Sonntag, 18. Dezember 2022

Niemand ist so staatsgläubig und demokratiefestigend wie die Letzte Generation

 TAZ hier  VON ULRIKE HERRMANN

Es war von verquerer Symbolik: Auf die Razzia gegen die Reichsbürger folgte eine Razzia gegen Klimaktivisten der Letzten Generation. Diese Ereigniskette insinuiert, dass von rechts und links Terror gegen den Staat droht. Tatsächlich ist es genau andersherum: Niemand ist so staatsgläubig wie die Letzte Generation. Die Aktivisten wollen die Regierung zwingen, ihre eigenen Gesetze ernst zu nehmen.

Es scheint längst vergessen, aber das letzte Kabinett Merkel hat 2021 ein Klimaschutzgesetz verabschiedet, nach dem Deutschland im Jahr 2045 klimaneutral sein soll. Man muss kein Mathematiker sein, um zu erkennen, dass nur noch 23 Jahre bleiben. Doch noch nicht einmal ein Tempolimit ließ sich durchsetzen.

Besonders erstaunlich agiert die Union: Fraktionschef Friedrich Merz tut jetzt so, als wäre der Klimaschutz eine Zumutung, die eigens von den Grünen erfunden worden wäre, um die unschuldigen Mitbürger zu quälen. Beherzt verdrängt er, dass die Union die Kanzlerin stellte, als das Klimaschutzgesetz verabschiedet wurde. Aber dieser Zynismus fällt vielen nicht auf. Die meisten Politiker und Bürger haben sich längst damit arrangiert, dass Gesetze gelegentlich ein politisches Handeln vortäuschen sollen, das es gar nicht gibt.

Der Letzten Generation wird gern vorgeworfen, dass sie kompromisslose Moralapostel seien, die glaubten, sie hätten die Klimawahrheit gepachtet. Dabei ist es so viel schlichter: Die Aktivisten nehmen nur buchstäblich ernst, was Gesetzeslage ist. Damit aber stellen sie die Politik bloß, was wiederum erklärt, warum viele Politiker seltsam panisch und absurd reagieren.

So diskreditierte Finanzminister Lindner (FDP) in seinem Pod­cast „CL+“ die Aktivistengruppe als „brandgefährlich“, sie könnte die Demokratie relativieren. Das Gegenteil ist jedoch richtig: Die Letzte Generation sieht sich als Retterin der Demokratie. Sie will erreichen, dass demokratisch gewählte Volksvertreter demokratisch erlassene Gesetze umsetzen. Allerdings wählen die Klimaaktivisten einen Weg, der zunächst widersprüchlich erscheint: Sie nutzen illegale Mittel, um den legal beschlossenen Klimaschutz zu erzwingen. Es ist nun einmal ein Fakt, dass man sich nicht auf der Straße festkleben oder verglaste Kunstwerke mit Kartoffelbrei bewerfen darf. Die Klimaaktivisten leugnen auch gar nicht, dass sie Unrecht begehen, und akzeptieren die Strafen. Sie wollen stören, aber nicht schaden. Ihre Botschaft ist friedlich: Sie begehen Gesetzesverstöße, um darauf hinzuweisen, dass täglich Gesetze gebrochen werden – und zwar ausgerechnet durch den Staat.

Diese Botschaft lässt sich jedoch gezielt missverstehen, wie Lindner vorführt. In seinem Podcast wirft er den Klimaaktivisten vor, sie verfolgten ein „geradezu autoritäres Gesellschaftsmodell“. Eine „Gruppe von Eingeweihten“ sage einer Mehrheit, was gut und richtig sei. Das ist eine seltsame Kritik. Man muss nicht „eingeweiht“ sein, um zu wissen, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral sein will. So steht es im Gesetz.

Lindner tut bewusst so, als ­wären die Klimaaktivisten mit den Reichsbürgern gleichzusetzen. Dieser rechtsradikale Trupp verfolgt tatsächlich ein „autoritäres Gesellschaftsmodell“, indem die Existenz der Bundesrepublik geleugnet wird. Zugleich wollte diese kleine „Gruppe von Eingeweihten“ einen Staatsstreich organisieren. Der Bundestag sollte gestürmt und mit Waffengewalt aufgelöst werden. Zudem wurden zwei „Feindeslisten“ gefunden, auf denen Außenministerin Anna­lena Baerbock (Grüne), SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert und Friedrich Merz (CDU) aufgeführt waren.

Die Klimaaktivisten verstoßen gegen Gesetze,
um darauf hinzuweisen,
dass täglich Gesetze gebrochen werden
 – und zwar durch den Staat

Wie harmlos sind dagegen die Klimaaktivisten: Sie haben sich jüngst vor zwei Tiefgaragen festgeklebt, die zu Bundestagsbüros gehören. Nach zwei Stunden konnten die Parkplätze wieder angesteuert werden. Trotzdem fürchtet sich die Politik nicht etwa vor den Reichsbürgern, sondern vor den Klima­akti­vis­ten. Also wurde die Bundestagspolizei entsprechend gewarnt. Niemand informierte sie indes über einen möglichen Angriff der Reichsbürger.

In den Reihen der Reichsbürger befinden sich auch Beamte, Polizisten und Soldaten. Das ist nicht nur gefährlich, sondern auch bizarr, weil sie einen Staat ablehnen, von dem sie zugleich ihr Gehalt oder ihre Pension beziehen.

Aber nicht nur die Reichsbürger sind inkonsequent, auch der Staat selbst ist es – indem er Klimagesetze erlässt, an die er sich dann nicht hält. Die Regierung führt selbst herbei, worauf die Reichsbürger so inniglich hoffen: Der Staat höhlt sich von innen aus, indem er das Recht als Attrappe missbraucht. Diesen Zustand will die Letzte Generation nicht akzeptieren, auch weil es um ihre Zukunft geht. Aber es ist mehr: Sie sind echte Demokraten und glauben an den Staat.


Ulrike Herrmann ist Autorin und Wirtschafts­redakteurin der taz. Ihr neues Buch „Das Ende des Kapitalismus“ ist im September bei KiWi erschienen.

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