Donnerstag, 11. Juli 2024

Wie abhängig ist Deutschland von Frankreichs Atomstrom?

 WiWo von Julia Groth  06. Juli 2024  hier

Der Rassemblement National will Frankreich aus dem europäischen Strommarkt herauslösen. Deutschland hätte dann ein Problem – Frankreich aber auch.

Vor einer Woche erhaschten Stromkunden in Deutschland einen Blick auf eine alternative Realität. Der Strompreis schoss während einiger Stunden am Morgen und am Abend in die Höhe, eine Kilowattstunde kostete vorübergehend rund das Zehnfache des Üblichen. Grund war eine technische Panne an der Pariser Strombörse Epex. Dort werden die Stromlieferungen für den jeweiligen Folgetag gehandelt. Normalerweise sind dabei die Märkte von rund zwei Dutzend Ländern in Europa gekoppelt, um den Strompreis zu glätten. Durch die Panne fand eine vorübergehende Entkopplung statt, sodass einige Länder, darunter Deutschland, kurzzeitig auf sich selbst zurückgeworfen waren.

Auf den ersten Blick zeigten die Preisspitzen am Morgen und am Abend, wie die Stromwelt in Deutschland ohne Importe aussähe: teuer. Viele verstanden die Börsenpanne als Zeichen dafür, wie abhängig Deutschland von seinen europäischen Nachbarn ist, vor allem vom Atomstromlieferanten Frankreich.

Brisanz bekommt das Thema durch die Ankündigung des Rassemblement National (RN), Frankreich im Fall eines Wahlsiegs aus dem europäischen Strommarkt herauslösen zu wollen. RN-Parteichef Jordan Bardella erklärte Mitte Juni in einem Interview, er wolle wieder einen „französischen Strompreis“ haben, um die Kosten für französische Verbraucher zu senken.

Müssten sich deutsche Verbraucher also im Fall einer RN-Regierung in Frankreich darauf einstellen, dass es häufiger zu Preisspitzen kommt? 

Eher nicht. Und zwar aus mehreren Gründen.

Eine Hand wäscht die andere

Die Epex-Panne zeigte vor allem, wie gut der integrierte europäische Strommarkt funktioniert. Im- und Exporte sollen den Strompreis harmonisieren und Preisspitzen zu gewissen Zeiten abfedern. Das klappt üblicherweise gut. Auch unter Normalbedingungen ist in Deutschland ein M-förmiges Preismuster zu sehen: Morgens und abends, wenn weniger Sonnenstrom ins Netz eingespeist wird und viele Menschen zu Hause sind und Kaffee kochen oder Wäsche waschen, wird es teurer. Dieses Muster war vergangene Woche durch die Entkopplung nur besonders stark ausgeprägt.

Zugleich kann man aus den Preisspitzen nicht schließen, dass Strom in Deutschland ohne Importe grundsätzlich zu gewissen Zeiten so teuer wäre wie während der Börsenpanne. „Der Markt würde reagieren“, sagt Tobias Federico, Gründer und Chef der Beratung Energy Brainpool. Ohne Importe würde Deutschland wieder mehr Geld in planbare Energiequellen investieren, etwa in Gaskraftwerke, die in Zeiten mit hohem Verbrauch oder besonders wenig Wind- und Sonnenstrom einspringen könnten. Wohlgemerkt: Eine physische Knappheit gab es vergangene Woche nicht. Nur die Panne hatte Folgen für den Preis.

Nun könnte man einwenden, dass Deutschland ohne ausreichend planbare Energiequellen eben doch vom Ausland abhängig ist. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn die Abhängigkeit beruht auf Gegenseitigkeit. Wäre die Epex-Panne im Winter passiert, wäre es wohl für französische Stromkunden teuer geworden. „In Frankreich wird mit Strom geheizt“, sagt Federico. Der Verbrauch steigt dort im Winter deutlich an. Dass der Preis nicht im selben Maße klettert, liegt daran, dass Frankreich dann vermehrt Strom zukauft – etwa aus Deutschland. Auch in den anderen Jahreszeiten gehört Frankreich nicht nur zu Deutschlands Stromlieferanten, sondern genauso zu seinen Kunden. Zur Mittagszeit etwa liefert die Bundesrepublik günstigen Sonnenstrom an den Nachbarn.

