Dienstag, 27. Mai 2025

Das Schlimme und das Rettende, beides entwickelt sich gerade schneller als erwartet

 hier Der Rationalist, Sonntag, 25. Mai 2025 - Die Kolumne von Christian Stöcker

Der bedrohlichste und erfreulichste Halbsatz der Welt

Eine von Forschenden immer häufiger gebrauchte Wendung in Bezug auf den Klimawandel lautet: »schneller als erwartet«. Das ist oft besorgniserregend, der Satz kann aber auch Gutes bedeuten. Derzeit trifft beides zu.

Zuerst die schlechten Nachrichten: Das Ziel, die Erhitzung des Planeten auf nicht mehr als 1,5 Grad Celsius im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten zu begrenzen, ist nicht nur praktisch außer Reichweite. Es reicht auch nicht. Jedenfalls nicht, was einen potenziell katastrophal schnellen Anstieg des Meeresspiegels angeht. Zu diesem Schluss kommt ein Team um Chris Stokes von der Durham University in einer diese Woche in »Nature Communications Earth & Environment« erschienenen Studie .

Zum Autor: Christian Stöcker, Jahrgang 1973, ist Kognitions­psychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang Digitale Kommunikation. Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE.

Das »sichere Limit« für die großen Eispanzer Grönlands und der Antarktis liege nicht, wie bislang angenommen, bei unter 1,5 Grad, sondern »eher in der Nähe von einem Grad Celsius, möglicherweise sogar niedriger«, heißt es in dem Fachartikel. Was die Geowissenschaftler mit »sicherem Limit« meinen, erklärte einer der Autoren, Jonathan Bamber von der University of Bristol, dem britischen »Guardian« : eine Grenze, die »eine gewisse Anpassung« an den Anstieg des Meeresspiegels ermöglicht »anstelle von katastrophenhafter Migration ins Landesinnere«. Stiege der Meeresspiegel im Durchschnitt um mehr als einen Zentimeter im Jahr an, werde diese Art von Anpassung zu einer gewaltigen Herausforderung. Eine solche Entwicklung würde Wanderungsbewegungen auslösen, »wie wir sie in der modernen Zivilisation noch nie erlebt haben«.

230 Millionen Menschen leben höchstens einen Meter über dem Meer

Derzeit leben etwa 230 Millionen Menschen höchstens einen Meter über dem Meeresspiegel und eine Milliarde im Bereich bis zehn Meter. Steigt das Wasser bis 2050 nur um 20 Zentimeter an, wird das zu geschätzten Schäden in Höhe von etwa einer Billion US-Dollar, also tausend Milliarden US-Dollar, führen. Pro Jahr. Die Welt sitzt schon jetzt auf einer gewaltigen Immobilienblase, die auch das ganze Finanzsystem ins Wanken bringen könnte. Was passiert, wenn riesige Immobilienwerte plötzlich kollabieren, haben wir im Jahr 2008/09 schon einmal erlebt, aber das war ein laues Lüftchen im Vergleich zu dem Sturm, der uns bevorsteht.

Es lohnt sich deshalb umso mehr, um jedes verhinderte Zehntelgrad Temperaturanstieg zu kämpfen.

Eine weitere Mitautorin der Studie, Andrea Dutton von der University of Wisconsin-Madison, sagte: »Belege aus vergangenen Wärmeperioden legen nahe, dass mehrere Meter Meeresspiegelanstieg – oder mehr – zu erwarten sind, wenn die Temperatur 1,5 Grad plus oder noch mehr erreicht.« Mehrere Meter, das dürfte nach jetzigem Stand Jahrhunderte dauern, aber es wäre unumkehrbar. Wenn Festlandeis erst einmal geschmolzen ist, was ziemlich schnell gehen kann, dauert es Zehntausende von Jahren, bis es sich neu gebildet hat, auch wenn die Temperaturen wieder sinken.

Wir wiegen uns in falscher Sicherheit

Es war auf der Erde schon 2024 im Durchschnitt mehr als 1,5 Grad wärmer als zu vorindustriellen Zeiten. Das 1,5-Grad-Ziel bezieht sich jedoch auf den Durchschnittswert eines Zeitraums von 20 Jahren, sodass es nicht als gerissen gilt, wenn die Schwelle vorübergehend überschritten wird. Das wiederum bringt es mit sich, dass man sich womöglich erst dann eingesteht, dass der Wert über dieser Grenze liegt, wenn es längst zu spät ist.

Der Halbsatz »schneller als erwartet« ist in Bezug auf die Klimakrise der bedrohlichste von allen, und er fiel in den vergangenen Jahren immer häufiger. Die Weltmeere erwärmen sich schneller als erwartet , und zwar dramatisch: Zwischen 1985 und 1989 stieg die Oberflächentemperatur der Ozeane mit einem mittleren Tempo von 0,06 Grad Celsius pro Jahrzehnt. Von 2019 bis 2023 wurde ein Anstieg gemessen, der einem Steigerungstempo von 0,27 Grad pro Jahrzehnt entspricht , also mehr als viermal so schnell. Das ist einer der Gründe für die immer höhere Frequenz von Extremwetterkatastrophen, auch hier bei uns. Der andere ist die wärmere Luft.

