Dienstag, 20. Dezember 2022

UN-Weltnaturgipfel: Der Tag, als die Menschheit beschloss, sich selbst zu retten

ZEIT ONLINE    Artikel von Dagny Lüdemann  hier

Erstmals gibt es ein globales Abkommen, um die natürliche Vielfalt der Erde zu bewahren. Es ist keineswegs perfekt. Aber die Chance, den Kollaps des Planeten abzuwenden.

Vielleicht ist heute ein historischer Tag. Das weiß man zwar immer erst hinterher. Als wegweisend lässt sich das Abkommen, das gegen halb vier Uhr am Montagmorgen kanadischer Zeit in Montreal verabschiedet wurde, aber jetzt schon bezeichnen. Dass es überhaupt zustande kam, ist ein kleines Wunder. 

Zwei Wochen lang haben die 196 Staaten, die einst die UN-Konvention zur Biodiversität unterzeichnet haben, in Montreal um die Zukunft der Erde gerungen. Die Öffentlichkeit hat bisher wenig davon mitbekommen. Nicht nur in Deutschland ist noch Katerstimmung nach der Fußball-WM in Katar. Oder gefühlt schon Weihnachten.

Erst war die COP15-Konferenz, die 2020 im chinesischen Kunming hätte stattfinden sollen, wegen der Corona-Pandemie verschoben worden. Dann konnten sich die Delegierten am neuen Austragungsort in Kanada Tage und Nächte lang auf keine Textversion einigen. Noch dazu hielt China weiterhin die Präsidentschaft der Veranstaltung, während Kanada zum Gastgeber wurde. Eine diplomatisch anstrengende Situation für alle Beteiligten. Und nicht zuletzt mussten sich in Kanada Vertreterinnen und Vertreter von Ländern einigen, die außerhalb des Kongresszentrums Krieg gegeneinander führen. Jede Verstimmung hätte das Ende einer gemeinsamen Anstrengung für den Schutz der Natur und ihrer Vielfalt bedeuten können. Gemessen daran sind erstaunlich deutliche Ziele übrig geblieben.

Das beste Naturschutzabkommen, das je zustande gekommen ist

Die Weltgemeinschaft will 30 Prozent der Landflächen und Ozeane des Planeten bis 2030 unter Schutz stellen. 30 Prozent geschädigte Natur sollen renaturiert werden und die Rechte indigener Völker respektiert werden. Junge Menschen gestalten mit, wie die Welt in Zukunft Ressourcen nutzt. Und Industrieländer unterstützen die artenreichen Staaten des globalen Südens ab sofort mit fast dreimal so viel Geld wie bisher. Denn die Landschaften und Meere mit der größten noch lebenden Vielfalt liegen nun einmal in den Tropen Afrikas, Asiens und Südamerikas, auf Inselstaaten im Pazifik oder in der Karibik – in Ländern, die deutlich weniger zur Zerstörung der Natur beigetragen haben als die Industriestaaten, die sich entwickelt nennen.

Wahrscheinlich ist die Einigung von Montreal das beste Naturschutzabkommen, das die Vereinten Nationen jemals zustande gebracht haben. Schon allein, weil es jetzt kommt und nicht später. Das 30/30-Ziel sehen viele Natur- und Umweltorganisationen als würdiges Äquivalent zum 1,5-Grad-Ziel von Paris. Eine verbindliche Zahl, an der sich die Welt orientieren soll.

Der Kollaps der Biosphäre kann verhindert werden

Der Masterplan von Montreal hat dabei einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Pariser Klimaabkommen: Er kommt noch rechtzeitig. Während die Wissenschaft kaum mehr ernsthaft davon ausgeht, dass es gelingen könnte, die Erderwärmung noch auf 1,5 Grad zu begrenzen, hat das Naturabkommen noch eine Chance auf Erfolg.

Das Artensterben, das der Mensch mit intensiver Landwirtschaft, Pestiziden und Dünger, dem Abholzen von Wäldern und der ungebremsten Bebauung einst wilder Flächen beschleunigt, lässt sich stoppen. Der Kollaps der Biosphäre kann abgewendet werden.

Und noch etwas ist anders als beim Klima: Während der gesamten Verhandlungen um den Schutz der globalen Biodiversität gab es weitgehend Konsens über die wissenschaftliche Basis. Niemand zweifelte in Montreal ernsthaft daran, dass die Vielfalt von Leben erhalten bleiben muss. Und sie die Grundlage ist, dass die Erde den Menschen ernährt.

Werden ab sofort systematisch degradierte Landschaften renaturiert, die Meere geschützt, die Überfischung beendet, und Pflanzen nachhaltiger und umweltschonender angebaut, kann eine Zukunft Realität werden, in der wir noch trinkbares Wasser, fruchtbare Böden und saubere Luft haben werden. Eine Zukunft gerade auch für junge Generationen.  

