Samstag, 6. Januar 2024

Philosoph Schmid: »Ich will kein Wutgreis sein, der seinen Schmerz über das vergehende Leben an allem auslässt, was auflebt. «

Ich mag dieses Philosophen-Gespräch, an vielen Stellen merke ich: ja das stimmt! Er hat so was von recht!

Vielleicht muss man es sogar mehrmals lesen...

Spiegel hier  Ein SPIEGEL-Gespräch von Tobias Becker 31.12.2023,

Philosoph über Krisenstrategien:  Wie kann man sich in diesen Zeiten noch des Lebens freuen, Herr Schmid?

»Mich sorgt das alles sehr«: Der Philosoph Wilhelm Schmid blickt beunruhigt auf Klimakollaps und Kriege. Aber er hat ein Rezept, wie wir Gelassenheit lernen und wieder Hoffnung gewinnen.

Philosoph Schmid: »Ich will kein Wutgreis sein«



Suhrkamp ist der Verlag von Philosophen wie Jürgen Habermas, Martha Nussbaum, Michel Foucault – und auch von Wilhelm Schmid . »Ich bin der Philosoph, den die Leute verstehen«, sagt Schmid, 70, zur Begrüßung im Foyer des Verlagshauses in Berlin-Mitte. Schmid hat sich schon in seiner Habilitationsschrift mit Fragen der Lebenskunst beschäftigt, hat als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt gelehrt, auch als Gastdozent in Riga und Tiflis. Zudem war er von 1998 bis 2007 philosophischer Seelsorger am Spital Affoltern am Albis bei Zürich. Seine populärphilosophischen Sachbücher über Themen wie Glück , Gelassenheit  und Liebe  haben eine deutsche Gesamtauflage von etwa 1,5 Millionen Exemplaren, sein jüngster Bestseller heißt »Schaukeln. Die kleine Kunst der Lebensfreude«  (Insel). Schmid ist verwitwet und hat vier Kinder im Alter von 27 bis 49 Jahren.

SPIEGEL: Herr Schmid, ein Kriegs- und Krisenjahr liegt hinter uns. Viele Menschen sind von dieser Weltlage erschöpft. Man traut es sich kaum zu fragen: Gibt es noch etwas, auf das wir hoffen dürfen?

Schmid: Schon Kant hat diese Frage gestellt: Was darf ich hoffen? Aber wir müssen diese Frage heute unbedingt ergänzen: Was sollte ich besser nicht hoffen? Denn blinde Hoffnung sorgt für Enttäuschungen und Verbitterung. Im privaten Leben, wenn Menschen ewig hoffen, dass sich ihr Partner vielleicht doch noch zum Positiven verändert. Aber auch im politischen Leben.

SPIEGEL: Ehrlich gesagt, ich hatte gehofft, aus dem Gespräch mit Ihnen etwas Zuversicht mitnehmen zu können.

Schmid: Wer blind hofft, wird zur Beute derer, die mit Hoffnung nichts anfangen können. Die Gewaltmenschen dieser Welt setzen darauf, dass es gutmütige Menschen gibt, die auf Frieden hoffen – und sie faktisch gewähren lassen.

SPIEGEL: Es gibt also keinen Anlass für Gelassenheit?

Schmid: Zumindest politisch nicht. Das größte Problem ist die Klimakrise, das wird nicht lustig. Wir wissen, welche Konsequenzen die höheren Temperaturen im Sommer bereits heute und sogar hierzulande haben. Und es wird noch wärmer. Weiter im Süden werden ganze Länder unbewohnbar sein. Wohin werden die Menschen aus diesen Ländern wohl fliehen? Dazu kommen die Kriege in der Ukraine und in Nahost. Und der Aufstieg der Rechtspopulisten bei uns. Mich sorgt das alles sehr.

SPIEGEL: Dabei haben Sie die Lebenskunst doch zu Ihrem Forschungs- und Lebensthema gemacht.

Schmid: Wenn ich unser Land und die Welt betrachte, wird mir übel. Nein, ich bin nicht gelassen. Und ich habe auch nie den Anspruch erhoben, durchweg gelassen zu sein. Leben ist wie Schaukeln, schreibe ich in meinem jüngsten Buch. Es gibt Phasen, in denen sollte man gelassen sein. Jetzt ist eine andere Phase.

»Die Freude wirkt als Kontrast zum Ernst des Lebens am stärksten.«

Philosoph Schmid schaukelnd in Damüls, Österreich


SPIEGEL: Darf man sich in diesen Kriegs- und Krisenzeiten gar nicht mehr des Lebens freuen?

