Sonntag, 27. April 2025

Permanente Bürokratiekritik untergräbt langfristig die Akzeptanz des Staates.

 Das Bürokratie-Monster wird von jeder Seite anders definiert. CDU/CSU sehen dabei vor allem die bestehenden Rechte! der Zivilgesellschaft als große Gefahr an und wollen diese unbedingt brechen (siehe dazu hier). 

Keine gute Idee und auch nicht rechtschaffen, wie einige Vorstöße während der Koalitionsverhandlungen bereits bewiesen haben (hier und hier).  Einige Politiker wollen wohl in erster Linie  persönliches Korruptions-Vorgehen schützen und sind dafür bereit, weit über aufgezeigte Grenzen zu gehen und Schaden für das Land in Kauf zu nehmen.

FAZ hier

Die Beschwerde über zu viel Bürokratie ist zu einem postmodernen Äquivalent der Klage über schlechtes Wetter geworden. Die Kritik hat sich dabei kaum verändert. 

Die „Bürokratie“, so die regelmäßig vorgebrachte Klage, würde sich wie Mehltau über das Land legen. Eine unsinnige Regelungsflut, eine verknöcherte Verwaltung und ein wuchernder Beamtenapparat würden inzwischen jede Initiative unterdrücken. 

Angesichts der routinierten Wiederholung der immer gleichen Bürokratiekritik fühlen sich Beobachter schon an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert, in dem der in einer Zeitschleife gefangene Protagonist sich jeden Morgen den immer gleichen Text anhören muss.

Fast genauso alt wie die Klage über die Bürokratie sind die Versuche, der überbordenden Bürokratie Einhalt zu gebieten. Seit einem Jahrhundert gehört die Forderung nach einem Bürokratie-Moratorium, einer Eingrenzung der Regulierungsflut und einem Einstellungsstopp für den öffentlichen Dienst zum Standardrepertoire vieler Politikerreden. In immer kürzeren Zeitabschnitten werden dabei Kommissionen zum „Bürokratieabbau“, zur „Entbürokratisierung“ und zur „Deregulierung“ eingerichtet, die sich häufig nur noch dadurch unterscheiden, dass das Wort „Staat“ mit immer neuen Adjektiven – „schlank“, „aktivierend“, „kooperativ“ oder neuerdings „handlungsfähig“ – variiert wird.

Wie rational ist die „Staatsreform“ von Voßkuhle & Co.?

Kaum eine Expertengruppe ist dabei so erfolgreich gewesen wie die Initiative des ehemaligen Verfassungsrichters Andreas Voßkuhle, des ehemaligen Verteidigungs- und Innenministers Thomas de Mazière, des ehemaligen Finanzministers Peer Steinbrück und der ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von Gruner + Jahr Julia Jäkel. Von pauschalen Forderungen von „guter Gesetzgebung“ über die Einrichtung von „Experimentierklauseln“ bis hin zur „Neuordnung der föderalen Beziehungen“ – ein großer Teil der Ideen der Kommission sind in den Koalitionsvertrag eingeflossen. Angesichts der teilweise wörtlich übernommenen Formulierungen stellt sich zwangsläufig die Frage, ob man auch in einem Koalitionsvertrag plagiieren kann.

Der Staatsrechtler Florian Meinel vermutet hinter dem Papier der vier „Ehemaligen“ einen neuen „Populismus der Eliten“. Hinter dem Begriff der „Staatsreform“ versteckte sich seiner Meinung nach in Wirklichkeit eine Mischung aus einem „konservativen Krisendiskurs“, der „alten konservativen Kritik des Wohlfahrtstaates“ und der Idee eines letztlich europafeindlichen „ökonomischen Nationalismus“.

Der Rechtswissenschaftlerin Angelika Nußberger geht Meinels Kritik viel zu weit. Sie sieht in der „Aufnahme von Millionen Geflüchteten“, der „erfolgreichen Bewältigung der Pandemie“ und der „rasanten Umstellung auf eine Energieversorgung ohne russisches Gas“ keinen Ausdruck der Handlungsfähigkeit des Staates, sondern betrachtet die Überlegungen der Kommission zu den „Gelingensbedingungen staatlichen Handelns“ als zentralen Hebel, um den „Vertrauensverlust“ der Bürger gegenüber dem Staat zu stoppen.

Bei allem Widerspruch bezüglich der ideologischen Zielrichtung der Kommission überschätzen beide Staatsrechtler die Rationalität solcher Kommissionsempfehlungen. Weil es außer dem durch Wahlen und Regierungsbildungen vorgegebenen Zeitdruck in den Kommissionen keinerlei Beschränkungen gibt, fließt alles Mögliche an Ideen in den Handlungskatalog ein. Jede Expertin und jeder Experte in der Kommission oder in den zuarbeitenden Arbeitsgruppen versucht, eine Duftnote zu setzen, ohne dass besonders auf eine Konsistenz der Vorschläge geachtet werden muss. Am Ende steht ein „Kessel Buntes“, in dem sich eine wilde Mischung aus Lieblingsideen und Spezialinteressen der Experten wiederfindet. Ergebnis ist dann eine wilde Liste, die im Kommissionsbericht und darauf aufbauend im Koalitionsvertrag mühsam durch die begriffliche Klammer einer „echten Staatsreform“ zusammengehalten wird.