Der Wald stirbt schneller, als er nachwächst

Auch die Temperatur der Atmosphäre nahm zuletzt schneller als erwartet zu . Es könnte sein, dass auch die ausgefeiltesten Klimamodelle eine Feedbackschleife nicht berücksichtigt haben, die zu einer noch schnelleren Erhitzung beiträgt. Es passieren schon jetzt alle möglichen sehr beunruhigenden Dinge: Zum Beispiel nehmen Wälder nicht nur in Deutschland mittlerweile weniger CO₂ auf, als sie abgeben .

Das liegt daran, dass Bäume durch lange Dürrephasen und Schädlinge sterben und der Wald durch Klimaveränderungen langsamer nachwächst. Der Verlust ist jetzt größer als der Zuwachs . In Österreich passiert das Gleiche . Im Amazonasregenwald auch , dort allerdings vor allem durch Brandrodung.

Doch wo Gefahr ist…

Schneller als erwartet geschehen aber auch Dinge, die der Menschheit helfen könnten, sich und ihre Zukunft doch noch zu retten. Allen voran das atemberaubend schnelle Wachstum von fossilfreien Formen der Energieversorgung, die in dieser Kolumne schon häufig Thema waren.

Die beste Klimanachricht der vergangenen Wochen kommt aus China, und viele Menschen hierzulande haben sie vermutlich gar nicht mitbekommen: In China sind die CO₂-Emissionen dem Fachinformationsdienst »Carbon Brief« zufolge  erstmals allein durch das Wachstum erneuerbarer Energien gesunken. Und zwar um ein Prozent gegenüber dem Jahr zuvor und sogar um 1,6 Prozent, wenn man das erste Quartal 2025 mit dem ersten Quartal 2024 vergleicht. Der Rückgang ist fast ausschließlich auf den Sektor Stromerzeugung zurückzuführen, in anderen Bereichen wuchsen die Emissionen sogar.

China verbrennt jetzt also weniger Kohle zur Stromerzeugung als zuvor, und das, obwohl der Energiehunger des Landes weiter wächst. Wichtig ist das vor allem, weil China mittlerweile der größte CO₂-Emittent des Planeten ist. Geplant war der Emissionsgipfel erst für 2030, er kam also für Xi Jinping schneller als erwartet.

Es hat schon ein paarmal Dellen nach unten gegeben bei den Emissionen Chinas, aber diesmal, so die »Carbon Brief«-Analysten, hat das erstmals nicht mit wirtschaftlichen Problemen oder einer Pandemie zu tun: »Saubere Energie ist der Haupttreiber.«

Solarmodule am Straßenrand

Die chinesische Solarmodulproduktion wächst weiter mit zweistelligen Zuwachsraten. Chinas Produktion ist mittlerweile also so umfangreich, dass sie einerseits eine weiter wachsende Nachfrage im eigenen Land bedienen und andererseits jede Menge Solarmodule exportieren kann . Zum Beispiel nach Afrika: In Nigeria  etwa werden sogenannte Minigrids gebaut, die den Strom aus kleinen Solarkraftwerken mit Batteriespeichern, dem wenig verlässlichen Strom aus dem öffentlichen Netz und den bislang dort deshalb zahlreich eingesetzten Dieselgeneratoren kombinieren können. Bislang haben dort 75 Prozent der 150 Millionen Einwohner keinen Zugang zu einer geregelten Stromversorgung. Dezentrale Modelle werden in solchen Ländern bald boomen.

Im Nachbarland Niger, das ebenfalls mit regelmäßigen Stromausfällen zu kämpfen hat, werden schon jetzt chinesische Solarmodule am Straßenrand verkauft . Ein hochwertiges Solarmodul kostet dort umgerechnet etwa 75 Euro. Es gibt sogar Straßenhändler, die als Nebengeschäft mit einzelnen Mini-Modulen tagsüber Strom erzeugen und zum Aufladen von Telefonen für Centbeträge verkaufen. Auf dem Land treiben Solarmodule dort jetzt Wasserpumpen an, überall werden tags Batteriespeicher aufgeladen, mit denen man nachts »ein paar Glühbirnen, einen Fernseher und einen Ventilator« antreiben kann, sagte ein Techniker in Niger der Nachrichtenagentur AFP. Auch Stromspeicher werden rasant billiger. Das Vorzeigeland der unerwarteten Solarexplosion ist derzeit Pakistan, aber es wird bald sehr viele Pakistans geben.

Selbst in den USA

Sogar in den USA unter Donald Trump wächst kaum etwas so schnell wie erneuerbare Energien: 98 Prozent der im ersten Quartal zugebauten Kapazität  zur Stromerzeugung dort war fossilfrei. Photovoltaik ist schon seit September 2023 Monat für Monat die Technik mit dem größten Anteil am Kapazitätswachstum.

Das Wachstum ist so schnell, dass die Internationale Energieagentur (IEA) unter Energie-Nerds mittlerweile eine ständige Quelle des Spotts ist: Jahr für Jahr nimmt sie wieder an, dass das Wachstum insbesondere der Photovoltaik jetzt aber diesmal wirklich nachlässt. Also aufhört, weiter exponentiell zu beschleunigen. Was sich dann Jahr für Jahr als kapitale Fehleinschätzung erweist. Der britische »Economist« witzelte in einer Grafiküberschrift über den »unerschütterlichen Pessimismus« der IEA.

Das Schlimme und das Rettende, beides entwickelt sich gerade schneller als erwartet. Wenn diese Erkenntnis auch die Bundesregierung und die EU-Kommission erreicht, wäre viel gewonnen. 

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