Dienstag, 27. Dezember 2022

Was, wenn die besten Jahre vorbei sind?

 Spiegel  hier Ein Essay von Jonas Schaible  26.12.2022

Leben in der Klimakrise

Selbst wenn wir die Klimakrise bestmöglich eindämmen, wird es nun für Jahrzehnte instabiler, chaotischer, lebensfeindlicher. Uns geht ein wichtiges Versprechen verloren: Dass es schon vorwärtsgeht. Und jetzt?

Ein Frühsommerabend im Restaurant, Berlin-Mitte, grüne Blätter, schöne Menschen, Eiskaffee. Wie hältst Du das eigentlich aus, fragt der Freund, jeden Tag brennende Wälder, verdorrende Felder, überflutete Dörfer. Immerzu Klimakrise, immer neue Nachrichten, lesen, verarbeiten, verbreiten.

Ja, wie halte ich das aus?

Also Gegenfrage: Wie hält die Gesellschaft aus, was gerade mit ihr geschieht? Wie verkraftet sie die Gewissheit, dass die Bedingungen, unter denen sie existiert, jetzt erst einmal schlechter werden. Für Jahre, für Jahrzehnte.

Die vergangenen Wochen haben diese Frage in großer Anschaulichkeit aufgeworfen.

Klimaaktivistinnen und Aktivisten der »Letzten Generation« haben von Glasscheiben geschützte Kunstwerke beschmiert, mit Kartoffelbrei, Suppe, Farbe. Und sie haben Straßen blockiert, für ein paar Tage war unklar, ob sie damit die bestmögliche medizinische Versorgung einer überfahrenen Radfahrerin verhindert haben.

Das war wohl nicht der Fall, aber noch bevor die Umstände aufgeklärt waren, äußerten sich der Bundeskanzler, die Innenministerin, der Justizminister, die Berliner Bürgermeisterin.

In der »Bild« erschien ein Text unter der Überschrift: »Darf ich Klima-Klebern eine kleben?«. Darin hieß es: »Die Klima-Spinner von der Straße zu rupfen, auch wenn dabei Haut kleben bleibt, kann im Einzelfall zulässig sein«. Es war die Legitimation, Menschen zu verletzen, angeblich aus Notwehr, gegen Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, aus Notwehr zu handeln.

Die Union forderte in einem Antrag härtere Strafen, darin heißt es: »Diese rücksichtslosen Taten selbst ernannter Klimaschützer sind nicht durch das Demonstrationsrecht des Grundgesetzes gedeckt.«
In Bayern werden Aktivistinnen für bis zu 30 Tage in Präventivhaft genommen, um etwaige Straßenblockaden zu verhindern. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin geht wegen des Verdachts der Gründung einer kriminellen Vereinigung gegen sie vor, Razzia inklusive.

Man bekam in diesen Wochen also eine Ahnung davon, wie hartleibig relevante Teile dieser Gesellschaft auf Störungen im Betriebsablauf reagieren. Und es ist noch nicht einmal wirklich etwas passiert. Der Ungehorsam war bisher friedlich. Kein Kunstschatz wurde zerstört, kein Mensch angegriffen, wahrscheinlich nicht einmal mittelbar geschädigt.

Das Problem ist: Die Störungen im Betriebsablauf werden zunehmen. Die von fossilen Energien befeuerte Lebensweise wird sich über kurz oder lang selbst infrage stellen.
Nach Jahrzehnten der verschleppten Investitionen, nach einem Brexit, nach drei Jahren Pandemie und inmitten eines großen Kriegs bröckeln die europäischen Gesellschaften ja schon jetzt.

Die Züge schleppen sich verspätet durchs Land, Kinder bekommen weder Krankenhausbett noch Fiebersaft, die Bundesärztekammer ruft dazu auf, Medikamente zu teilen.

Die Risse sind nicht zu übersehen.

