Ein bemerkenswertes Interview, schon alleine deshalb weil es in der Welt veröffentlicht wurde. Aber natürlich ist gerade der Inhalt bahnbrechend für die Zukunft. Es ist zu hoffen, dass sehr bald umgedacht wird, die Zielführung liegt doch klar vor Augen.
Welt hier Geschichte von Matthias Kamann / Interview mit Verkehrsforscher Andreas Knie 29.7.24
Mehr Autos, aber weniger Autoverkehr – Wohin die Fahrer umsteigen
In Deutschland gibt es immer mehr Autos, aber gefahren wird damit weniger. Verkehrsforscher Andreas Knie erklärt, warum – und stellt klar: Gelernte Autofahrer steigen nicht auf Bus und Bahn um. Zudem rügt er die Prognosen der Regierung. Die zum Schienenverkehr etwa sei „völlig realitätsfremd“.
Verkehrsforscher Andreas Knie, 63, ist Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).
WELT: Herr Knie, laut Kraftfahrt-Bundesamt stieg zwischen 2019 und 2023 die Zahl der Autos in Deutschland um 1,5 Millionen, aber im gleichen Zeitraum sank die gesamte Fahrleistung aller Pkw um fast 37 Milliarden Kilometer. Wie kommt es, dass die Deutschen immer mehr Autos haben und immer weniger damit fahren?
Andreas Knie: Bei solchen Zahlen, die sich mit anderen Untersuchungen decken, ist zunächst zu berücksichtigen, dass nicht „die“ Deutschen mehr Autos haben. Denn knapp 70 Prozent der Pkw-Neuzulassungen entfallen mittlerweile auf den gewerblichen Bereich. Meist sind es Dienstwagen, die wegen ihrer steuerlichen Begünstigung und ihres Werts als Statussymbole längst auch in tieferen Firmen-Hierarchien sehr begehrt sind. Hingegen existiert ein privater Neuwagen-Markt kaum noch.
WELT: Wenn aber somit bei den Dienstwagen die Bedeutung des Autos als Gehaltsbestandteil hoch bleibt – warum sinkt dann seine Bedeutung als Verkehrsmittel?
Knie: Dies liegt unter anderem daran, dass sich seit 2016 die Arbeitsstrukturen der Menschen ändern, was durch die Pandemie noch zusätzlich beschleunigt wurde: Mittlerweile arbeitet durchschnittlich mehr als ein Viertel der Berufstätigen an zweieinhalb Tagen pro Woche nicht in der Firma, sondern zu Hause. Daher gehen die Fahrleistungen zurück, vor allem auf den langen Pendlerwegen, die sich die automobile Gesellschaft gegönnt hat, damit man im Grünen wohnen und anderswo einträglich arbeiten kann. Hinzu kommt der demografische Wandel.
WELT: Inwiefern?
Knie: Werden Menschen älter, fahren sie weniger, als sie dies in jungen Jahren getan haben. Wenn also jetzt die Auto-Boomer in die Jahre kommen, gehen zwangsläufig die Fahrleistungen zurück, weil es mehr ältere und weniger jüngere Menschen gibt. Und viele der Migranten, die derzeit die meisten demografischen Effekte dämpfen, machen dies beim Pkw-Verkehr bislang nicht: Sie haben deutlich weniger Autos und haben oft gar keinen Führerschein.
WELT: Könnte auch ein Bewusstseinswandel „weg vom Auto“ eine Rolle spielen?
Knie: Unsere Befragungen zum Mobilitätsverhalten zeigen tatsächlich, dass einer Mehrheit durchaus klar ist, wie schlecht sich das Autofahren mit dem Klimaschutz verträgt. Rund 60 Prozent sagen, dass sie weniger zu fahren versuchen. Das ist aber keine radikale Absage an das Auto, sondern sorgt zusammen mit den genannten Faktoren vor allem in größeren Städten und Ballungsräumen dafür, dass dort die gesamten Pkw-Fahrleistungen pro Jahr um vier bis fünf Prozent zurückgehen. Wobei das gleichzeitige Wachstum des Pkw-Bestands bedeutet, dass auf den ohnehin knappen Verkehrsflächen noch mehr Parkplätze für Autos benötigt werden, die dummerweise aber nur herumstehen.
WELT: Liegt der Rückgang der Pkw-Fahrleistungen auch am Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), auf den man dann umsteigt?
Knie: Nein. Wer das Auto stehen lässt, nutzt meist das Fahrrad. In Großstädten hat sich der Radverkehr in den vergangenen Jahren verdoppelt, und diese zusätzlichen Radfahrer kommen aus den Autos, nicht aus Bussen oder Bahnen. ÖPNV-Nutzer hingegen steigen kaum aufs Fahrrad um, sondern bleiben dem ÖPNV treu. Während zugleich die Autofahrer nicht auf Busse oder Bahnen umsteigen – weil man bei denen ja an Haltestellen warten, mit anderen Menschen gemeinsam fahren und mittlerweile auch eine Verschlechterung des Angebots ertragen muss. Das wollen gelernte Autofahrer nicht. Sie wollen individuelle Flexibilität, und die finden sie auf dem Fahrrad.
