Sonntag, 31. Dezember 2023

Damit der Strom fließt

Süddeutsche Zeitung hier 28. Dezember 2023 - Von Saskia Aleythe, Tobias Bug, Christoph von Eichhorn, Christina Kunkel, Björn Finke, Helmut Martin-Jung und Nakissa Salavati

Kann das klappen – ein Stromsystem ohne Ausfälle, wenn mit der Kohle Schluss ist? Besuche an Orten, wo sich die Zukunft der Versorgung entscheidet.

Am Horizont drehen sich die Windräder, weit draußen vor der Küste Rügens. Bei gutem Wetter sind sie von den Kreidefelsen am Kap Arkona aus sichtbar, kleine Schatten reihen sich aneinander. Um mehr zu erkennen, muss man per Schiff näher an den Windpark mit seinen 27 Rädern heran: An den Rotorblättern leuchten rote Spitzen, die Ostseewellen schwappen gegen gelbe Stützpfeiler. Manfred Dittmer war schon oft da draußen. Er ist Deutschlandchef der belgischen Firma Parkwind, die den Windpark namens Arcadis Ost 1 betreibt. Nach zweieinhalb Jahren Bauzeit ist der Park Anfang Dezember ans Netz gegangen. „Ein besonderer Tag“, sagt Dittmer.

Besonders auch, weil sich hier die Zukunft der deutschen Energieversorgung mitentscheidet:

Schon heute kann der Windpark bis zu 290 000 Haushalte versorgen, über eine Leitung bis nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern wird der Strom ins Übertragungsnetz eingespeist und verteilt. Aktuell liegt die installierte Leistung der deutschen Offshore-Windparks in Ost- und Nordsee bei 8,6 Gigawatt, bis 2030 sollen es nach den Plänen der Bundesregierung 30 Gigawatt sein. „Das ist ambitioniert“, sagt Manfred Dittmer, es bleiben gerade noch sechs Jahre Zeit.

Sechs Jahre Zeit, nicht nur um die Windkraft auszubauen, sondern auch um das System der Stromversorgung auf den Kopf zu stellen. 2030 soll Strom zu mindestens 80 Prozent aus erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne stammen, mit der Kohlekraft soll dann Schluss sein. Es ist der Abschied von einem System, das beständig und gleichmäßig Strom liefert, egal wann. Und es ist der Beginn eines Systems, in dem Strom manchmal im Überschuss vorhanden ist, manchmal wiederum nur wenig. Trotzdem muss er immer und stabil verfügbar sein. Wie das ohne Ausfälle klappen kann? Dazu muss im Hintergrund vieles zusammenwirken: Erzeugungsanlagen wie vor Rügen, Speicher und Netze. Eine einigermaßen genaue Beschreibung dessen, was auf dem Weg zur fossilfreien Energieerzeugung zu tun ist und wann, gibt es bisher nicht. Nur ein Entwurf der Regierungskoalition liegt vor. Und es gibt Ideen und Menschen, die sie bereits umsetzen. Ein Besuch.

An diesem regnerischen Morgen heben die Kurven auf dem Bildschirm langsam ab. Die Menschen kochen Kaffee, die Fabriken laufen an, der Stromverbrauch steigt. All das sieht man auf dem großen Bildschirm in der Hauptschaltleitung des Übertragungsnetzbetreibers Transnet BW im schwäbischen Wendlingen. Hier sitzen die Hüter des Systems, Menschen wie Markus Fürst. „Wir müssen erkennen, wann und wo das Netz an seine technischen Grenzen gelangt“, sagt er. Fürst ist in Wendlingen dafür verantwortlich, dass die Balance stimmt: Stromerzeugung und Verbrauch müssen im Gleichgewicht bleiben. Er blickt auf den Bildschirm, der auch alle Hochspannungsleitungen und Kraftwerke im Südwesten Deutschlands anzeigt. Wie viel Strom kann das Netz transportieren? Wie stark muss man eingreifen? Wer hier unaufmerksam ist, riskiert, dass das Netz kollabiert.

An seine Grenzen kommt das Netz schon jetzt immer wieder. Dann leuchtet die App von Transnet BW rot auf und bittet die Bürger im Süden, weniger Strom zu verbrauchen. Das ist ausgerechnet dann der Fall, wenn es zum Beispiel vor Rügen sehr stark windet und das Netz den Strom nicht aufnehmen kann. Um das Gleichgewicht zu halten, werden Windräder abgeschaltet, im Süden Kohlekraftwerke angeschaltet. Eine absurde Situation: Der billige, klimafreundliche Strom bleibt ungenutzt, der teure, klimaschädliche wird extra erzeugt.

Fürst sagt: „Wir betreiben das Netz heute regelmäßig an seiner Belastungsgrenze.“ Mit jeder weiteren Abschaltung von Großkraftwerken verschärfe sich die Lage. „Da hilft nur: Leitungen und zusätzlich Kraftwerke bauen, die perspektivisch Wasserstoff nutzen können und dann einspringen, wenn Sonne und Wind nicht verfügbar sind.“ Wobei Deutschland an dunklen Tagen nicht allein dasteht: Elektrisch ist Europa vereint, Übertragungsnetzbetreiber wie in Wendlingen sorgen dafür, dass der Strom dorthin gelangt, wo er gerade gebraucht wird, ein ständiger Import und Export, ein Geben und Nehmen.

Das elektrische Europa aber ist darauf angewiesen, dass jedes Land sein System stabil hält. Das ist bislang in Deutschland möglich, weil die Kraftwerke beständig 50 Hertz Grundlast liefern, eine gleichmäßige Belastung des Stromnetzes, ebenjene Stabilität. In Zukunft wird das schwieriger: Wird es über einem großen Solarpark dunkel, ist von jetzt auf gleich die Leistung weg. An einer Lösung, diesen plötzlichen Leistungsabfall abzupuffern, wird anderthalb Autostunden von Wendlingen gebaut.

Aus der Ferne wirken die Hallen wie aus Lego gebaut, grau, gelb, türkis, allerdings alles 15 Fußballfelder groß beim Konverter Philippsburg, auch „Ultranet“ genannt. Was hier entsteht, sei im Grunde „wie ein großes Handyladegerät“, sagt Norman Weber von Transnet BW, der das Projekt koordiniert. Das mit dem Handyladegerät meint er so: Aus der normalen Steckdose kommt Wechselstrom, der 50-mal pro Sekunde die Fließrichtung ändert. Das Ladegerät wandelt ihn in Gleichstrom um, den das Handy benötigt. Der Konverter arbeitet nach dem gleichen Prinzip, nur wandelt er Gleichstrom in Wechselstrom um und speist diesen ins Stromnetz ein.

Die Dimensionen sind selbst für Elektrotechniker neu: Zwei Gigawatt sollen hier mal ankommen, die Leistung von zwei großen Kernreaktoren. Deshalb darf später auch kein Mensch mehr in die Nähe der Umwandler, dort sind die Spannungen zu hoch.

Konverter wie Ultranet sind für die Energiewende zentral, weil sie den Strom so ins System bringen wie früher konventionelle Kraftwerke, und zwar zu immer gleicher Belastung. Ein Konverter ist quasi ein Super-Stabilisierer. Um den Windstrom von der Küste in die Industriezentren des Südens zu bringen, lässt der Bund Hunderte Kilometer lange Gleichstrom-Leitungen quer durchs Land bauen. Allerdings sind von 348 geplanten Kilometern von Philippsburg bis zur Umspannanlage in Osterath bei Düsseldorf erst 28 Kilometer im Bau.

Zwischen den Ortschaften Altbach und Deizisau bei Stuttgart verfeuert der Kraftwerksbetreiber EnBW seit Jahrzehnten Steinkohle, um Strom und Fernwärme an Haushalte und Industrie zu leiten. Steinkohle wirkt bereits im Jahr 2023 wie eine ganz alte Welt. Bald soll hier deswegen eine neue beginnen: Auf dem Areal direkt am Neckar entsteht ein Kraftwerk, das perspektivisch aus grünem Wasserstoff grünen Strom produzieren soll. Weil es aber Wasserstoff noch nicht ausreichend gibt, rüstet EnBW erst mal auf Erdgas um.

Diana van der Bergh steht mit Warnweste und Helm zwischen den zwei alten Kraftwerksbauten. Die Ingenieurin ist bei EnBW mit dafür zuständig, den Wandel zu bewältigen. „Der Umbau im laufenden Betrieb ist eine Herausforderung“, sagt sie. Ihr Plan ist, in drei Jahren die Kohleblöcke nach und nach abzuschalten und gleichzeitig die Erdgasverfeuerung hochzufahren.

600 Millionen Euro kostet der Umbau am Kraftwerk Altbach-Deizisau, 100 Millionen Euro davon finanziert der Bund. Schon nach der Umrüstung auf Erdgas sollen die CO₂-Emissionen des Kraftwerks um etwa 60 Prozent sinken, mit grünem Wasserstoff soll der Betrieb dann von Mitte der 2030er-Jahre an klimaneutral sein. „Die hier angeschlossenen Gasleitungen sind schon 100 Prozent wasserstofftauglich“, sagt Projektleiterin van den Bergh.

Gaskraftwerke können flexibel hoch- und heruntergefahren werden und damit Schwankungen bei Wind- und Solarstrom ausgleichen. Für die Systemstabilität hätten die Wasserstoffkraftwerke eine große Bedeutung, weil auch sie wie konventionelle Kraftwerke permanent zur selben Belastung Strom liefern können.