Heißer, instabiler, chaotischer

Und wir stehen erst bei 1,09 Grad mehr als zur Zeit der Industrialisierung, sagte der Weltklimarat (IPCC) in seinem Bericht aus dem letzten Frühjahr. Inzwischen wohl schon bei 1,1 oder 1,2 Grad. Er sagt auch: Selbst wenn alle Regierungen tun, was sie zu tun versprechen, wenn also nahezu ein Wunder geschieht, dann erreichen wir die 1,5 Grad vielleicht schon in diesem Jahrzehnt, höchstwahrscheinlich spätestens im nächsten Jahrzehnt.

Kinder, die heute geboren werden, werden in einer Welt ihr Abitur feiern, die viel heißer ist als jene, in der sie zum ersten Mal in die Kita gebracht wurden. Wahrscheinlich wird sie heißer sein, als sie es je war, seit der Mensch die Schrift erfand.

Wenn sie Pech haben, dann werden sie sogar schon ihre Bar Mitzwa in dieser menschheitsgeschichtlich einmalig heißen Welt erleben, ihre Erstkommunion, ihren ersten Kuss oder ihren ersten sturmfreien Abend.

Sehr viel heißer, das heißt auch: sehr viel unberechenbarer, sehr viel instabiler, sehr viel bedrohlicher. Auch sehr viel weniger kontrollierbar. Und mit wenig, das lehrt die Erfahrung, kommen Menschen so schlecht klar wie mit dem Gefühl des Kontrollverlusts.

Wir reden, um noch einmal allen Missverständnissen vorzubeugen, nicht vom worst case, wir reden vom best case.

Bis die Menschheit bei Netto-Null-Emissionen angekommen ist, heizt sich die Erde auf. Aktuell ist der Plan, dass es in Europa 2050 so weit sein soll, in den USA ebenso, in China 2060. Bis dahin wird es heißer, derzeit rund 0,27 Grad pro Jahrzehnt. Pi mal Daumen landet man dann bei 1,9 Grad. In Europa wahrscheinlich bei 3 oder 4 Grad mehr.

Bis Netto-Null geht es bergab. Danach geht es allenfalls ein wenig bergauf, um wenige Zehntelgrad. Es stabilisiert sich im Kern der viel schlechtere Zustand. Wenn er sich überhaupt stabilisiert.

Solange die Emissionen nicht bei null sind, steigt die Temperatur weiter, 2 Grad, 2,3 Grad, 2,5 Grad, 2,9 Grad, 3,2 Grad. Noch mehr danach. Dann ist sowieso nichts mehr, wie man es sich vorstellen kann. Aber auch im besten Fall wird vieles nicht mehr sein, wie es war.

Das sind erst einmal die Fakten.

Nur was bedeuten sie?

Sie bedeuten, dass die Mehrzahl der Korallenriffe sterben werden und mit ihnen die Ökosysteme, die sie nähren und von denen Hunderte Millionen Menschen leben. Sie bedeuten, dass Hitzewellen sehr viel häufiger werden, dass Dürren sich intensivieren, und zwar fast überall auf dem Planeten, dass mehr Flüsse häufiger trockenfallen und Gletscher schmelzen, dass Hunderten Millionen Menschen mehr chronische Wasserknappheit droht, dass Getreideernten häufiger verdorren und weggeschwemmt werden oder beides im selben Jahr. Sie bedeuten, dass Dutzende oder Hunderte Millionen Menschen zur Migration gezwungen sein werden. Dazu kommt noch das Artensterben, die Welt wird rasant karger, ärmer an Tieren, an Vielfalt, an Leben.

All das ist nicht mehr zu ändern.

Das Klima bestimmt nicht allein die Qualität des Lebens, aber es beeinflusst alles, weil es alles umgibt, weil es immer und überall ist. Wenn das Klima lebensfeindlicher wird, leidet das Leben. Wenn es instabiler wird, wird das Leben der Menschen instabiler. Schocks nehmen zu, Erwartungssicherheit nimmt ab.