Jetzt müssen die Staaten verbindliche Ziele festlegen

Natürlich kann man jetzt sofort wieder meckern, darüber wüten, was alles nicht erreicht wurde. Wie schwammig das Abkommen ist. Dass Verbindlichkeit fehlt und viele Passagen den Staaten, die sie umsetzen sollen, Raum für Interpretation und damit auch zum Schummeln lassen. 

Das Abkommen hat viele Schwächen: Wissenschaftlerinnen sind sich einig, dass es ein gefährliches Zugeständnis ist, den Staaten der Welt beispielsweise noch bis 2025 Zeit zu geben, die Ursachen von Naturzerstörung auszumachen, um sie dann nach und nach zu beseitigen. Dabei ist seit Langem bekannt, was der Natur schadet. 

Zugleich können Finanzexperten schon jetzt vorrechnen, dass das Geld für nachhaltige Entwicklung im globalen Süden nicht reichen wird, um die Ökobilanz der Erde schnell genug ins Positive umzukehren. Auch wenn man beschlossen hat, ab 2025 heute noch fließende umweltschädliche Subventionen bis 2030 jährlich um 500 Milliarden US-Dollar zu senken. Auch wenn die reichen Ländern den ärmeren bis zum Ende des Jahrzehnts jedes Jahr 30 Milliarden US-Dollar für den Schutz von Arten und Ökosystemen zahlen wollen.

Es ist zudem riskant und nahezu eine Einladung für Greenwashing, privaten Unternehmen, die nachhaltiger wirtschaften und dafür zahlen wollen, keinerlei strenge Auflagen zu machen. Diese Gelegenheit ließen die Delegierten verstreichen, obwohl die Wirtschaft in Montreal selbst teils klare, verbindliche und einheitliche Regeln gefordert hatte. Denn viele Firmen und Investmentfonds haben verstanden, dass nachhaltiges Wirtschaften auf lange Sicht profitabler ist, als für die Schäden an der Umwelt zu bezahlen.

Und schließlich die Schutzgebiete, 30 Prozent der weltweiten Ozeane und Landflächen: Die Einhaltung von Umwelt- und Naturschutz wird auf der Strecke bleiben, wenn sie nicht durchgesetzt wird oder nicht die wertvollsten Ökosysteme geschützt werden – dort, wo die Vielfalt am größten ist. Das 30/30-Ziel darf nicht zu einer Absichtserklärung verkommen, die nur auf dem Papier Bestand hat. Ähnlich erging es in der Vergangenheit zu vielen solcher Vorhaben.

Ein Schriftstück für den Aufbruch

Hätte dieses Naturschutzabkommen also wieder scheitern sollen? Hätten die Staaten, die mehr für den Naturschutz gefordert hatten, den Deal platzen lassen sollen, weil andere nicht mitgezogen wären?

Dieses Abkommen musste geschlossen werden. Unbedingt. Endlich kann die Umsetzung losgehen. Ein Schriftstück allein kann die Welt ohnehin nicht verändern. Am Ende braucht es Millionen von Menschen, die verstehen, dass Naturschutz unser Überleben sichert. Und die selbst etwas verändern.

Die Klimakrise musste sich ein halbes Jahrhundert verschlimmern und deutlich spürbar werden, bis die Weltöffentlichkeit angefangen hat, der Forschung und Klimaschützern zuzuhören. Der Verlust an Biodiversität hat eine ähnlich große Bedrohung – nur fehlt ihr bislang eine Persönlichkeit wie Greta Thunberg. Dabei sind beide Krisen eng verwoben. Nach der enttäuschenden Klimakonferenz im November in Scharm al-Scheich ist es jetzt also der Masterplan von Montreal, der Hoffnung machen kann. Naturschutz ist untrennbar mit dem Kampf gegen die Erderwärmung verbunden: Wächst etwa die Artenvielfalt und Fläche von Wäldern oder Mooren, wird dort auch mehr CO₂ aus der Atmosphäre gespeichert.

Von Montreal aus muss der Aufbruch beginnen. Das Abkommen mag für manche der kleinste gemeinsame Nenner sein. Es hindert jedoch keinen Staat daran, die darin gefassten Naturschutzziele zu übertreffen. Die, die es sich leisten können, müssen sich sogar daran messen lassen. Vielleicht wird dann wahr, was die Staaten jetzt noch als Vision formuliert haben: eine Menschheit, die bis 2050 in Einklang mit der Natur existiert.


Die gesamte Berichterstattung zur UN-Biodiversitätskonferenz 2022 finden Sie auf unserer Themenseite.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen