hier MDR Wissen 30. September 2024 von Florian Zinner
Faktencheck Artenvielfalt Deutschland
Das Land von Biber und Filzkraut: Deutschlands Artenvielfalt auf dem Rückzug
Ein beachtlicher Teil der Arten in Deutschland sind gefährdet. Aber an manchen Stellen ist bereits eine Kehrtwende sichtbar. Auf über tausend Seiten liegt jetzt Deutschlands erster Bericht zur Artenvielfalt vor, der sich selbst Faktencheck nennt, aber so viel mehr ist: Eine Bestandsaufnahme zum Zustand der Biodiversität, ein Trendbarometer, eine Handlungsempfehlung.
Unterm Strich kommt raus: Wie auch in der Klimakrise gefährden wir uns und unseren Wohlstand – wenn wir nichts tun.
- Ein erstmals umfassender Bericht zur Artenvielfalt in Deutschland zeigt: Die Hälfte der Lebensräume in Deutschland befindet sich in einem ungünstigen Zustand, ein Drittel der untersuchten Arten sind gefährdet
- Erstmals zeigen Gefährdungs- und Biodiversitätstrends, dass die meisten Lebewesen in den meisten Lebensräumen sich zum Schlechteren entwickelt
- Fachleute zeigen, dass politische Instrumente bereits existieren, der Schutz der auch für den Menschen lebensnotwendigen Artenvielfalt aber nicht nur Aufgabe von Umweltpolitik ist
Da hat sie Helge Bruelheide also ertappt, die Damen und Herren Medienschaffenden. "Das ist ein Problem, was Journalisten häufig haben, dass sie dann sagen: Ja, wir haben so ein Kuscheltier und da schreiben wir jetzt drüber. Aber dann den Sprung zu machen, dass es da noch viel mehr gibt, da liegt die Schwierigkeit." Bruelheide, Geobotaniker an der Uni Halle-Wittenberg, hat es erfasst. Ohne Kuscheltier geht es nicht. Deshalb verweist er dankenswerterweise auf den Biber, mit seinen putzigen Schneidezähnchen und dem dicken flachen Schwanz. Immerhin ist der Biber niedlich genug, dass er Wappentier-Potenzial hat. Zumindest für Baumärkte.
Aber eben auch für den Artenschutz: Biber sind nicht die, die unsere Wälder kaputt knabbern. Sondern letztendlich die, die sie erhalten, wenn man sie einfach machen lässt. Sie verlangsamen Überschwemmungen, bilden Barrieren für Waldbrände und bewahren Flüsse vorm Austrocknen. Als natürliche Klimaanpassungsstrategie. Es steht außer Frage, dass der Biber ein prototypisches und eben niedliches Zahnrad im hiesigen Ökosystemgetriebe ist. Und damit schützenswert. Er ist zurück in Deutschland, mit Recht.
Natürliches Gleichgewicht: Der Biber macht das gratis
Und obgleich die unentgeltlichen Biber-Dienste einen unverzichtbaren Beitrag dazu leisten, dass wir ein gutes Leben haben, wäre eine Welt, in der es neben den Menschen nur noch Biber gäbe, keine erstrebenswerte. Damit das nicht passiert, damit ein natürliches Gleichgewicht zustande kommt, müssen eben alle Arten mit anfassen. Und das ist letztendlich das, worum es Helge Bruelheide geht.
Und den anderen Autorinnen und Autoren vom "Faktencheck Artenvielfalt Deutschland". Das Papier ist das erste seiner Art und man mag es angesichts des Umfangs von mehr als 1250 Seiten kaum noch so nennen. Aber so kompliziert ist das eben, mit dem Artenschutz. Und so umfangreich das, was wir über die biologische Vielfalt in Deutschland wissen. Die Aussage, die über allem steht: Die Vielfalt der Lebensräume in Deutschland nimmt ab. Mehr als die Hälfte der unterschiedlichen Lebensräume – wie Wald, Küsten, Boden, Agrar- und Offenflächen, aber auch Städte – befinden sich in einem ungünstigen Zustand. Das bedeutet zum Beispiel, dass ein Drittel der untersuchten Arten gefährdet ist und drei Prozent bereits ausgestorben sind.
Die Autorinnen und Autoren haben sich aber nicht nur den Zustand der deutschen Biodiversität angesehen und welche Folgen daraus resultieren, sondern auch geschaut, wie sich eine Gefährdung entwickelt. Christian Wirth, Botaniker an der Universität Leipzig, Gründungsdirektor des Biodiversitätsforschungszentrums iDiv und ebenfalls Autor des Berichts, zeigt eine Grafik, auf der bedrohlich viele Pfeile nach unten gehen. Die Tabelle beinhaltet den Zustand unterschiedlicher Tiergruppen in jeweils unterschiedlichen Lebensräumen. Egal, ob Säuger, Pflanzen oder Vögel: Beim Agrar- und Offenland haben fast alle Arten einen roten Pfeil nach unten. "Rote Pfeile bedeuten einen Trend in der Gefährdungssituation, der negativ ist", so Wirth. Das ist auch bei den Binnengewässern und Auen der Fall, wobei sich die Situation für Vögel und Säuger dort gebessert hat: prima, blauer Pfeil nach oben! Im urbanen Lebensraum prangt dafür ein großes Fragezeichen. Denn für wirbellose Tiere und Pflanzen gibt es hier einfach zu wenige Daten, als dass man Trends ablesen könnte.
Tabelle zeigt verschiedene Klassen von Lebewesen wie Säugetiere un Pflanzne und die Lebensräume Agrar-/Offenland, Wald und Binnengewässer. Pfeile zeigen an vielen Stellen einen Trend zu höherer Gefährdung, positiver Trend bei Säugetieren und Vögeln bei Binnengewässern.
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Aber was bedeutet das jetzt für unsere Ökosysteme?
"Dazu haben wir mit sehr viel Mühe über 15.000 Zeitreihen aus Deutschland für alle wichtigen Artengruppen zusammengesammelt und auch für die Lebensräume", so Wirth. Also eine gehörige Fleißarbeit veranstaltet. Wirth und der Rest vom Team erwarten dafür kein Bienchen, sondern dass die Ergebnisse ernst genommen werden. Ob Vögel im Agrarland oder Pflanzen und Wirbellose in Gewässern: Die Gefährdungstrends einzelner Arten scheinen sich auch in der Entwicklung der Artenvielfalt zu zeigen. Das gilt auch für positive Entwicklungen, wie bei der Vogelvielfalt an Binnengewässern. "Der wichtige Punkt an der Stelle ist, dass wir jetzt zum ersten Mal zeigen, dass die Trends in den Lebensräumen und in den Gefährdungskategorien sich tatsächlich durchpausen auf die Artengemeinschaften", so Wirth. Großes Defizit und auch der Grund, warum die bunten Grafiken so viele Lücken haben: Obwohl sie eine unserer wichtigsten Ressourcen sei, gebe es für biologische Vielfalt in Deutschland noch kein behördliches Monitoring. Immerhin befänden sich aber Programme in der Entwicklung......
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