Das bedeutet, allgemeiner gesagt, dass die klimatisch besten Jahre vorbei sind. Das bedeutet wiederum, dass es auch ökonomisch und politisch womöglich nicht mehr besser wird. Dass es im Gegenteil sogar tendenziell schlechter wird, härter, chaotischer, krisenhafter, extremer, instabiler. Oder jedenfalls: Dass es sehr viel schwieriger wird, aufwändiger, komplizierter, den Umständen das gute Leben abzuringen. Und dass nur ein Extremereignis das Abgerungene umwerfen kann.

Dies ist keine Untergangsprognose, kein Doomismus, kein Adventismus. Für viele Menschen wird das Leben in zwanzig oder dreißig Jahren die meiste Zeit über sehr gut sein und für einige sogar viel besser als das Leben heute.
Wir stehen nicht am Ende von allem, nur am Ende der begründeten Hoffnung auf das »immer besser«, das natürlich, dazu gleich mehr, bis zu einem gewissen Grad immer eine Illusion war, ein Selbstbetrug. Es bedeutet dennoch eine Schubumkehr der Geschichte. Die Notwendigkeit, uns völlig neu in der Zeit zu orientieren, politisch, als Gesellschaft, als Einzelne.

Sind wir darauf auf nur ein kleines bisschen vorbereitet? Auf die Scham, die Angst, die Schuld, die Konflikte, die Unsicherheit, die neuen Fragen?


Carolin Emcke sitzt auf einem lehnenlosen Hocker in einem Berliner Café und sagt: »Ich schäme mich.« Emcke, 55, Friedenspreisträgerin, Autorin, Philosophin, Kriegsberichterstatterin, hat sich ihr Leben lang für Menschenrechte eingesetzt, für LGBTIQ*-Rechte, gegen den Krieg und gegen Demokratiefeindlichkeit. Aber eben nicht fürs Klima, jedenfalls nicht hauptsächlich und nicht schon vor Jahrzehnten. »Auch ich hatte einen ganz anderen Fokus«, sagt sie. »All die Zeit, die jetzt fehlt, ist die, die meine Generation versäumt hat. Das ist, wenn man es ernst nimmt, ein spektakuläres Versagen.«

Sie verweist auf eine Erzählung von Lew Tolstoi, »Der Tod des Iwan Iljitsch«: »Es geht um einen Mann, der auf dem Sterbebett liegt und nicht glaubt, dass er stirbt, aber als er es dann irgendwann doch realisiert, begreift er, dass er sein Leben nicht richtig gelebt hat. So fühlt es sich an. Die zu späte Einsicht in die eigenen Versäumnisse.«

Sie tragen Schuld, wir tragen Schuld

In dem Gedanken liegt der Kern der vielen flapsigen Bezugnahmen auf »Boomer«, also die Babyboomer-Generation, die stellvertretend bespöttelt wird für alle Kohorten, die in Zeiten klimatischer, weltpolitischer und ökonomischer Stabilität lebten und maßgeblich die Grundlagen ihres Wohlstands durch das eigene Wohlstandsmodell vernichtet haben.

Ja, was soll man sagen? Sie haben es verbockt. Nicht in böser Absicht, mal abgesehen von den Lobbyisten der fossilen Industrien, die genau wussten, was sie anrichten. Aber die meisten nicht in böser Absicht, sondern auf der Suche nach dem richtigen Leben. Oder auch nur dem guten Leben.

Ich, heute 33, erinnere mich noch, wie ich als Jugendlicher stets hängen blieb, wenn im Fernsehen eine Doku über die 68er lief. Über Woodstock, den Sturm und den Matsch und Jimi Hendrix auf der Bühne, Joe Cocker, Joan Baez. Oder über die Proteste gegen den Schah-Besuch, gegen den Vietnamkrieg. Die Massen vor dem Lincoln Memorial. Dany le Rouge mit erhobener Faust. Benno Ohnesorg tot im Hinterhof.
Die Musik war immer die gleiche, die Geschichten waren es auch, und das Gefühl war auch immer das gleiche: eine Mischung aus Nostalgie und leisem Neid.

