Warum nur musste ich beim Lesen an unsere Bürgerbeteiligung "Salem Mitte" denken?
Bürgerbeteiligung als reine Beschäftigungsmaßnahme - ohne Aussicht auf Umsetzung, wer braucht das?
Bisschen mehr Ernsthaftigkeit kann man schon erwarten.
BR hier Maximilian Heim BR24 im Radio am 28.01.2025
Der Bürgerrat "Ernährung im Wandel" galt als Erfolg – aber seine Forderungen sind bisher weitgehend verpufft. Was plant die neue Bundesregierung aus Union und SPD bei solchen Formaten? Und welche Rolle spielen Bürgerräte auf kommunaler Ebene?
Für den Soziologen Steffen Mau sind Bürgerräte idealerweise eine "Belebung der politischen Kultur", der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor sprach dagegen zuletzt von einem "missglückten Experiment". Die Idee dahinter: Eine zufällig ausgeloste Gruppe Menschen diskutiert ein Thema – und legt ihre Empfehlungen dem zuständigen politischen Gremium vor. Das soll die repräsentative Demokratie um mehr direkte Bürgerbeteiligung erweitern und Demokratieverdrossenheit lindern.
Die Ampel-Regierung wollte Bürgerräte auch auf Bundesebene etablieren. In der wegen der vorgezogenen Neuwahl kürzeren Legislaturperiode blieb es allerdings bei einem Bürgerrat – mit 160 Teilnehmenden zum Thema Ernährung. Dessen Kernforderungen (externer Link) Anfang 2024: ein kostenloses gesundes Mittagessen für alle Schulkinder, eine Altersgrenze für Energydrinks, Zucker soll nicht mehr als steuerlich begünstigtes Grundnahrungsmittel gelten.
Was macht Schwarz-Rot in Sachen Bürgerräte?
Das Problem: Bundesweit umgesetzt wurden die Vorschläge von der Ampel-Koalition nicht. Auch im Koalitionsvertrag von Union und SPD, die höchstwahrscheinlich die kommende Bundesregierung stellen werden, fehlen die Empfehlungen des Bürgerrats. Die Verbraucherorganisation foodwatch spricht von einer "bitteren Enttäuschung". Teilnehmende des Bürgerrats zeigten sich ebenfalls unzufrieden, dass ihre Empfehlungen bislang verpufft sind.
Offen ist, ob der neue Bundestag weitere Bürgerräte einsetzen wird. Die Union will zunächst die Arbeit des Ernährungs-Bürgerrats evaluieren. Im schwarz-roten Koalitionsvertrag heißt es lediglich allgemein: "Ergänzend zur repräsentativen Demokratie setzen wir dialogische Beteiligungsformate wie zivilgesellschaftliche Bürgerräte des Deutschen Bundestages fort." Ob es zu einem Bürgerrat zur Corona-Aufarbeitung kommt, was die SPD will? Unklar.
Immer mehr Bürgerräte – vor allem auf kommunaler Ebene
Insgesamt erfreuen sich Bürgerräte wachsender Beliebtheit. Im vergangenen Jahr 2024 gab es bundesweit laut dem Verein "Mehr Demokratie" 51 Bürgerräte – so viele wie noch nie. Die meisten davon fanden demnach auf kommunaler Ebene statt, also in einer Stadt oder Gemeinde. Die häufigsten Themen: Klima, Verkehr und Stadtplanung.
Laut dem Bürgerrat-Experten Daniel Oppold eignet sich das Format für streitbare, konkrete und klar begrenzte Themen. "Wir haben viel zu wenig Möglichkeiten, uns außerhalb der viel beschworenen Bubbles mit anderen Leuten argumentativ auszutauschen und gemeinsam nach den besten Argumenten zu suchen", sagte Oppold zuletzt BR24. Um Frust zu vermeiden, müsse man aber immer vorab klären, was ein Bürgerrat leisten könne – bisher kann er "nur" Empfehlungen formulieren.
