Sonntag, 11. August 2024

Gluthitze durch Versiegelung: "Städte werden immer noch gebaut wie in den 50ern"

  hier  NTV  10.08.2024, 

An heißen Sommertagen heizen sich Straßen, Parkplätze und andere asphaltierte Flächen so stark auf, dass sie zur Gefahr für die Gesundheit werden. 

Die Krankenkassen erfassen mehr Herzerkrankungen, Kreislaufstörungen, Kopfschmerzen und leider auch mehr Hitzetote. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat deswegen 190 deutsche Städte einem Hitze-Check unterzogen und spricht im "Klima-Labor" von ntv ein besorgniserregendes Zeugnis aus: 


"Es werden nach wie vor mehr als 50 Hektar pro Tag versiegelt",

sagt Bundesgeschäftsführerin Barbara Metz

 Beunruhigend ist nicht nur, dass Grünflächen noch immer verschwinden. Viele Städte wissen nicht einmal, wie schlimm das Problem bei ihnen ist. "Das ist ein Unding", sagt Metz. Sie verlangt von der Bundesregierung klare, rechtsverbindliche Vorgaben für die Entsiegelung und schlägt unter anderem vor, Parkplätze von der Innenstadt nach draußen zu verlegen, damit mehr Platz für Bäume bleibt.

ntv.de: Wie groß ist das Problem "Hitze in Städten"?

Barbara Metz: Es ist groß und bekannt. In Deutschland sprechen wir schon lange über zu starke Flächenversiegelung. In der Untersuchung haben wir eine Rote Karte verteilt, wenn der Versiegelungsgrad bei über 50 Prozent liegt. Lag er zwischen 45 und 50 Prozent, gab es eine Gelbe Karte. Alle Städte, die unter dem Schnitt von 45 Prozent lagen, haben eine Grüne Karte bekommen. Das war eine großzügige Beurteilung. Trotzdem mussten wir viele Gelbe und Rote Karten verteilen. Selbst in gelben Städten ist die Versiegelung schon zu weit fortgeschritten und muss sofort beendet werden, weil das Leben in diesen Städten gesundheitsschädlich ist. Die Krankenkassen stellen auch fest, dass Erkrankungen zunehmen, wenn es in den Städten zu heiß wird. Es muss mehr Grün vorhanden sein.

Was genau bedeutet "versiegelt" eigentlich? Sind das ausschließlich Straßen?

Zum Teil. Versiegelung meint alles, was überbaut ist. Das können Straßen sein, aber auch Gebäude und Parkplätze. Der korrekte Begriff sind Verkehrs- und Siedlungsflächen. Alles, wo Wasser nicht mehr versickern kann, in den meisten Fällen also Asphalt oder Beton. Diese Flächen erhitzen sich sehr stark.

Weil die Sonne den ganzen Tag darauf scheint?

Exakt. Für uns Menschen ist die gefühlte Temperatur entscheidend, deswegen wird darüber auch im Wetterbericht gesprochen: Erreicht die Lufttemperatur 30 Grad Celsius, kann sich eine Asphaltfläche auf über 50 Grad erhitzen. Diese Hitze strahlt bis in den Abend oder in die Nacht ab. Deswegen sind Städte deutlich heißer als Wiesen oder Wälder.

Wenn es richtig heiß ist, wo stelle ich mich lieber hin? In die pralle Sonne, unter ein Sonnensegel oder unter einen Baum? Die meisten Leute wählen wahrscheinlich den Baum. Insofern sind Alleen, alter Baumbestand und Parks ganz entscheidend für das Wohlbefinden in unseren Städten. Wir benötigen aber auch Dachbegrünung, Fassadenbegrünungen und Grünflächen, die Schatten bieten.

Die meisten versiegelten Flächen sind entstanden, weil es einen Bedarf gab. Menschen fahren mit dem Auto zur Arbeit, Menschen brauchen ein Wohngebäude zum Leben. Gerade in Städten wie Berlin herrscht große Wohnungsnot, die Mieten steigen. Jetzt Flächen zu entsiegeln, funktioniert doch nicht.

Doch. Wir leben in einer gebauten Umwelt. Gerade in den 50er- und 60er-Jahren, als Deutschland wieder aufgebaut wurde, gab es das Bewusstsein für dieses Problem nicht. Teilweise wird heute immer noch so gebaut. Wir gehen vor, als hätten wir unendlich Flächen zur Verfügung. 