Nostalgie nach einer Zeit, die zwei Jahrzehnte vor meiner Geburt lag. Neid auf eine Generation, die eine politische Mission hatte, eine historische Rolle, eine Aufgabe. Während meine Generation nichts hatte als die vage Vermutung, dass es nicht einfach nur gut weitergehen würde, weil es nie einfach nur gut weitergeht, auch wenn es sich so anfühlte, als würde es immer gut weitergehen.
Als ob.

Natürlich, dies war immer schon eine privilegierte Position, andere hatten genug zu kämpfen mit ihrem Leben, Armut, Krankheit, Diskriminierung. Aber es war auch mehr als nur persönlicher Wohlstandsblues.
Die Neunziger brachten mit der Popliteratur ein ganzes literarisches Genre zur Größe, das sich der entsetzlichen Langweile des Lebens widmete und dem Rausch, dem Exzess, der Verschwendung als Mittel, dieser Ödnis wenigstens ein bisschen Amüsement abzuringen.

Aber man hätte zu dieser Zeit natürlich längst wissen können, welche die Aufgabe dieser Generation ist, weil es schon die Aufgabe der Generation zuvor hätte sein müssen. Man hätte wissen können, warum es nicht einfach gut weitergehen wird. Man hätte ein ganzes Jahrzehnt vorher die Gesellschaft durchschütteln können.

Nun also dämmert so langsam diese Einsicht: Nicht nur die Boomer haben versagt, die Generationen nach ihr, meine Generation hat es auch. Man kann es auch noch härter formulieren: Sie tragen Schuld, wir tragen Schuld.

Erst allmählich zieht diese Erkenntnis ein ins Bewusstsein, wird unweigerlich zur Quelle von Scham, von Frust, von Verzweiflung.
Wie soll man denn das tragen, als Mensch in seinem kleinen Leben? Was macht man nun, fast jeder von uns ein Iwan Iljitsch, der erkennt, dass er sein Leben falsch gelebt hat, nur dass er noch Jahre und Jahrzehnte vor sich hat?

Kurz nach dieser Frage zog ich weiter in die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Vorn ging Fabian Hinrichs auf und ab, Corona, Masken, Einsamkeit, ach ja, Klimakrise und dann die Frage, der Titel des Stücks, diese einfache Frage: Geht es dir gut?
Einfache Frage? Nein, gute Frage, Herr Hinrichs. Sehr, sehr gute Frage. Nein, also ehrlich gesagt nicht so richtig.


»Man muss das Überwältigt werden thematisieren.«

Fabian Hinrichs


Ein paar Wochen später spricht Fabian Hinrichs über das Stück, das er gemeinsam mit Volksbühnen-Intendant René Pollesch geschrieben hat. Über die Zumutungen unserer Zeit und die Rolle der Kunst, um mit ihnen fertig zu werden. »Es gibt eine Zeile im Stück: Drinnen vor der Tür. Die spielt auf Wolfgang Borchert an, auf sein Stück ›Draußen vor der Tür‹«, erzählt er. Draußen vor der Tür, über einen Kriegsheimkehrer, der nicht mehr hineinfindet in die neue Gesellschaft, wurde 1947 zum ersten Mal aufgeführt.

»Damals war es so: Die Menschen sehnten sich nach Theater, trotz der Zerstörung und der Not, überall kamen Bühnen auf, wo immer es ging. Aber man konnte eben Not und Elend nicht nicht thematisieren, man konnte das, was geschehen war, nicht nicht thematisieren.«

So, sagt Hinrichs, sei es ihm nun auch gegangen. »Man muss das Überwältigt werden thematisieren.« Man müsse die ökologische Krise irgendwie aufnehmen. Sie ist nun mal da. Er will das auch in seinem neuen Stück tun, sagt er.

Große Teile der Literaturwelt, der Filmwelt, der Kunstwelt thematisieren heute nach wie vor nicht, was da passiert. Sie geben vor, sich mit der Wirklichkeit zu befassen, und befassen sich doch mit einer Wirklichkeit, die es nicht mehr gibt, die zerrinnt, verdorrt, weggeschwemmt wird.