Bürokratiewachstumsprogramm zum Bürokratierückbau

Dabei herrscht in der Politik und bei den ihnen zuarbeitenden Experten ein fast schon ermüdender Überbietungswettbewerb. Wenn eine Politikerin fordert, dass für ein neues Gesetz ein altes eingestampft werden muss, kann man sicher sein, dass kurz danach ein anderer Politiker fordert, dass für ein neues Gesetz mindestens zwei oder besser drei alte abgeschafft werden müssen. Wenn eine Regierung eine Reduzierung der Bürokratiekosten für die Wirtschaft um zehn Prozent fordert, verspricht die nächste Regierung, garantiert durch ein „Bürokratierückbaugesetz“ ein „25-Prozent-Abbauziel“ zu erreichen.

Bei aller Widersprüchlichkeit im Detail laufen die Maßnahmen der Kommission und der Koalition auf ein umfassendes Bürokratiewachstumsprogramm zum Bürokratierückbau hinaus. Als Lösung für die Bürokratieprobleme gibt man sich nicht mehr mit einer von der Regierungszentrale eingesetzten „Entbürokratisierungs-Beauftragten“, einer bei einem Ministerium angesiedelten „Geschäftsstelle Bürokratieabbau“ oder einem „starken Normenkontrollrat“ zufrieden, sondern richtet gleich ein Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung ein, das als eine Art „Bürokratie-TÜV“ ein weiteres Wuchern der Bürokratie verhindern, das Regulierungsgestrüpp durchforsten und unnötige Regeln entfernen soll. Kurz – die Lösung für zu viel Bürokratie wird in einer konsequenten Bürokratisierung der Entbürokratisierung gesehen.

Auffällig ist, dass dabei einerseits die Forderungen nach einer Entbürokratisierung immer weitreichender werden und gleichzeitig die staatlichen Bürokratien immer mehr zuwuchern. Es ist nicht unüblich, so der Verwaltungswissenschaftler Werner Jann, dass Politiker einerseits eine ideologische Verteufelungskampagne gegen die Bürokratie betreiben, es aber parallel zu einem Wachstum der staatlichen Bürokratie kommt. Die immer schärfer werdende Kritik der Bürokratie erfüllt, so die Rechtswissenschaftlerin Pascale Cancik, für die Politiker die Funktion der Selbstimmunisierung. Man bedient sich einer lediglich mit einigen bekannten Beispielen gespickten Bürokratiekritik, zeigt so seine Bereitschaft zur Selbstbegrenzung und präsentiert sich als Treiber des Bürokratieabbaus, kann aber gleichzeitig seine eigene Regulierungspolitik vorantreiben. Wenn man nur laut genug über die Bürokraten schimpft, wird nicht so leicht bemerkt, wenn man mal wieder ein Gesetz erlässt, das zu weiteren bürokratischen Belastungen der Bürger führt.

Pauschale Bürokratiekritik führt zu Staatsverdruss

Aber diese permanente Bürokratiekritik untergräbt, darauf hat zuletzt im „Merkur“ der Rechtshistoriker Michel Küppers hingewiesen, langfristig die Akzeptanz des Staates.
Alle richten sich in der „irrigen Vorstellung“ einer allgegenwärtigen, alles lähmenden Bürokratie ein. Nach dem Motto: „Die Bürokratie ist schlecht, die Bürokraten, das sind die anderen. Wenn etwas nicht funktioniert, dann ist die Bürokratie daran schuld.“

Die Effekte sind verheerend. Wenn Wählern über Jahrzehnte ein Bürokratieabbau versprochen wird, der faktisch nicht eingehalten werden kann, erodiert das Vertrauen in staatliche Instanzen. Wenn Politiker ihrer jubelnden Anhängerschaft zurufen, dass mit der „überbordenden Bürokratie“ Schluss gemacht werden muss, wenn sie ihre Reden mit den immer gleichen Beispielen – der Vorschrift für den Krümmungsgrad von Gurken, den Hygienevorschriften, die von Schlachthöfen glatte Fliesen verlangen, während die Arbeitsschutzrichtlinien aufgeraute Bedingungen vorschreiben, oder der Verpflichtung von Küstenländern ohne größere Erhebungen, eigene Seilbahngesetze zu erlassen – illustrieren, ist Staatsverdruss das Ergebnis.

Das Problem ist nicht das Ringen um stringentere Gesetze, bessere Rechtsetzung oder intelligentere Verwaltungsstrukturen, sondern die in der Regel durch partikulare Interessen geleitete, aber dann mit dem Impetus einer Gemeinwohlorientierung vorgetragene Form der Bürokratiekritik. Wenn sich Parteipolitiker, Verwaltungsreformer und Interessenorganisationen darauf einigen würden, für eine Zeit lang auf eine allzu pauschale Bürokratiekritik zu verzichten, würde dies die Erosion des Vertrauens in staatliche Organisationen erfolgreicher stoppen, als wenn immer neue Kommissionen, neue Stellen und neue Programme zum Bürokratieabbau geschaffen werden.

Stefan Kühl ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Zum Thema erschien zuletzt von ihm „Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen“ (Campus Verlag).

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