Altbach-Deizisau ist erst der Anfang, auch andere Standorte rüstet EnBW um. Allerdings läuft die aktuelle Förderung Ende 2026 aus, die Finanzierung neuer Kraftwerke ist unklar. Betreiber fordern daher, dass der Bund eine langfristige Kraftwerkstrategie vorlegt, die auch klärt, wer den großen Systemumbau eigentlich bezahlt.

Die Pumpe ist so groß, dass sie auf einem Sattelschlepper montiert werden muss, 40 Stunden lang saugt sie Erdgas aus einem Pipeline-Abschnitt heraus und leitet es in eine andere Pipeline um. Denn auch hier in Emsbüren, im südlichen Niedersachsen, brauchen sie Platz für etwas Neues: Durch die geleerte Röhre will der Gasnetzbetreiber Open Grid Europe (OGE) schon in anderthalb Jahren Wasserstoff transportieren, vielleicht auch einmal ins Kraftwerk bei Stuttgart.

Insgesamt soll in Deutschland bis 2032 ein 9700 Kilometer langes Kernnetz für klimafreundlich erzeugten Wasserstoff entstehen. Dieser grüne Wasserstoff soll Erdgas, Kohle und Öl in der Industrie ersetzen – und in Kraftwerken. Dafür müssen diese an das künftige Pipeline-Netz für das grüne Wundermolekül angebunden sein.

Der Wasserstoff, den die Kraftwerke verfeuern sollen, ist aber nur dann klimafreundlich, wenn er vorher mithilfe von Ökostrom in Elektrolyseuren gewonnen wurde. In diesen Anlagen spaltet Elektrizität Wasser in Wasser- und Sauerstoff auf. Deutschlands größter Stromproduzent RWE will im kommenden Frühjahr nördlich von Emsbüren einen Elektrolyseur in Betrieb nehmen. Die Energie dafür liefern Windparks wie der vor Rügen, der Wasserstoff würde über OGEs Rohre weitertransportiert. RWE plant aber nicht nur die Herstellung, sondern auch die Speicherung von Wasserstoff; südlich von Emsbüren will der Dax-Konzern einen unterirdischen Speicher schaffen. Der Energieträger übernimmt dann die Rolle von Batterien oder anderen Großspeichern und würde erst wieder umgewandelt, wenn im System Strom fehlt.

Rund 50 E-Autos werden es gerade mal sein, wenn das Projekt richtig läuft. Eine kleine Flotte, aber eine, die zeigen soll: Auch im großen Maßstab könnten E-Autos ein großer Schatz sein. Millionen dezentraler, kleiner Speicher, die das Stromnetz stabil halten, so die Idee. Mehrere Firmen, der Autohersteller BMW etwa, die Netzbetreiber Bayernwerk Netz und Tennet sowie der Energieanbieter Eon, erproben in einem Münchner Projekt das sogenannte bidirektionale Laden. Das bedeutet: Die Batterie eines E-Autos lädt nicht nur, sie gibt auch Strom ab, wenn er gerade woanders benötigt wird. Schließlich steht ein Auto im Schnitt 23 Stunden am Tag.

Autofahrer nähmen so direkt an der Energiewende teil – und könnten im besten Fall daran verdienen, wenn sie den Strom aus ihrem Auto verkaufen. Aktuelle Berechnungen gehen davon aus, dass mit den Speichern in E-Autos im Jahr 2030 die Flexibilität von bis zu 20 Großkraftwerken ersetzt werden kann. „Technisch ist das alles machbar“, sagt Axel Kießling von Tennet. Allerdings sind die Tests noch klein und viele Fragen ungeklärt: Es braucht Geräte, die das bidirektionale Laden unterstützen– vom Auto über die Wallbox bis zum intelligenten Stromzähler. Stromanbieter, Netzbetreiber und das Auto müssten Daten austauschen – und es müsste sich finanziell für die Verbraucher lohnen. Gelänge all das, könne bidirektionales Laden in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts einen spürbaren Beitrag zur Stabilisierung des Stromnetzes leisten, meint Kießling.

Intelligente Stromzähler wären nicht nur notwendig, um E-Autos als Batteriespeicher zu nutzen. Sie sollen in Zukunft auch die Basis dafür sein, dass Haushalte Strom sehr viel flexibler verbrauchen. Wärmepumpe und E-Auto würden dann Energie ziehen, wenn sie gerade günstig ist, weil vor Rügen viel Wind weht. An dunklen und windstillen Tagen hingegen beziehen Menschen gespeicherten Strom oder reduzieren ihren Verbrauch. All das, eine Vision. Aber keine allzu ferne.

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