In dieser Wirklichkeit muss man seinen Platz finden, metaphorisch und ganz unmittelbar. Der eigene Platz, das Zuhause, der Ort, der Sicherheit gibt – wo kann es ihn noch geben, wenn es überall unsicherer wird?

»Wenn Sie mich vor zehn Jahren gefragt hätten, welche Orte relativ gute Wetten sind für Klimabeständigkeit, hätte ich den pazifischen Nordwesten Amerikas und Westkanada auf jeden Fall auf die Liste genommen«, schrieb Alex Steffen einmal in seinem Newsletter »The Snap Forward« . Vor zehn Jahren wusste man noch nichts von Hitzewellen, 50 Grad, Milliarden toten Meerestieren, zerstörten Dörfern, biblischen Feuern, vergifteter Luft. »Es wäre nicht falsch gewesen, zu sagen, dass Vancouver eine gute Wette ist. Die Chancen waren gut. Aber manchmal verliert man auch aussichtsreiche Wetten.«

Steffen ist Journalist, Autor, Klimakrisentheoretiker, er nennt sich selbst einen Futuristen und er schreibt über das, was er »Ruggedization« nennt, die Abhärtung der Gesellschaft und des Lebens, um den Kern dessen zu bewahren, was vorher da war. Grob könnte man es übersetzen als: Dinge klimarobust machen. Allzu konkret kann er auch nicht erklären, wie das geht, aber zu wissen, welche Frage sich stellt, ist das einer Antwort Ähnlichste, das sich derzeit finden lässt.


»Der Zeitpunkt, nichts und niemanden zurückzulassen, war vor 30 Jahren.«

Alex Steffen


Herr Steffen, wie findet man seinen Platz in dieser Welt?

»Das 21. Jahrhundert wird davon geprägt sein, dass Menschen sich auf den Weg machen«, sagt Steffen. »Das Leben klimarobust zu machen, heißt für viele Menschen konkret: umziehen.« Mal nur vom Haus an der Küste hoch auf den Hügel. Oft genug aber irgendwo anders hin. Nur wohin? »Die meisten Menschen leben nicht in stabilen Verhältnissen. Leider gibt es nicht genug halbwegs klimarobuste Orte. Da ist ein Flaschenhals.«

Man kann es auch so sagen: Rette sich, wer kann. Aber nicht jeder kann. Steffen sagt, ohne Triage werde es nicht gehen. Triage, das Wort haben alle in der Pandemie gelernt, bedeutet, zu entscheiden, was eine Chance hat und was man aufgibt. Oder wen.

Ob ein Platz in der Welt halbwegs sicher ist, hängt von äußeren Faktoren ab, vom Regenfall, den Temperaturen, ob eine Stadt dort liegt, wo Hurricanes häufig durchziehen. Aber es hängt auch stark davon, was für eine Art von Gemeinschaft dort ist. Ob sie gewillt ist, die Realität anzuerkennen, zum Beispiel: Man könne, sagt Steffen, eine Gemeinschaft, die die Gefahr nicht anerkennen will, nicht vorbereiten.

Dann spielen auch andere Dinge eine Rolle. »Jede Hauptstadt, jedes wirtschaftliche und kulturelle Zentrum bietet tendenziell bessere Chancen als andere Städte, selbst wenn die Klimaverhältnisse besser sind. Es gibt Orte wie Manhattan, an denen sich Geld, Macht und Kultur konzentrieren, die werden um fast jeden Preis verteidigt werden.«
Einiges wird verteidigt werden. Anderes nicht. Alles wird sich nicht retten lassen. In Steffens Worten: »Der Zeitpunkt, nichts und niemanden zurückzulassen, war vor 30 Jahren.«

Wie wird diese Gesellschaft nicht verrohen?

