Auch ich bin geschockt von der Argumentation der Staaten. Das ist unwürdig und Menschen-verachtend. Vor allem nach diesem Sommer der Hitzeextreme im Mittelmeerraum.
Ich wünsche mir eine Regierung die für ihre Menschen da ist und ihre langfristige Verantwortung trägt.
hier die Zeit Von Viola Kiel, Straßburg 27. September 2023
Sie wollen Europa zu mehr Klimaschutz zwingen: Sechs junge Menschen strengen die größte Klimaklage der Welt an. Wie beweist man, dass Regierungen die Zukunft gefährden?Auf die Minute genau, pünktlich um 9.15 Uhr, schellt eine Klingel. Die Anwesenden erheben sich. Mit großer Geste kündigt ein Mitarbeiter die Richterinnen und Richter an. "La cour", ruft er gewichtig, "das Gericht". 17 Menschen in dunklen Roben betreten die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Auf dem Boden, vor dem Oval ihrer Sitzreihe, liegt ein leuchtend blauer Teppich mit den zwölf gelben Sternen der EU. Zwölf, als Symbol für Einheit und Harmonie. Die Gräben, die hier verlaufen, beginnen erst hinter dem Teppich.
Auf der einen Seite des Saals sitzen sechs junge Menschen aus Portugal. Sie sind Kinder, Jugendliche, manche mittlerweile junge Erwachsene. Mariana Duarte Agostinho, die Jüngste, ist gerade einmal elf Jahre alt. Wenn sie 65 Jahre alt sein wird, könnte die Welt 2,5 Grad heißer sein. Wenn sie 88 Jahre alt sein wird, ist das Jahr 2100 erreicht. Das Jahr, bis zu dem die Erderwärmung auf höchstens 1,5 Grad begrenzt worden sein sollte. Und in dem nach derzeitigen Prognosen womöglich die Marke von vier Grad über dem vorindustriellen Niveau überschritten wird. Sie kämpfen für Klimaschutz. Und haben deshalb 32 Staaten des geografischen Europas verklagt.
Auf der anderen Seite des Saals sitzen die Vertreterinnen und Vertreter von 31 dieser Staaten. Es sind mehr als 80 Anwältinnen und Anwälte. Die Klage richtet sich an alle Mitgliedstaaten der EU, außerdem an Norwegen, die Schweiz, die Türkei, Großbritannien und Russland, das allerdings nicht vertreten ist. Auch diese Länder kämpfen: dagegen, dass dieses hohe europäische Gericht die Klage für zulässig erklärt. Und den Nationalstaaten juristisch verbindliche Vorgaben für ihre Klimapolitik macht.
Die Klage ist nicht die einzige Klimaklage, mit der sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aktuell befasst. Aber sie ist die erste transnationale. Und die bislang größte Klimaklage überhaupt. Noch nie wurden so viele Staaten auf einmal verklagt.
Erschöpfte Kinder vor Gericht
Eingereicht haben Mariana Duarte Agostinho, ihre Schwester, ihr Bruder und die drei anderen die Klage im September 2020. Der Anstoß kam schon drei Jahre zuvor: 2017, als verheerende Waldbrände durch Portugal stieben und Menschen auf der Flucht vor den Flammen in ihren Autos verbrannten. Damals bekamen die sechs Kinder und Jugendlichen Angst. Vor all dem, was noch kommen würde.
Seitdem – und das ist noch bevor sich Greta Thunberg zum ersten Mal mit einem "Schulstreik für das Klima"-Schild vor das schwedische Parlament setzte – haben sie auf diesen 27. September 2023 hingearbeitet: auf die öffentliche Anhörung ihrer Klage vor einem der wichtigsten europäischen Gerichte. Und sie haben es geschafft. Sie haben 32 Staaten dazu gezwungen, ihnen zuzuhören und sich vor ihnen zu rechtfertigen. Weil die Staaten ihre Treibhausgasemissionen nicht weit genug senken, um den weltweiten Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Weil sie damit zur Erderhitzung beitragen, die das Leben der Klägerinnen und Kläger beeinflusst und beeinträchtigt. Und weil sie, so die Argumentation der Klage, damit ihrer Pflicht zum Schutz der Menschenrechte nicht gerecht werden.