Schmid: Oh, da haben Sie mich falsch verstanden. Wann, wenn nicht jetzt? Woher könnte ich sonst die Kraft nehmen, mich all den Problemen zu stellen? Dazu brauche ich freudige Momente, auch freudige Beziehungen. Und die Freude wirkt als Kontrast zum Ernst des Lebens am stärksten. Es wäre allerdings ein Irrtum, zu erwarten, dass das Leben und meine Beziehungen mir immer nur Freude bieten können. Alles im Leben schaukelt, auch die Freude. Mal ist sie da, mal ist sie weg. Auch mein politisches Interesse muss schaukeln. Mal bin ich engagiert in der Welt, mal muss ich mich erholen von der Welt.

SPIEGEL: Viele Menschen wollen gerade Letzteres. Sie ziehen sich radikal zurück und boykottieren Nachrichten. News Avoidance  nennt sich das Phänomen, Nachrichtenvermeidung.

Schmid: Manchen Menschen wird alles zu viel, es macht sich Veränderungsmüdigkeit breit. Ich kann das verstehen. Aber es ist auch tragisch, denn wir stehen erst am Anfang aller Veränderungen.

SPIEGEL: Haben Sie Ihren Medienkonsum angesichts all der Krisen verändert?

Schmid: Ich bin ein Newsjunkie, ich will alles wissen, möglichst detailliert.

SPIEGEL: Und das tut Ihnen gut?

Schmid: Ich will kein Leben leben, das an der Realität der Welt vorbeigeht. Ich will in der Welt leben. Und ich finde die Zeit, in der ich lebe, auch superspannend. Gerade wird die Welt der nächsten hundert Jahre geschmiedet, im Guten wie im Schlechten. Da will ich dabei sein.

SPIEGEL: Es scheint fast so, also sei nicht nur die Gegenwart in der Krise, sondern auch die Zukunft. Wer heute noch an die Zukunft glaubt, also hofft, der wirkt wie von gestern.

Schmid: Nein, Hoffnung an sich ist unverzichtbar für den Menschen. Denn sie eröffnet Möglichkeiten. So wie auch der Glaube, die Liebe, die Sehnsucht, die Fantasie. Sie alle sind ontologische Öffner. Dank ihnen muss der Mensch sich nicht mit der Wirklichkeit zufriedengeben, wie sie ist, sondern kann sich Alternativen vorstellen, erträumen, erfinden. Ich habe eingangs also nur gegen die blinde Hoffnung argumentiert. Im Übrigen gibt es Unterschiede zwischen den ontologischen Öffnern. Wer hofft, kann sich in Bewegung setzen. Aber er kann sich auch zurücklehnen und abwarten, denn was er erhofft, muss nicht gleich morgen eintreten. Die Sehnsucht hingegen wartet nicht gern: Jemand, der sich nach einem geliebten Menschen sehnt, setzt sich in den nächsten Zug.

SPIEGEL: Und wer sich nach Frieden sehnt?

Schmid: Der geht jetzt nicht auf Friedensdemonstrationen. Wer sich nach Frieden sehnt, unterstützt diejenigen mit Waffen, die überfallen worden sind. Denn das ist die einzige Sprache, die Gewaltmenschen verstehen. Gewaltmenschen fallen nicht um, weil ihnen jemand Friedensappelle in die Ohren flüstert.

SPIEGEL: Die Hoffnung in Klimafragen hatte viele Jahre lang ein Gesicht: Greta Thunberg. Nun ist sie ein Gesicht des linken Antisemitismus . Selbst die Erlöserfigur scheint plötzlich voller Sünde.

Schmid: Das ist auch für mich eine enttäuschte Hoffnung. Ich hatte aufgeatmet, als die Fridays-for-Future-Bewegung zustande kam. Weil sie genau das war, was wir brauchten: eine pragmatisch orientierte Bewegung. Aber binnen weniger Jahre ist Ideologie daraus geworden, auch ohne Thunbergs Israel-Palästina-Positionen. Radikalisierte Ideologie aber hat noch nie viele Menschen überzeugt.

SPIEGEL: Wer genau vertritt denn Ihrer Meinung nach eine radikalisierte Ideologie?

Schmid: In unserer Gesellschaft wächst die Feindschaft gegenüber der Klimabewegung. Und warum? Weil junge Leute sich auf den Straßen festkleben. Es ist klar, was sich diejenigen wünschen, die sich festkleben. Aber sie erreichen das Gegenteil (diese Stelle überzeugt mich nicht, diesen Vorgang kann man auch anders interpretieren  hier). Alle schauen auf die Klimakleber, und das fossile Kartell aus Erdölstaaten und Investoren kann weitermachen wie bislang. 