Nehmen wir an, man entscheidet sich also für diesen Platz in der Welt, oder das Leben entscheidet das für einen. Man zieht um oder man bleibt. Wie lebt man dann das Leben dort?
Hat man noch Kinder, auch wenn man davon ausgehen muss, dass sie es einmal schwerer haben als man selbst?
Lebt man noch auf den, Achtung, alte Bundesrepublik: wohlverdienten Ruhestand zu? Arbeitet man viel für die Karriere, wenn man jung ist und kraftvoll und ungebunden, oder gerade dann nicht, weil man das Glück besser von der Gegenwart her denkt?

Wie verrechnet man das steigende Risiko von Katastrophen mit dem steigenden Ausmaß von Katastrophen mit der Notwendigkeit, die Zukunft zu planen, weil man nicht nur in den Tag hineinleben kann?

Woher zum Teufel soll ich das denn wissen? Ich bin ja noch nicht einmal sicher, ob ich die richtigen Fragen stelle.

Von denen gibt es Tausende. Diese zum Beispiel: Wenn die Lage immer schlechter wird, selbst im besten Fall, und wenn daran zwar niemand schuldlos ist, aber einige eben schuldiger sind als andere, was dann? Wenn diejenigen, die Existenzangst haben, Rache nehmen an jenen, die mehr Schuld tragen? Oder wenn diejenigen, die schuldiger sind oder einfach nur verdrängen wollen, gewalttätig werden gegen jene, die auf die Lage hinweisen?

Um die Impulskontrolle von Menschen zu testen, wurde einst der Marshmallowtest erfunden. Die Probanden werden vor die Wahl gestellt, ein Marshmallow zu essen oder es sich für eine Weile zu versagen, und dann zwei Marshmallows zu bekommen. So ähnlich stellte man sich hierzulande das alles bisher vor. Ein Marshmallow jetzt oder zwei in Zukunft. Konsum (der sich jetzt auszahlt) oder Investition (die sich später auszahlt). Hedonismus oder Vorsorge.

Die Klimakrise funktioniert allerdings anders. Klimaschutz bedeutet, jetzt das Marshmallow nicht zu essen, um in Zukunft nicht auch noch Brot und Wasser entrissen zu bekommen.

Ein anderer Tag, ein anderer Freund, draußen ist es kalt und grau geworden. Eine andere große Frage: Was macht Dir Hoffnung?

Ehrliche Antwort: nichts. Nichts macht mir Hoffnung darauf, dass wir die notwendige Transformation unser aller Leben schnell genug schaffen, um eine katastrophale Erderhitzung einzudämmen. Ich glaube nicht, dass wir es schaffen, ich glaube also, es wird alles noch viel schlimmer als in der Best-Case-Welt, um die es hier geht.

Ich kenne auch kaum Menschen, die Hoffnung haben.

Nur ist Hoffnungslosigkeit natürlich keine akzeptable politische Haltung, Aufgeben keine Option, Klimakrisenbefassung setzt, wenn schon keine Hoffnung, so doch zumindest eine Hoffnungsfiktion voraus.

Eine Hoffnungsfiktion als innerer Leitfaden ist noch vergleichsweise leicht zu formulieren. Schwieriger wird es, aus einer Hoffnungsfiktion eine politische Erzählung für eine Gesellschaft zu machen, ohne in Verblendung zu enden.

Woran wir bisher glaubten, war dies: dass die Dinge besser werden können und zumeist auch besser werden. Dass man sein Leben planen kann wie einen Marathon, seinen Lebenslauf sorgsam entwerfen, mit Fleiß, Verpflegung und einem Ziel.

Man muss nur einmal durch Leitsätze unserer Gesellschaften blättern, politische, werbliche und künstlerische, floskelhafte und prägnante, ikonische und vergessene, sozialistische und konservative.


The arc of the moral universe is long, but it bends towards justice (Martin Luther King).

Unsere Kinder sollen es einmal besser haben (fast alle Eltern).

Vorwärts! (Sozialdemokratie) 

Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf (Erich Honecker).

We shall overcome (fast alle Singer-/Songwriter).

Schneller, höher, stärker (Olympische Spiele).