Strom: Einzelkämpfer haben es schwer

Der europäische Binnenmarkt soll die Strompreise für alle Beteiligten glätten. Sollte sich Frankreich daraus verabschieden, wäre das für alle von Nachteil – nicht zuletzt für Frankreich selbst. Ob es juristisch überhaupt möglich ist, dass sich ein einzelner Teilnehmer aus dem integrierten Markt zurückzieht, ist unklar. Theoretisch wären aber zwei Szenarien denkbar. Das erste: Frankreich stellt den Stromhandel ein, aber der Strom fließt weiter über die Grenze. Die Netze sind ja da. Der Stromhandel hilft lediglich bei der Preisbildung und dabei, Knappheit und Überschuss preislich auszugleichen. In diesem Fall wären die Effekte wohl minimal.

Das zweite Szenario wäre dramatischer: Frankreich kappt seine Grenzkuppelstellen, die Übergabepunkte der Stromnetze zwischen den Ländern. „Damit würde Frankreich zur Strominsel“, sagt Federico. Es flösse kein französischer Strom mehr zu den Nachbarn. Das wäre nicht nur für Deutschland ein Problem, sondern auch für Italien. Oder für Spanien, das stark an der Wasserkraft hängt, aber immer wieder regenarme Jahre durchmacht. 

Ein Problem wäre dieses Szenario aber auch für Frankreich selbst. In kalten Wintern braucht das Land im Schnitt zehn Gigawatt an zusätzlichen Kraftwerkskapazitäten, um die Nachfrage zu decken. Wo sollen diese Kapazitäten herkommen? „Ohne deutsche Importe würden die Franzosen im Winter frieren“, sagt Federico. Es könnte in Frankreich dann auch häufiger zu Blackouts kommen, etwa, wenn ein großes Kraftwerk ausfällt oder gewartet werden muss und die Nachbarn nicht in die Bresche springen, wie sie es heute tun.

Eine offene Frage ist, welche Kapazitäten aus von Sonne, Wind und Wasser unabhängigen Energiequellen ein Land vorhalten sollte, um im Ernstfall autark zu sein. Dazu gibt es weder von der Bundesregierung noch von anderen europäischen Regierungen klare Aussagen. Plant man langfristig mit Überkapazitäten, um für Notfälle gerüstet zu sein? Oder verlässt man sich auf seine Nachbarn?

Auf lange Sicht dürfte es darauf hinauslaufen, dass jedes Land ein gewisses Kontingent an planbaren Energiequellen hat, glaubt Federico. In Deutschland könnten das Gaskraftwerke sein, die mit grünem Wasserstoff betrieben werden. In Frankreich Atomkraftwerke, in Polen eher Kohlekraftwerke. „Jedes Land hat eine Technologie, die ihr Rückgrat sein wird“, sagt der Energieexperte. Für den Notfall.



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WiWo  hier  09. Juli 2024 | Quelle: dpa

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Frankreichs extremer Rechter sind Stromlieferungen ins europäische Ausland ein Dorn im Auge. Bedeutet das Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen, bei der Rassemblement National (RN) mit Marine Le Pen drittstärkste Kraft wurde, nun ein Aufatmen? Immerhin sehen die Linken die Sache mit dem Ausstieg aus dem europäischen Strommarkt ähnlich. Und mit La France Insoumise hat gerade das neue Linksbündnis gewonnen. Deutschland wäre mit Stromimporten direkt betroffen. Wie hoch sind diese? Und: Ist ein Ausstieg Frankreichs überhaupt realistisch?

Warum will Frankreich aus dem europäischen Strommarkt aussteigen?

Hauptsorge der Menschen in Frankreich und damit wichtigstes Thema in Wahlkämpfen ist derzeit die Kaufkraft. Le Pens Rechtsnationale aber ebenso die Linkspartei La France Insoumise und die Kommunisten fordern daher regelmäßig einen Ausstieg aus dem europäischen Strommarkt und legen den Menschen nahe, Frankreich könne sich mit seinem Atomstrom und einem selber festgelegten Tarif preiswerter versorgen - die Menschen hätten also mehr Geld im Portemonnaie.