Wegen der Hitze, sagen sie, litten sie unter Schlafstörungen, Allergien und verstärkten Atemproblemen. Sie fühlten sich eingesperrt, wenn sie ihr Haus nicht verlassen, nicht draußen spielen oder Sport treiben dürften. Sie seien müde und erschöpft.
Die Anhörung dauert mehrere Stunden. Wegen der großen Teilnehmerzahl wird sie in mehrere weitere Räume im Gericht übertragen, für Besucherinnen, beteiligte Interessenvertreter, die Presse. Während eines langen Plädoyers ist Catarina dos Santos Mota, eine der sechs Klägerinnen, gut auf dem Bildschirm zu sehen. Immer wieder fallen ihr beinahe die Augen zu.
"Unser Fall ist ziemlich simpel", sagt Gerry Liston, der für das Global Legal Action Network arbeitet und einer der leitenden Anwälte in dem Verfahren ist. "Er ist auf die Effekte extremer Hitze fokussiert. Und wir legen wirklich überzeugende Beweise für diese Beeinträchtigung vor. Wir sprechen über Hitzewellen, die einen Monat lang dauern oder länger. Temperaturen von 40 Grad Celsius und mehr."
Wer zahlt den Preis für das Versagen?
Juristisch bezieht sich diese Argumentation unter anderem auf mehrere Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention: auf Artikel 2, der das Recht auf Leben festschreibt. Dieses Recht sehen die Klägerinnen und Kläger in Gefahr, wenn in Portugal weitere und womöglich immer zerstörerische Waldbrände drohen. Auf Artikel 8, der ein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sichert, das auch das physische und psychische Wohlbefinden einschließen kann, und auf Artikel 14: das Diskriminierungsverbot. Als junge Menschen seien die Klägerinnen und Kläger von den Folgen der Klimakrise in besonderem Maße betroffen. "Es geht um die Jungen. Es geht um den Preis, den sie zahlen für das Versagen der Staaten, den Klimawandel zu begrenzen", sagt eine der Anwältinnen der Klägerseite während der Anhörung.
Klima-Klage gegen Europa
Und genau hier liegt der Kern des Rechtsstreits: Die Konvention regelt ökologische Fragen nicht. Dieser völkerrechtliche Vertrag ist seit 1953 in Kraft. Er stammt aus einer Zeit, in der die Klimakrise kein Thema war. Die Umwelt wird in der Konvention nicht ausdrücklich erwähnt. Allerdings werden das viele Bereiche nicht, die für die heutige Gesetzgebung eine Rolle spielen.
Vom Gericht selbst heißt es dazu: "Die Konvention entwickelt sich vor allem durch die Interpretation ihrer Bestimmungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte fort. Durch seine Rechtsprechung wird die Konvention zu einem dynamischen Instrument."
Auch in Situationen, "die bei der Verabschiedung der Konvention noch nicht vorhersehbar waren". Etwa wenn es um die Frage nach Adoptionsrechten für Homosexuelle geht, um die Frage nach Sterbehilfe oder nach einem Kopftuch in der Schule.
"Dieser Fall ist potenziell sehr wichtig", sagt Annalisa Savaresi, Professorin für Umweltrecht an der University of Stirling, auf Anfrage von ZEIT ONLINE. "Er fordert den Gerichtshof auf, seine gefestigte Umweltrechtsprechung zu überdenken und sie auf klimabedingte Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte anzuwenden."
Nicht zulässig, fordern die beklagten Staaten
Die Haltung der Beklagten, der 32 Staaten, dazu ist wenig überraschend: "Das Rahmenwerk der Konvention kann nicht so weit gedehnt werden", sagt einer der Anwälte. Und fordert die Ablehnung der Klage.