Gerade bezahlbarer Wohnraum kann aber auch im bereits gebauten Haus entstehen. Studien zeigen das Potenzial. Wir fordern auch nicht, dass gar nicht mehr gebaut wird. Aber man kann weniger bauen, flächensparend und überlegen, wo: Baue ich in eine Aue hinein, wo Tiere leben, wo es Buschwerk und viel Grün gibt oder auf eine Fläche, die aus Naturschutzsicht nicht ganz so hochwertig ist oder vielleicht sogar Brachland? 

Und dann muss man an anderer Stelle entsiegeln. Schulhöfe sind ein super Beispiel: In Deutschland gibt es 32.000 Schulen und viele Schulhöfe sind asphaltiert, und zwar komplett. Diese Flächen kann man begrünen. Das wäre eine Win-win-Situation auch für die Kinder.


Hitze-Check der Deutschen Umwelthilfe

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat Flächenversiegelung und Grünvolumen in 190 Städten untersucht. Die Auswertung basiert auf Daten der Potsdamer Luftbild Umwelt Planung GmbH. Städte, die zu mehr als 50 Prozent versiegelt sind, erhalten eine Rote Karte. Liegt die Versiegelung zwischen 45 und 50 Prozent, gibt es eine Gelbe Karte, bei weniger als 45 Prozent eine Grüne Karte.

Das Ergebnis der DUH: 24 Rote Karten, 82 Gelbe Karten und 84 eine Grüne Karten. Besonders schlecht schneiden Ludwigshafen, Heilbronn, Regensburg, Worms, Mainz, Ludwigsburg und Ingolstadt ab. Vergleichsweise wenig versiegelt, sondern grün sind Detmold, Ratingen, Potsdam und Jena.


"Entsiegeln" meint doch aber vor allem auch Straßen und Parkplätze.

Wird eine Straße nicht benötigt, sollte man sie zurückbauen. Das kann ich nicht pauschal beantworten. Jede Stadt muss schauen, wo sie steht. Stellt sie fest, dass entsiegelt werden muss, muss man entscheiden, wo man sinnvoll Grün hinbringen kann. Das können Dächer, Fassaden oder Schulhöfe sein. Weniger Parkplätze sind auch eine gute Idee, um den Individualverkehr und die Zahl der parkenden Autos zu reduzieren. Gerade in Städten wie Berlin gibt es viele Parkmöglichkeiten direkt vor den Wohngebäuden. Warum bietet man nicht stattdessen Parkplätze außerhalb der Städte an? Auch Supermarktparkplätze können teilweise zurückgebaut werden.

In Berlin beschweren sich viele Autofahrer doch aber heute schon, dass sie keinen Parkplatz mehr finden. Wenn Sie die Zahl der Parkplätze reduzieren, treten Sie eine neue Protestwelle los.

Möglicherweise wird es den einen oder anderen stören, aber viele Fahrzeuge werden wenig bewegt und blockieren Parkplätze. Diese Autos können außerhalb geparkt werden und Platz für Menschen freimachen, die auf das Auto angewiesen sind. Diese Entwicklung brauchen wir, aber natürlich nicht ohne entsprechendes Angebot. Man kann den Leuten nicht einfach den Parkplatz wegnehmen. Aber ich bin mir sicher, dass viele Menschen im Alltag weniger Autos und dafür etwas mehr Grün vor der eigenen Haustür schätzen würden. Das erleben wir auch mit unserem Hitze-Check: Das Interesse ist riesengroß, das Thema bewegt die Menschen, weil sie feststellen, wie unangenehm die Situation in den Städten inzwischen ist.

Sie haben es angesprochen, Hitze ist gesundheitsschädlich. Erst recht, wenn sich eine Stadt über mehrere Tage aufheizt. Wurde das auch untersucht?

Ich habe keine konkreten Zahlen, aber wir arbeiten mit den Krankenkassen zusammen. Die stellen fest, dass Herzerkrankungen, Kreislaufstörungen, Kopfschmerzen und psychische Erkrankungen an heißen Tagen stark zunehmen - und natürlich auch die Zahl der Hitzetoten: An heißen Tagen geht die Sterberate hoch. Deswegen sind auch die Krankenkassen für Entsiegelung. Grüne Oasen in der Stadt, in denen man sich in den Schatten setzen kann, senken die Gesundheitskosten. Gerade für ältere Menschen oder für Familien mit kleinen Kindern, die nicht so mobil sind oder aufs Land fahren können.

Sie haben in Ihrer Untersuchung auch das Grünvolumen von Städten betrachtet. Wie definieren Sie denn eine "grüne Oase"?