SPIEGEL: Die einen werden zu Nachrichtenvermeidern, die anderen wie Sie zu Newsjunkies. Und manche können gar nicht lockerlassen und werfen sich aktivistisch in jede Debatte. Welche Strategie ist die richtige in Krisenzeiten?

Schmid: Wir brauchen Inseln der Gelassenheit. Aber wir sollten von diesen Inseln immer wieder zurückkehren zu den Herausforderungen. Und das tun, was wir erholt tun können.

SPIEGEL: Und wie gelangen wir auf diese Inseln der Gelassenheit?

Schmid: Indem wir lieb gewordene Gewohnheiten pflegen. Gerade in Phasen, in denen Veränderungen unausweichlich sind, kommt es darauf an. Denn Gewohnheiten ermöglichen uns eine Auszeit. Wenn ein Teil des alltäglichen Lebens ohne weiteres Nachdenken abläuft, werden für andere Teile die Kräfte frei, die wir dringend brauchen.

SPIEGEL: Das klingt einerseits banal. Andererseits stehen Gewohnheiten in keinem guten Ruf. Wer an Gewohnheiten hängt, gilt als unbeweglich. Womöglich auch als langweilig.

Schmid: Die Moderne betet die Veränderung an, das ist ihre Gründungsidee. Alle Beharrungskräfte werden verachtet. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es dafür sehr gute Gründe. Heute hingegen haben die Menschen so viele Veränderungen erlebt, auch im Privaten, dass sie keine Enthusiasten der Veränderung mehr sein können.

SPIEGEL: Was läuft bei Ihnen denn automatisiert ab?

Schmid: Ich trinke jeden Morgen einen doppelten Espresso in einem Café. Dabei arbeite ich. Wenn ich das nicht mache, komme ich nicht in den Tag.

SPIEGEL: Im Café sind Sie in Gesellschaft, aber allein.

Schmid: Sie kennen das! Ja, ich vermute, dass Cafés deshalb so gute Orte zum Denken und Arbeiten sind. Es ist wie im Mutterleib: Man ist gut versorgt, geborgen in einer Hülle, während von außen gedämpft Stimmen ans Ohr dringen.

SPIEGEL: Warum wächst die Sehnsucht nach Rückzug und Stille?

Schmid: Warum haben die Glücksbücher seit Jahren solchen Erfolg? Weil Menschen die Welt nicht mehr verstehen. Weil ihnen die Probleme über den Kopf wachsen – und sie sich in ihr privates Leben zurückziehen.

SPIEGEL: Die Glücksbücher sind ein Krisenphänomen?

Schmid: Die Probleme kulminieren, und die Glückshysterie kulminiert auch. Als ob es im Leben um Glück ginge! Das ist ein großes Missverständnis.

SPIEGEL: Auch Sie haben einen Bestseller über das Glück geschrieben.

Schmid: Ja, aber leider muss man als Autor damit leben, dass oft nur der Titel eines Buches zur Kenntnis genommen wird. Der Untertitel ist für viele schon zu viel Lektüre. Mein Buch hieß: »Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist«.

SPIEGEL: Was ist denn das Wichtigste?

Schmid: Sinn. Wer primär nach Glück strebt, der wird eine Beziehung in einer unglücklichen Phase allzu schnell aufkündigen. Sinn aber finden wir in möglichst dauerhaften Beziehungen.

»Alles kann schiefgehen. Wer hat denn gesagt, dass Leben immer gelingen muss?«

SPIEGEL: Kann ein Leben ohne Glück denn Sinn haben?

Schmid: In moderner Zeit zieht der Glaube an ein glückliches Diesseits die Erwartung nach sich, alles Negative aus dem Leben ausschließen zu können. Aber das ist eine Illusion, die letzten Endes unglücklich macht. Glück ist bloß nice to have. Es hilft nicht weiter, wenn das Leben in eine Krise gerät. Dann hilft nur Sinn. Und Sinn steckt in treuen, verlässlichen Beziehungen. Leider hängen heute viele Menschen in ihren Beziehungen einer falschen Idee von Freiheit nach.

SPIEGEL: Was für eine Idee meinen Sie?

Schmid: Die Idee, dass Freiheit nur heiße, befreit zu sein von den Vorgaben der Religion, der Tradition, der Konvention. Das ist wichtig, aber das ist nur die erste Stufe der Freiheit, es fehlt die zweite: sich aus der Freiheit heraus freiwillig wieder festzulegen. Ich bin mir sicher, nur das erfüllt die Menschen mit Sinn: sich festlegen, sich einlassen aufeinander und füreinander da sein.

