hier Freitag Ausgabe 26/2023 Jörg Staude
Wärmewende: Mit Habecks Heizungsgesetz drohten den Gasnetzbetreibern Milliardenverluste. Doch ihre Lobby wehrte sich
Spätestens im April dieses Jahres muss der deutschen Gasbranche siedend heiß klar geworden sein: Mit dem sogenannten Heizungsgesetz meinte es das Wirtschaftsministerium bitterernst. Im April amtierte nicht nur Staatssekretär Patrick Graichen noch. Mitte des Monats legte auch Agora Energiewende – der Thinktank, bei dem Graichen ein Jahrzehnt das Sagen hatte – eine Studie vor, die dem deutschen Gasnetz das Lebenslicht auszublasen drohte.
Da Deutschland bis 2045 klimaneutral sein müsse, bestehe für bis zu 97 Prozent der Gasnetze keine Verwendung mehr, prognostizierte die Studie. Denn fossile Energieträger, also auch Erdgas, würden in Verkehr, Wärme und Industrie „weitestgehend“ durch Strom ersetzt. Würden die Gasnetze nicht rechtzeitig stillgelegt oder, wo möglich, auf Wasserstoff umgerüstet, drohten sogenannte „stranded assets“ von bis zu zehn Milliarden Euro. „Die geordnete und rechtzeitige Stilllegung der Gasverteilnetze ist eine zentrale Aufgabe in der Wärmewende“, beschied Simon Müller, Chef von Agora Energiewende, den Gasfirmen.
Mit der Studie lieferte der Thinktank die Begleitmusik zum Heizungsgesetz. Mit diesem sollte ja vor allem den 16 Millionen Ein- und Zweifamilienhäusern ab 2024 der Einbau neuer Gas- und Ölheizungen verboten werden, solange sie zu 65 Prozent aus erneuerbaren Quellen wie zum Beispiel Biogas betrieben werden. Schon bis 2030 strebte die Ampel sechs Millionen Wärmepumpen an – da wäre, grob gerechnet, ein Drittel des privaten Gasmarktes für immer weg gewesen. Die restlichen Gaskunden sähen sich steigenden Netzentgelten bei ohnehin teurer werdendem Gas gegenüber. Schon 2030 würden so wohl viele der mehr als 700 deutschen Gasnetzbetreiber an einen Kipppunkt geraten, ab dem sich das ganze Geschäft nicht mehr rechnet.
Selbstverständlich gibt es auch ein Gegenmodell: ein „visionäres H₂-Netz“, wie es der Verband der Fernleitungsnetzbetreiber Gas nennt, aus der Umwidmung bestehender Erdgastrassen auf Wasserstoff. Für ein künftiges H₂-Netz stünden so schon 5.900 Kilometer zur Verfügung, nur 600 Kilometer Leitungen müssten neu gebaut werden.
Das Heizungsgesetz stellte also die Machtfrage: Wer wird den Energiemarkt künftig dominieren, der Ökostrom in einer „all electrical world“ oder die Moleküle, also Erdgas und später Biogas, Wasserstoff und dessen Abkömmlinge wie Ammoniak und E-Fuels? Derzeit ist es noch so: 80 Prozent der in Deutschland verbrauchten Energie stammen aus Molekülen, vor allem als fossiles Gas und Öl. Nur 20 Prozent der Energie kommen aus Strom – und davon ist auch erst die Hälfte Ökostrom.
Abwehrkampf gegen das Gebäudeenergiegesetz (GEG)
Auch in einem hundertprozentig erneuerbaren Energiesystem wird es Moleküle geben – nur kehren sich die Verhältnisse um. Ab 2045 werden grüne Elektronen 60 bis 70 Prozent und grüne Moleküle 30 bis 40 Prozent des Endenergiebedarfs abdecken, sagen Experten wie Mario Ragwitz vom Fraunhofer-Institut für Energieinfrastrukturen und Geothermie (IEG) voraus. Es ist klar, dass solche Prognosen den deutschen Gasnetzbetreibern nicht gefallen können. Zehn Prozentpunkte mehr oder weniger Marktanteil für Moleküle – das kann einer Branche die Zukunft sichern oder ihr Aus bedeuten. Entsprechend beschwerten sich Ende April die Gasfirmen: Wir sollen zwar Industrie und Gewerbe weiter mit Erdgas und dann mit Wasserstoff versorgen – für Raumwärme soll uns das aber nicht gestattet sein? Wo doch Wasserstoffleitungen auch an Wohnquartieren vorbeiführen werden?
99 Prozent der Industrie- und Gewerbekunden würden derzeit Gas über die Verteilnetze beziehen, zählt der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) auf. Weshalb eine technologieoffene kommunale Wärmeplanung auch Wasserstoff in der Wärmeversorgung nicht ausschließen dürfe.
Aber: Nur sehr wenige Untersuchungen geben Wasserstoff im Raumwärmebereich ab 2045 eine signifikante Bedeutung. Verbraucherexpertinnen gehen davon aus, dass von den 20 Millionen Haushalten, die noch mit Erdgas heizen, nur wenige auf Wasserstoff umsteigen werden – zu wenige, damit sich ein Netzbetrieb lohnt. Deshalb fordert der VKU: Es müsse ein „Kipppunkt“ definiert werden, ab dem ein Netzbetreiber verbleibenden Gaskunden gegen ihren Willen kündigen darf. Gasfirmen träumen aber auch vom Gegenteil: Damit sich teure Wasserstoffnetze rechnen, wollen sie einen gesetzlichen Anschlusszwang – auch für Haushalte. Wer das Pech hat, in der Nähe einer Wasserstoffleitung zu wohnen, müsste „technologieoffen“ zugreifen.
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