Das Grünvolumen ist der Kubikmeter auf den Quadratmeter: Wie viel Grün befindet sich auf einem Quadratmeter Raum. Zwei Kubikmeter Grün auf einem Quadratmeter bekommen eine Rote Karte, alles zwischen zwei und vier eine Gelbe und alles über vier eine Grüne.

Rasenflächen schneiden schlecht ab, obwohl sie grün sind.

Genau. Die werden trotzdem als Grünfläche registriert, aber natürlich ist der Baum mit einem großen Volumen und viel Blattgrün als Schattenspender besser geeignet als der Rollrasen.

84 von 190 Städten haben eine Grüne Karte bekommen. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Ergebnis?

Gut, weil es bedeutet, dass nicht alles versiegelt ist. Das wäre besorgniserregend. Es gibt Städte mit genug Grün. 


Das Ranking zeigt aber, dass wir umlenken müssen,
weil nach wie vor mehr als 50 Hektar pro Tag versiegelt werden. Das ist zu viel. 


Das hat auch die Politik erkannt: Bis 2030 soll der Versiegelungsgrad auf 30 Hektar pro Tag reduziert werden. Bis 2050 will die Bundesregierung bei netto Null stehen. Das bildet sich im aktuellen Trend aber nicht ab. Wie will man dieses Ziel ohne Maßnahmen erreichen? Und warum erst so spät? Wie viele Flächen werden bis dahin noch versiegelt? Man muss sich vor Augen führen: Es kostet Geld, diese Flächen später wieder zu entsiegeln; es kostet Geld, die gesundheitlichen Folgen zu bezahlen. Städte, die von uns eine rote oder Gelbe Karte erhalten haben, müssen sofort aufhören zu versiegeln und beginnen zu entsiegeln.

Auf den vordersten Plätzen liegen Detmold, Ratingen, Potsdam und Jena. Was leiten Sie daraus ab? Wird dort eine entsprechende Politik verfolgt? Fordern die Menschen Grünflächen ein?

Man kann es nicht an Parteien festmachen. Egal, wo man hinschaut, es gibt gute und schlechte Beispiele. Die Menschen können vielerorts auch nur wenig ausrichten. 


Bürgerinitiativen können sich gegen
den Bau von etwas einsetzen,
aber nicht gegen Flächenversiegelung.
Es gibt keine rechtsverbindliche Grundlage. 


Das ist unser Kritikpunkt: Auch den Städten muss klar sein, was und wie viel sie versiegeln dürfen. Wir waren selbst überrascht, aber es gab viele Zuschriften von Städten und Gemeinden, die sagen, dass sie jetzt endlich wissen, wo sie stehen. Das ist ein Unding. Diese Daten müssen erhoben und zur Verfügung gestellt werden. Stadtplaner brauchen eine Orientierung, worauf sie achten müssen.

Haben Sie nicht gesagt, die Politik habe das Thema bereits erkannt?

Die Bundesbauministerin hat letzte Woche eine Hitzeschutzstrategie veröffentlicht, in der es ebenfalls heißt: Wir brauchen mehr Grün in unseren Städten. Es gibt auch finanzielle Unterstützung, für die sich Kommunen bei Hitzeschutzmaßnahmen bewerben können. Das ist nicht falsch, aber nur dieser Anreiz wird nicht ausreichen. Es braucht Rechtsverbindlichkeit, damit bei der Planung klar ist: Soundsoviel Grünfläche muss zur Verfügung stehen. Wenn ihr hier versiegelt, muss an anderer Stelle entsiegelt werden.

Das funktioniert? Gerade der Bau beschwert sich schon jetzt über die vielen Auflagen, die zu beachten sind. Deswegen wird auch so gut wie nichts gebaut. Wenn jetzt weitere Vorgaben dazukommen …

Das funktioniert. Unser Baurecht ist völlig überladen und sollte auf jeden Fall überarbeitet werden. Deswegen setzen wir uns auch für das einfache Bauen ein. Ich lasse aber nicht gelten, dass Bürokratie das Argument sein soll, um zu sagen, dass wir leider nicht entsiegeln können.


Mit Barbara Metz sprach Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.


Klima-Labor von ntv

Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Das "Klima-Labor" ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen auf Herz und Nieren prüfen. Ist Deutschland ein Strombettler? Vernichtet die Energiewende Industrie & Arbeitsplätze? Warum erwarten so viele Menschen ihren ökonomischen Abstieg? Warum sind immer die Grünen schuld? Sind Seeadler wirklich wichtiger als Windräder? Kann uns Kernkraft retten?

Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed

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