Eine "dritte Kammer" neben Bundestag und Bundesrat?
Der Soziologe Steffen Mau schlägt in seinem Buch "Ungleich vereint" vor: Bürgerräte sollen auch (mit)entscheiden dürfen. Denkbar wäre eine "dritte Kammer, in der Angehörige des Bundestags (25 Prozent), Mitglieder des Bundesrates (25 Prozent) und durch Losverfahren bestimmte Bürger (50 Prozent) Entscheidungen zu grundlegenden und weit über eine Legislaturperiode hinausreichenden Fragen erarbeiten (wie Energieversorgung, soziales Pflichtjahr oder Klimatransformation)".
Warnungen vor "Politiksimulation" und Verdrossenheit
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Bürgerrate gleichzeitig Chance und Risiko sind. Die Hoffnung: Andere Menschen als sonst engagieren sich politisch, auch mehr Jüngere. Gemeinsam bearbeiten sie Themen, die im politischen Alltag oft zu kurz kommen – weil etwa viele Klimaschutz-Aspekte zeitlich weit über die Amtsperiode eines Parlaments oder eines Gemeinderats hinausgehen.
Das Ganze könne aber zur "Politiksimulation" verkommen, warnt die Politikwissenschaftlerin Miriam Hartlapp von der Freien Universität Berlin. Ein Bürgerrat könne zwar Politikverdrossenheit abbauen und eine "positive Demokratieerfahrung für Teilnehmer und Beobachter" haben, betont sie. "Doch wenn nichts Konkretes folgt, können Bürgerinnen und Bürger hinterher umso enttäuschter sein."
Mit Informationen von KNA und epd
hier von 11. April 2025, MDR AKTUELL
Neue Bundesregierung: Koalitionsvertrag fordert neue Bürgerräte, aber ignoriert den alten
Union und SPD wollen offenbar weitere Bürgerräte einsetzen. Laut Wahlprogramm der Sozialdemokraten könnte es einen zur Corona-Pandemie geben. Aber bislang wurden nicht einmal die Vorschläge des ersten Bürgerrates des Bundestages zur Ernährung umgesetzt.
- Neuer Bürgerrat: Corona-Pandemie mögliches Thema
- Erster Bürgerrat zur Ernährung ignoriert
Empfehlungen haben es nicht in Entwurf des Koalitionsvertrags geschafft - Folge: Warnung vor mehr Politikverdrossenheit
In Deutschland könnten auch zukünftig wieder Bürgerräte einberufen werden. Im am Mittwoch veröffentlichten Entwurf des Koalitionsvertrages einigten sich Union und SPD darauf, "dialogische Beteiligungsformate wie zivilgesellschaftliche Bürgerräte des Deutschen Bundestages" fortsetzen zu wollen. Dieser Satz überrascht, denn von Seiten der Union hat es für das Prestige-Projekt der Ampel-Regierung nur wenig Sympathie gegeben.
So hatte noch im Dezember 2024 der CDU-Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor stellvertretend für seine Fraktion von einem "missglückten Experiment" gesprochen. Das war als die Einsetzung eines zweiten Bürgerrates in der vergangenen Legislaturperiode scheiterte. Damit sei der Empfehlung der Union, es bei nur einem Bürgerrat zu belassen, Folge geleistet worden, so Amthor.
Neuer Bürgerrat: Corona-Pandemie mögliches Thema
Es scheint, als ob die Sozialdemokraten also mit den Bürgerräten einen Verhandlungserfolg erzielt haben. Sie SPD hatte sich auch in ihrem Wahlprogramm für die Fortführung des Beteiligungsgremiums ausgesprochen. Dabei hatten die Genossen auch schon ein konkretes Thema im Auge: die Corona-Pandemie. Dabei gehe es vor allem darum, auf eine künftige Pandemie besser vorbereitet zu sein.
