nutzung von Erdgas bereits die dritte Energierevolution in der Wärmeversorgung und in der Industrie ihren Weg. Gasheizung und Gasherd statt Kohle, aber auch Gaslampen in der öffentlichen Beleuchtung steigerten den Komfort und die Leistungsfähigkeit der Energieversorgung deutlich.

Und auch in großen Industrieprozessen wie etwa der Synthese von Ammoniak für den massenhaften Einsatz von Dünger oder als leistungsfähigerer Ersatz von Kohle wurde Gas schnell unabkömmlich. So kam es, dass seit dem Jahr 1967 Öl und Gas zusammen über 50 Prozent des Energiebedarfs der Menschheit decken.

Die ausgefallene vierte Energierevolution: Atomenergie hebt nicht ab

Es überrascht nicht, dass die vierte Energierevolution zu diesem Zeitpunkt längst ausgerufen war. Denn der immer schneller wachsende Energiehunger der Menschheit rief nach der nächsten, noch gewaltigeren technischen Antwort. Und so begann Anfang der 1960er-Jahre die zivile Nutzung der Atomkraft.

Wobei diese nur ganz zu verstehen ist, wenn man sie gleichzeitig als militärtechnische Grundlage des atomaren Wettrüstens begreift. Denn nur wer über eine eigene Atomindustrie verfügt, hat Zugang zu dem benötigten Know-how und zu waffenfähigem Material zum Bau eigener Atombomben.

„Too cheap to meter“, also zu billig, um sie überhaupt zu messen und abzurechnen, werde die Atomkraft eines Tages werden, hatte der Vorsitzende der US-amerikanischen Atomenergiekommission Lewis Strauss im Jahr 1954 vollmundig angekündigt. Doch anders als ihre revolutionären Vorgänger vermochte es die Atomenergie nicht, wirklich nennenswert ins weltweite Energiegeschehen einzugreifen. Als sich 1984 zum nächsten Mal der weltweite Energieverbrauch verdoppelt hatte – diesmal nach nur noch 19 Jahren –, lag der Anteil der Atomenergie erst bei 4 Prozent. Auch in den folgenden Jahrzehnten kam er nie über 6 Prozent hinaus.

Die Atomenergie konnte ihr Versprechen geringer Kosten und Betriebsrisiken schlicht nicht einlösen. Darüber hinaus war ein weiteres Wachstum für militärische Zwecke nicht mehr erforderlich. Alle Nuklearmächte sahen sich mit ausreichend industrieller Basis für Atomtechnologie und -materialien versorgt. Mehr Atomkraftwerke brauchte es für militärische Zwecke nicht, erst recht nicht nach dem Beginn von Glasnost und Perestroika.

Ohne staatliche Unterstützung können aber in keinem Land die hohen Kosten und Risiken neuer Atomkraftwerke im Strommarkt erlöst werden. Daher fand die geplante atomare Energierevolution am Ende nicht statt. Ergebnis: Seit den 2000er-Jahren fällt nicht nur der Anteil, sondern auch der absolute Beitrag der Atomenergie zur weltweiten Energieversorgung, das heißt die reale weltweite Atomstromproduktion. Ihr Marktanteil ist heute wieder unter 4 Prozent gerutscht.

Die längst begonnene vierte Energierevolution: Wind und Sonne überflügeln alles

Eine vierte Energierevolution findet dennoch gerade statt. Aber die dafür verwendeten Nuklearreaktionen sind sichere 150 Millionen Kilometer entfernt und laufen in der Sonne ab. Ihrer Dynamik schadet das nicht: Der Hochlauf der Nutzung erneuerbarer Energien seit den 2000er-Jahren wächst in einer Geschwindigkeit, die noch keine Energierevolution zuvor geschafft hat.

Etwa 6 Prozent des Weltenergiebedarfs stammten im Jahr 2023 bereits aus diesen Quellen. In absoluten Zahlen entspricht das etwa 10.000 Terawattstunden. Wohlmeinend gerechnet hat Öl für diese Marke drei Jahrzehnte länger benötigt. Lag der Marktanteil von Öl und Gas im Jahr 2000 noch bei 55 Prozent, ist er im Jahr 2022 erstmalig seit den 1960er-Jahren wieder unter 50 Prozent gefallen.

Und eine weitere gute Nachricht spielt dieser vierten, nunmehr endlich sauberen Energierevolution in die Karten: Die letzte Verdopplung des bis dato unstillbaren Energiehungers der Menschheit war erst im Jahr 2021 erreicht. Zeitkonstante: 37 Jahre. Hohe Dynamik bei der sauberen Energiebereitstellung aus Wind und Sonne und bald sogar sinkende Verbräuche bilden eine perfekte Welle. Kam das Kohlezeitalter noch auf leisen Sohlen daher und polterte das Öl- und Gaszeitalter bereits deutlich forscher durch die Tür, werden die erneuerbaren Energien die Nutzung fossiler Energien in den nächsten wenigen Jahrzehnten wie ein Tsunami überrollen.