WELT: Der Rückgang der Auto-Gesamtfahrleistung passt schlecht zur sogenannten Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose, die Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) 2023 präsentierte. Demnach sollen die Pkw-Fahrten bis 2051 noch einmal um gut fünf Prozent beziehungsweise drei Milliarden Kilometer zunehmen. Wie kommen Wissings Leute darauf?
Knie: Das Ministerium und seine Beratungsunternehmen unterliegen zwei Zwängen, aus denen sie nicht herauskommen. Der eine Zwang ist der unbedingte Glaube an das Wachstum: mehr Bevölkerung, mehr Wirtschaftsleistung, mehr Arbeit in Büros, mehr Mobilitätsbedürfnisse. Also mehr Verkehr. Besonders krass ist das beim Schienenverkehr: Da wird eine Steigerung um 52 Prozent bis 2051 behauptet. Das ist völlig wirklichkeitsfremd.
Der andere Zwang ist der, dass es zur DNA des Ministeriums zu gehören scheint, seinen Daseinszweck im Neubau von Verkehrswegen zu sehen – die natürlich nur Sinn haben, wenn es mehr Verkehr geben soll. Und wenn wir Wissenschaftler auf gegenläufige Trends wie den kontinuierlichen Rückgang der Pkw-Fahrleistungen verweisen, wird gesagt, das seien vorübergehende Kalamitäten. Man müsse langfristig denken, und man müsse größer denken.
WELT: Laut der Prognose des Ministeriums soll der Fußverkehr bis 2041 um 1,3 Milliarden Kilometer zurückgehen. Dabei stellt das Ministerium selbst fest, dass ältere Menschen sehr viel zu Fuß gehen – sodass man doch in einer alternden Gesellschaft eher einen Anstieg des Fußverkehrs vermuten müsste, oder?
Knie: In der Tat ist die gesamte Wegemenge des Fußverkehrs nach einem explosionsartigen Anstieg während der Pandemie auch jetzt noch sehr hoch, mit 25 bis 28 Prozent aller täglichen Wege. So viel hatten wir seit 40 Jahren nicht mehr. Das widerspricht der offiziellen Prognose eklatant. Ich hoffe sehr, dass sich die Fußverkehrsstrategie der Bundesregierung, die sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet, an den Realitäten statt an jener unrealistischen Prognose orientiert.
WELT: Unrealistisch wirken solche Prognosen auch deshalb, weil der für mehr Verkehr nötige Neubau von Straßen und Schienenwegen Unsummen verschlingen würde: bei der Straße laut aktuellem Bundesverkehrswegeplan 112 Milliarden Euro nur für die besonders dringlichen Projekte, bei der Schiene gar 251 Milliarden. Da dieses Geld niemand hat und gerade die FDP des Verkehrsministers Wissing auf Haushaltsdisziplin achtet: Müsste eine realistische Politik nicht auch die Finanzen bei den Prognosen berücksichtigen?
Knie: Die Politik hält Verkehr für Wasser, das immer mehr wird, weshalb man immer neue und breitere Kanäle mit höherer Fließgeschwindigkeit bauen muss, um alles ordentlich abzuleiten. Das aber funktioniert nicht mehr, weil allein die Erhaltung der bestehenden Strecken nicht mehr zu bezahlen ist. Im Grunde müsste man sagen, dass für die nächsten Jahrzehnte Neubauten gar nicht mehr möglich wären.
Das hätte dann Folgen für die Prognosen, weil weniger Neubau weniger zusätzlichen Verkehr erzeugen würde. Daher könnte es zu einer realistischen Verkehrsprognostik und -planung beitragen, wenn Finanzminister Christian Lindner seinem Parteifreund Wissing mal sagen würde, dass es für Neubauten einfach kein Geld mehr gibt.
WELT: Einen Abschied von Wachstumserwartungen im Verkehr scheint CDU-Chef Friedrich Merz im Sinn zu haben. Er sagte im ARD-Sommerinterview, dass die Deutsche Bahn AG ihr Angebot reduzieren müsse, weil sie das jetzige auf diesem Schienennetz nicht mehr realisieren könne.
Knie: Was Merz gesagt hat, war in der Tat ein bemerkenswerter Tabubruch, der, wenn man ihn differenzierter ausformulieren würde, eine realistischere Verkehrspolitik ermöglichen könnte. Genauso aber wäre der Autoverkehr zu thematisieren: Bei ihm ist ein weiteres Wachstum nicht zu erwarten, es wäre von den bestehenden und reparaturbedürftigen Straßen auch nicht zu verkraften, und man könnte ja schon aus finanziellen Gründen nicht noch mehr Straßen bauen.
Der Autoverkehr ist an der Obergrenze angelangt. Aber es gibt nirgends eine Idee, wie man das Nachdenken darüber moderieren könnte, wie viele Autos wir tatsächlich brauchen. In Singapur und anderen Ländern ist die Zahl der Autos gedeckelt, neue gibt es nur, wenn alte stillgelegt werden.
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