Le Pen hatte auch gewettert, die europaweit abgestimmten Strompreise gingen zulasten von Frankreichs Industrie, die mehr bezahlen müsse, weil Deutschland wegen seines Atomausstiegs vor Versorgungsproblemen stehe. Aktuell fordert der Chef des Rassemblement National, Jordan Bardella, für Frankreich eine Ausnahme von den europäischen Regeln zur Festlegung der Energiepreise. Dies würde jedoch nicht bedeuten, dass sich Frankreich von seinen europäischen Partnern abkoppelt.

Kann Frankreich die Stromlieferungen nach Deutschland einstellen?

So einfach kann Frankreich die Stromlieferungen nach Deutschland nicht einstellen. Tatsächlich ist Frankreich nach Einschätzung von Experten, darunter der Präsident des Energiekonzerns Engie, Jean-Pierre Clamadieu, und der Wirtschaftsprofessor an der Universität Paris Dauphine, Patrice Geoffron, auf den ständigen Austausch von Strom im europäischen Netz angewiesen, auch wenn es unter dem Strich mehr exportiert als importiert. Bei einem Ausstieg aus dem europäischen Strommarkt drohten Stromausfälle und Frankreich müsste massiv in zusätzliche Kraftwerke investieren, was den Strompreis in die Höhe treibe, sagen Experten. Außerdem verdient Frankreich mit den Stromexporten tüchtig Geld, es würde also wenig Sinn haben, diese zu kappen.

Eine Ausnahme von den europäischen Regeln zur Festlegung der Energiepreise könnte Frankreich theoretisch mit der EU verhandeln; für Portugal und Spanien gab es so eine Ausnahme während der Energiekrise. Wegen der Bedeutung des europäischen Strommarkts für Frankreich halten Experten sie aber für kontraproduktiv. Stiege Frankreich komplett aus dem europäischen Strommarkt aus, bräche es europäische Verträgen und Abmachungen. Praktisch wäre das eigentlich nur möglich, wenn Frankreich europäische Abmachungen schlicht nicht mehr umsetzt. Dies würde Strafmaßnahmen durch Brüssel nach sich ziehen.

Warum ist der Strom aus Frankreich für Deutschland wichtig?

Deutschland und auch Frankreich sind sogenannte Stromtransitländer innerhalb der EU. Das bedeutet: Es wird fortlaufend Strom importiert und exportiert und damit im Staatenbund dahin weitergereicht, wo er benötigt wird. Der gemeinsame Strommarkt in Europa soll durch die gewollte Zusammenarbeit mit den anderen Ländern ermöglichen, Geld einzusparen und Emissionen zu senken.

Konkrete Zahlen für Deutschland: Den Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) zufolge lieferte Deutschland in diesem Jahr bis zum 8. Juli rund 26,2 Terawattstunden (TWh) Strom an andere europäische Staaten. Andererseits erhielt die Bundesrepublik von ihren Nachbarn 38,3 TWh.

Zum Vergleich: Die öffentliche Nettostromerzeugung in Deutschland (also ohne die Eigenversorgung der Industrie) liegt im selben Zeitraum bei rund 234 TWh.
Davon fallen im Saldo knapp fünf Prozent auf Stromimporte.

Wieviel Strom importiert Deutschland aus Frankreich?

Der Blick auf den Stromaustausch zwischen den Nachbarländern zeigt, dass Deutschland 2024 bisher mehr Strom aus Frankreich importiert als dorthin exportiert hat. Den Fraunhofer-Daten zufolge bekam Deutschland bis zum 8. Juli 8,44 TWh aus Frankreich und lieferte dorthin 1,62 TWh. Das macht Frankreich zu einem der größten, wenn auch nicht dem größten Stromexporteur nach Deutschland im laufenden Jahr. Knapp an der Spitze steht derzeit Dänemark mit 8,6 TWh, die zu uns gekommen sind.

Dass es bei der deutsch-französischen Energiezusammenarbeit auch mal andersherum gehen kann, zeigen Daten, die der Bundestag zitiert: Zwischen Ende November 2022 und Ende November 2023 exportierte Deutschland demnach 14,2 Terawattstunden Strom nach Frankreich und bekam in umgekehrter Richtung 12 Terawattstunden.

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