Thematisch also ein ganz anderer Schwerpunkt als der erste Bürgerrat, der unter dem Titel "Ernährung im Wandel" im Februar 2023 an den Start ging. Dafür waren in einem Zufallsverfahren 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ermittelt worden. Im Februar 2024 legte der Bürgerrat dann nach drei Sitzungen in Präsenz sowie sechs virtuellen Treffen seine Empfehlungen vor. Davon machte besonders eine die Runde: So sprach sich das Gremium für ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder in Schulen und Kitas aus. Bund und Länder sollten dies gemeinsam finanzieren.
Hinzu kamen noch weitere Empfehlungen: ein staatliches Label auf gesunde Lebensmittel im Handel, eine Verpflichtung der Supermärkte zur Zusammenarbeit mit den Tafeln sowie mehr Ernährungsbildung schon an den Schulen. Auch eine Altersgrenze für stark zucker- und koffeinhaltige Energydrinks zählte dazu. Von Ernährungsexperten und auch manchen politischen Akteuren wurde dieser Bericht als Erfolg wahrgenommen.
Schnell trat allerdings Ernüchterung ein: Denn schon die kurz darauf im April veröffentlichte Ernährungsstrategie des grün-geführten Bundesernährungsministeriums blieb aus Sicht vieler Interessenvertreter hinter den Empfehlungen des Bürgerrats zurück.
Empfehlungen haben es nicht in Entwurf des Koalitionsvertrags geschafft
Noch deutlicher ist die Missachtung der Beschlüsse des Bürgerrats zur Ernährung nun im Koalitionsvertrag ausgefallen. Praktisch keine der zentralen Empfehlungen hat es in das Papier geschafft. Zielsetzungen zur Verringerung der Lebensmittelverschwendung und Förderung der gesunden Ernährung für Kinder und Jugendliche sind eher oberflächlich gehalten.
Quedlinburgerin berichtet von ihren Erfahrungen im Bürgerrat hier
"Für all die engagierten Menschen aus dem Bürgerrat Ernährung muss dieser Koalitionsvertrag [...] eine bittere Enttäuschung sein",
bilanzierte auch der Geschäftsführer der Verbraucherorganisation Foodwatch, Christian Methmann.
Folge: Warnung vor mehr Politikverdrossenheit
Die Empfehlungen des Bürgerrats Ernährung scheinen also derzeit politisch tot zu sein.
Für die zukünftige Planung entsprechender Gremien ist das schon deshalb nicht unerheblich, da die Union ihre Zustimmung zu einem neuerlichen Bürgerrat auch explizit an eine grundlegende Evaluierung der bisherigen Arbeit des Forums abhängig machen will. Allein auf Grund des Koalitionsvertrages müsste dieses Fazit nun schon negativ ausfallen.
Für die zukünftige Planung entsprechender Gremien ist das schon deshalb nicht unerheblich, da die Union ihre Zustimmung zu einem neuerlichen Bürgerrat auch explizit an eine grundlegende Evaluierung der bisherigen Arbeit des Forums abhängig machen will. Allein auf Grund des Koalitionsvertrages müsste dieses Fazit nun schon negativ ausfallen.
Fragen und Antworten Bürgerrat: Ein Instrument für mehr politische Teilhabe? hier
Politikforscher warnen vor falschen Signalen, die dadurch in die Bevölkerung gesendet würden. Der anvisierte Teilhabegedanke könnte leicht ins Gegenteil verkehrt werden, das ambitionierte Projekt zu einer fruchtlosen "Politiksimulation", verkommen, erklärte etwa die Berliner Politologin Miriam Hartlapp. "Ein Bürgerrat kann Politikverdrossenheit abbauen und eine positive Demokratieerfahrung für Teilnehmer und Beobachter haben. Doch wenn nichts Konkretes folgt, können Bürgerinnen und Bürger hinterher auch umso enttäuschter sein."
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