Die Argumentation der 32 Staaten zielt vor allem darauf, die Klage als nicht zulässig abzuweisen. Nicht nur, weil die Menschenrechtskonvention diesen Bereich nicht abdeckt. Sondern auch, weil der Opferstatus der Klägerinnen und Kläger nicht klar sei: Immerhin seien weder sie selbst noch ihre Familien während der Waldbrände gestorben oder schwer zu Schaden gekommen. Die Betroffenheit lasse sich nicht beweisen.
Außerdem hätten sich die sechs an nationale Gerichte wenden müssen. In jedem Staat gebe es verfügbare und adäquate Gerichtsmöglichkeiten, trug eine Anwältin vor. Dass es zu lange dauern würde, 32 Staaten einzeln zu verklagen, zähle nicht als Argument – schließlich hätten sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ja dazu entschieden, 32 Staaten verklagen zu wollen.
Der Klimawandel, sagt ein anderer, sei eine globale Herausforderung, aber auch eine diffuse Gefahr. Seine Folgen für das Leben der Klägerinnen und Kläger seien unspezifisch und stellten außerdem keine wirklich ernsthafte Beeinträchtigung dar.
"Ihr Hauptargument ist, dass es wirklich nicht die Aufgabe des Gerichts ist, ihnen zu sagen, was sie zu tun haben", sagte Liston, Anwalt der Klägerseite, im Vorfeld. "Aber unser Argument ist: Wenn jeder Staat einfach so weitermacht, bewegen wir uns weiter auf eine globale Erwärmung von mehr als drei Grad zu. Was katastrophal ist." Und auch während der Anhörung argumentiert die Klägerseite: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sei sehr wohl der richtige Ort, um diesen Streit auszuführen. Portugal allein könne die Rechte der sechs jungen Leute nicht beschützen. Treibhausgasemissionen hielten keine Landesgrenzen ein.
Schon jetzt ein Erfolg
Unabhängig davon, wie das Gericht entscheiden wird, ist dieser Fall ein Erfolg für die Klägerinnen und Kläger und ihr Anliegen. Weil sie überhaupt so weit gekommen sind.
Nur wie sie entschieden werden wird, lässt sich nach der Anhörung nicht sagen. Zwar ist man schnell versucht, ein Lächeln der Vorsitzenden Richterin als Zustimmung zu interpretieren, die nüchterne Nachfrage eines Richters als Ablehnung. "Die Richterinnen und Richter am EGMR lassen sich nicht in die Karten gucken. Niemand weiß, was man da erwarten kann", sagt der Jurist Felix Ekardt am Telefon. "Falls der EGMR die Klage nicht komplett abweist, wird er nichts zu konkreten Maßnahmen sagen. Er wird etwas zum Ambitionsniveau des Klimaschutzes sagen. Und auch das wird er nicht im Detail vorgeben, sondern Rahmenbedingungen setzen."
Wird in einem Urteil eine Konventionsverletzung festgestellt, sind die betroffenen Mitgliedstaaten rechtlich gebunden, dieses Urteil umzusetzen. Und wenn sie es nicht machen? Kann die nächste Klage folgen. Man dürfe nur nicht vergessen: Gerichte sind nicht Teil der Exekutive. "Der EGMR wird jetzt nicht die Klimapolitik rocken. Es ist auch nicht Aufgabe des Gerichts, die Klimapolitik zu übernehmen", fasst Ekardt seinen Punkt zusammen.
"Ich bin geschockt"
Mittlerweile ist es halb fünf am Nachmittag. Die Sonne brennt auf den Vorplatz des Gerichts, auf den Beton, auf das Glas des Neunzigerjahrebaus. Pressekonferenz der Kläger. "Es ist traurig", sagt Cláudia Duarte Agostinho. "Ich bin geschockt, dass die Staaten versuchen, die Beweise wegzuwischen", trägt André dos Santos Oliveira sein Statement vor. "Wir bleiben hoffnungsvoll", sagt der Anwalt Gerry Linton.
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