Samstag, 5. März 2022

"Mit dem Thermostat gegen Putin"

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gut ein Monat ist vergangen, seit die EU-Kommission Erdgas zum Klimaschützer geadelt hat. Unter bestimmten Bedingungen sollen Investitionen in den fossilen Brennstoff künftig als »nachhaltig« gelten, als Brückentechnologie ins Zeitalter der erneuerbaren Energien war er der Wunschkandidat schlechthin. Seit Putins Überfall auf die Ukraine ist alles anders – zumindest von russischem Gas, das rund die Hälfte der deutschen Importe ausmacht, will man in Deutschland und Europa nun so schnell wie möglich unabhängiger werden.

Die politisch notwendige Neubewertung treibt allerdings seltsame Blüten.


Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) fühlte sich in dieser Woche mit Verweis auf die Energiesicherheit des Landes bemüßigt, erneut das Kohle-Aus bis 2030 infrage zu stellen. Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) – wie Woidke schon in der Vergangenheit nicht gerade ein euphorischer Unterstützer des Kohleausstiegs – fordert nun, man solle »die Scheuklappen beiseitelassen, was Braunkohle und was Atom angeht« und die Ausstiegsbeschlüsse neu diskutieren.

Dazu muss man wissen: Knapp 28 Prozent des hierzulande erzeugten Stroms kamen 2021 aus Kohlemeilern. Ein Teil der zu verfeuernden Kohle muss importiert werden, die Hälfte ausgerechnet aus Russland. Eine Krise (Russland) zum Preis der Eskalation einer anderen (Klima) lösen zu wollen, ist zudem alles andere als nachhaltige Politik.

Allerdings erklärt sogar Klimaminister Robert Habeck: »Kurzfristig kann es sein, dass wir vorsichtshalber, um vorbereitet zu sein für das Schlimmste, Kohlekraftwerke in der Reserve halten müssen, vielleicht sogar laufen lassen müssen«, Versorgungssicherheit gehe vor Klimaschutz, so der Grünenpolitiker. Ein Scheingegensatz übrigens, der so falsch wie widersinnig ist.

Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke sind gleich dreifach schwierig

Die Idee, stattdessen die klimaneutralen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, ist gleich dreifach schwierig. Deutsche Kraftwerksbetreiber haben schon seit Jahren keine neuen Brennelemente mehr beschafft, da sie vom planbaren Ende der Laufzeiten ausgehen. Und neue lassen sich oft nicht einmal mit monatelangem Vorlauf beschaffen. Zudem werden wegen des verabredeten Atomausstiegs viele Mitarbeiter zum Jahresende die Stelle wechseln oder in den Vorruhestand geschickt. Sie sind an Schlüsselstellen schwer ersetzbar. Außerdem müsste es bei einem längeren Weiterbetrieb der Meiler umfangreiche Sicherheitsprüfungen und gegebenenfalls Nachrüstungen geben, die Zeit und Geld kosten

Aber was lässt sich in der prekären Lage nun konkret tun? Im Jahr 2021 importierte die Europäische Union rund 140 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr, rechnet die Internationale Energieagentur (IEA) diese Woche in einem Report vor. Dieser Bedarf ließe sich – ohne Rückkehr zur Kohle – mit einem Zehn-Punkte-Plan erheblich senken. »Zusammengenommen könnten diese Schritte die russischen Gasimporte der Europäischen Union innerhalb eines Jahres um mehr als 50 Milliarden Kubikmeter oder mehr als ein Drittel reduzieren«, so die IEA.

Darunter fielen etwa der beschleunigte Austausch von Gaskesseln durch Wärmepumpen, strengere Vorgaben zur Energieeffizienz in Gebäuden und der Industrie und die beschleunigte Bereitstellung neuer Wind- und Solarprojekte.

All das setzt schnelles staatliches Handeln, Geld und zumindest etwas Zeit voraus. Nicht so Vorschlag Nummer neun: Verbraucher sollten kurzfristig ihren Heizthermostat um ein Grad herunterstellen, um den Gasverbrauch unmittelbar zu senken. In der EU liege die durchschnittliche Temperatur in beheizten Gebäuden bei 22 Grad Celsius, so die IEA. Verzichteten die Verbraucher auf ein Grad Wärme, hätte das sofortige jährliche Energieeinsparungen von etwa zehn Milliarden Kubikmetern Erdgas zur Folge, so die Rechnung, zwei Grad weniger würden das Doppelte einsparen und so weiter.

Wer eine Gasheizung besitzt, kann also mit einem behutsamen Griff zum Thermostat schnell und unbürokratisch die Gasnachfrage reduzieren, dabei das Klima schützen und spart auch noch Geld. Und 21 Grad Raumtemperatur gehen sogar noch als warm durch. Gemütlicher war politischer Aktivismus wohl nie.

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