Das klingt jetzt zu euphorisch? Die Zahlen sagen genau das. Und zwar sogar anhand der in diesem Abschnitt verwendeten Zahlen der Energieverbräuche und Anteile der Primärenergieträger. Doch Primärenergie ist das falsche Maß, um die Bedeutung eines Energieträgers zu bewerten. Denn bei der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas gehen über 70 Prozent der eingesetzten Primärenergie als Abwärme verloren. Bei der direkten Erzeugung von Strom aus Wind und Sonne, bei ihrer Nutzung in Motoren, Wärmepumpen und Industrieprozessen etc. fallen viel geringere Verluste an.


Jede Kilowattstunde Wind- und Solarstrom verdrängt auf diese Weise etwa 3 Kilowattstunden Erdöl oder Erdgas. 


Blickt man statt auf Primär- auf die Nutzenergie, also das, was wir in Maschinen aus der eingesetzten Primärenergie machen, ist die Entwicklung der erneuerbaren Energien nochmals um einen Faktor 3 beeindruckender. Hätten Sie gedacht, dass die Menschheit schon in wenigen Jahren mehr Nutzenergie aus Wind und Sonne zieht als aus der gesamten Erdölförderung?

Das Neue: erstmalig wird nicht nur überflügelt, sondern verdrängt

Historisch ist die Entwicklung der erneuerbaren Energien aber nicht nur aufgrund ihres atemberaubenden Tempos. Die vierte Energierevolution ist die erste, die tatsächlich andere Energieträger aus dem Markt drängt. Kamen bisher neue Energieträger immer nur hinzu und haben ihren Vorgängern lediglich relative Anteile am wachsenden Energieverbrauch streitig gemacht, verdrängen Wind- und Solarstrom Kohle, Öl und Gas auch in absoluten Mengen.

Die internationale Energieagentur IEA sagt „Peak Oil“, also den historischen Höchststand der weltweiten Nutzung von Erdöl, für das Jahr 2024 oder 2025 vorher. In vielen Ländern sinkt auch die Kohleverstromung bereits massiv. Im Heimatland der Kohleverstromung, UK, wurde im September 2024 das letzte Kohlekraftwerk abgestellt. Das erste hatte Thomas Edison im Jahr 1882 in London in Betrieb genommen.

Weltweit treiben vor allem China und Indien noch die Gesamtnachfrage nach Kohle. Doch auch das wird am Ende Geschichte sein. Denn dieses Wachstum geht auf den gigantischen Energiehunger dieser Volkswirtschaften und Entscheidungen zum Bau neuer Kohlekraftwerke vor vielen Jahren zurück. Noch schneller wächst auch hier der Ausbau erneuerbarer Energien. Auch in China beginnen Wind und Sonne bereits die Kohleverstromung zu verdrängen.

Aus historischer Perspektive und über Jahrzehnte hinweg betrachtet, sind Umbrüche auch in der weltweiten Energieversorgung also etwas ganz Normales. Und wie zuvor ist auch die aktuelle vierte Energierevolution eine industrielle Revolution. Sie ist zwar entscheidend für die Vermeidung einer harten Klimakatastrophe, aber das macht sie nicht zur politischen Revolution. Erneuerbare Energien verdrängen Kohle, Öl und Gas durch niedrigere Kosten und höhere Leistungsfähigkeit, so wie frühere Energieträger ihre Vorgänger verdrängt haben.

So erklärt sich auch die Reihenfolge des Umbruchs in den einzelnen Sektoren: Gestartet im Energiesektor verdrängen Sonne und Wind erst die Kohleverstromung – die älteste mengenmäßig relevante „moderne“ Energiequelle. Doch zusammen mit Batteriespeichern klauen erneuerbare Energien bereits heute auch der Gasverstromung erste Marktanteile.

Über die „große Elektrifizierung“ hat zudem die Verdrängung der Gasnutzung für Wärme sowie der Ölnutzung für Mobilität begonnen. Diese Entwicklungen sind so absehbar, dass weltweit Regierungen regelrecht aufgeschreckt sind und mit groß angelegten staatlichen Programmen massiv in den Aufbau von Technologie, Fertigung und Marktanteilen für ihre Länder und Unternehmen investieren. 


Bitter, aber wahr: Der Klimawandel allein
hätte ein solches Maß an Aktivität nie hervorrufen können.
Aber was ist es dann? „It’s the efficiency, stupid!“

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