Der Schulweg muss wieder in die Zukunft führen (FDP).

Oder, neulich gehört, Hendrik Wüst, NRW-Ministerpräsident, möglicher CDU-Kanzlerkandidat in Zukunft, er gab auf dem Deutschlandtag der Jungen Union, der größten politischen Jugendorganisation Europas, diese Ausrichtung vor: »Nicht links, nicht rechts, sondern nach vorne«.

Selbst Katastrophen wie der Zweite Weltkrieg wurden nur zu Startpunkten einer neuen Epoche der Verbesserung, zur sprichwörtlichen Stunde Null des Wirtschaftswunders und der neuen Bundesrepublik, der europäischen Einigung, der regelbasierten Weltordnung.

Keine Strategie, aber ein Trost

Wenn sich das eigene Glauben und Sehnen ins Jenseits richtet, wenn sich die Erlösung auslagern lässt in eine andere Welt oder Bewusstseinsart, kann man mit Hoffnungslosigkeit im Hier und Jetzt umgehen. Politik aber ist ein durch und durch irdisches Geschäft, die Gestaltung der Gegenwart unter Hinzunahme von Vergangenheit und Zukunft.

Gesellschaften, die den Mangel verwalten mussten, gab und gibt es reichlich. Kollektive, die den sicheren Untergang vor Augen haben, ebenfalls. Aber wie entwirft man in dieser Zwischenwelt ein politisches Programm, das mitreißt und anschiebt, aber dabei trotzdem ungeschönt die Wirklichkeit anerkennt?

Wie orientiert sich eine Gemeinschaft, die weder der Apokalypse entgegensieht noch der goldenen Zukunft, sondern der stetigen Erosion? Alex Steffen hat immerhin ein Wort für diesen Zustand. Transapokalyptisch. Das ist noch kein Umgang damit, aber immerhin ein Begriff.

Auf ihrem lehnenlosen Stuhl wird Carolin Emcke immer ungeduldiger. »In mir regt sich einfach enormer Widerstand gegen jede Wehleidigkeit, die zu Passivität führt. Es war eine Illusion, dass man unbeschwert hätte sein können. Das Beste, das jetzt vorbei zu sein scheint, war doch gar nicht das Beste.« Denn dieses scheinbar Beste hat in die neue transapokalyptische Wirklichkeit geführt und hatte auch sonst so seine Härten.

Stimmt ja, zweifellos. Aber wie findet man jetzt das neue Beste, das sich auch so anfühlt, Frau Emcke?

»Das ist jetzt mal richtig Crunchtime«, sagt sie, wie die Zeit am Ende eines Fußball- oder Basketballspiels, in der es wirklich zählt. »Wir müssen eben die nächsten Jahre als die besten definieren. Es gibt eine brutale Dringlichkeit, gravierende Veränderungen zu gestalten, das kann ja auch inspirieren, dass es jetzt die Möglichkeit gibt, eine Gesellschaft wirklich gerechter, nachhaltiger, lebenswerter, inklusiver zu schaffen. Das kann auch Lust machen.«

Gibt es diese Möglichkeit? Vielleicht, wenn man es so sieht: Die Welt bislang war so weit weg von gut, dass man der guten Gesellschaft näher kommen kann als je zuvor, selbst wenn die Umstände gegen einen arbeiten.

Emcke formuliert es so: »Der Kampf für eine bessere Welt war immer ein Uphill Battle«. Also eine Schlacht, in der die Verteidiger der Ungerechtigkeit sich oben auf dem Berg verschanzt haben. Zweifellos, nur wie geht man damit um, dass der Berg von Jahr für Jahr steiler wird, die Waffen der Gegner besser, die eigenen rostiger?

»In sozialen Kämpfen gibt es auch etwas Sinnstiftendes, etwas Beglückendes, unabhängig davon ob oder wie viel ›Erfolg‹ man hat«, sagt Emcke. Das ist noch keine Garantie für eine neue mindestens ebenso gute Welt. Aber zumindest eine Haltung auf dem Weg dorthin.

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