SPIEGEL: Aber verpasst man dann nicht eine Menge Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen?

Schmid: Ja, aber genau darum geht es. Das mag sich paradox anhören, aber die Lösung für die Angst, etwas zu verpassen, ist: Leg dich fest, lass dich ein! JOMO statt FOMO, Joy of missing out statt Fear of missing out. Das kann schiefgehen, klar, aber so ist das im Leben. Alles kann schiefgehen. Wer hat denn gesagt, dass Leben immer gelingen muss?

Das Glück der Fülle

SPIEGEL: Sie selbst haben 40 Jahre lang mit Ihrer Frau zusammengelebt, bis diese vor nicht langer Zeit an Krebs gestorben  ist. Was hat Ihnen dabei geholfen, mit dem Verlust umzugehen?

Schmid: Gute Beziehungen zu meinen Kindern, meinen Freunden, meiner Arbeit. Menschen sollten früh genug dafür Sorge tragen, dass sie jemanden haben, wenn eine solche Krise kommt. Denn es hängt von ihnen selbst ab. Bin ich ein guter Freund? Dann werde ich auch gute Freunde haben. Bin ich ein guter Vater? Dann werde ich auch tolle Kinder haben. Das ist Lebenskunst.

SPIEGEL: Sie predigen also Selbstverantwortung. Läuft das nicht auf einen unpolitischen Individualismus hinaus?

Schmid: Für mich nicht. Über andere habe ich nicht zu urteilen.

SPIEGEL: Die »Süddeutsche« schrieb, Sie adressierten den »unglücklichen Egomanen« .

Schmid: Ich weiß natürlich, dass viele Leute Lebenskunst als Egoismusveranstaltung wahrnehmen. Aber das ist ein Trugschluss. Das habe ich nie so gedacht, das habe ich auch nie so geschrieben. Lebenskunst ist nicht Egoismus, im Gegenteil.

SPIEGEL: Aber wer sich zu viel um sich sorgt, läuft Gefahr, die Sorge um die anderen aus dem Blick zu verlieren.

Schmid: Nur wer sich um andere sorgt, wird umsorgt. Und nur wer sich ausreichend um sich selbst kümmert, hat auch die Kraft, sich um andere zu kümmern. Denn sich nur um andere zu sorgen, das bedeutet: in absehbarer Zeit zusammenzubrechen. Das ist übrigens das große Problem in Pflegeberufen. Es muss eine Balance geben zwischen Selbstfürsorge und Sorge für andere. Und den Anfang kann ich immer nur bei mir machen. Ich nehme Verantwortung für mich selbst wahr, aber auch dafür, dass ich die Verantwortung für andere wahrnehmen kann.

»Ein Psychotherapeut kennt sich mit Gefühlen aus, ich mich überhaupt nicht.
Aber ich kenne mich mit Gedanken aus.«

SPIEGEL: Es scheint kaum noch jemanden zu geben, der ohne Therapeuten oder Coach leben kann. Und viele brauchen diese Hilfe auch. Wie blicken Sie als Philosoph auf diese Entwicklung?

Schmid: Es scheint nicht anders zu gehen. Und das verstehe ich, weil die Ratlosigkeit im Leben maximal geworden ist. Was gab den Menschen über Jahrhunderte hinweg Orientierung? Religion, Tradition, Konvention. Und genau die drei zählen heute nichts mehr. Gott soll das gesagt haben? Dann kommt das für mich nicht infrage. Schon mein Großvater hat es so gemacht? Dann ich auf keinen Fall. Alle machen es so? Dann ich erst recht nicht. Und so gehen die Menschen heute los zum Coach oder zum Therapeuten, in der Hoffnung, dort Rat zu finden. Wollen wir hoffen, dass sie fündig werden.

SPIEGEL: Sie haben jahrelang als philosophischer Seelsorger in einem Krankenhaus gearbeitet. Was kann die Philosophie, was die Psychologie nicht besser kann?

Schmid: Das habe ich mich auch gefragt. Und ich hielt es zunächst für eine Schnapsidee der Ärzte, die mich um Hilfe gebeten hatten. Ein Psychotherapeut kennt sich mit Gefühlen aus, ich mich überhaupt nicht. Aber ich kenne mich mit Gedanken aus. Und um die ging es! Das Interesse der Patienten war enorm, und es blieb enorm, jahrelang. Das hat mich so erstaunt, dass ich die Patienten gefragt habe: Was bringt Ihnen das? Und ich hörte ein ums andere Mal dieselbe Antwort: geistige Nahrung, interessante Gedanken. Die Patienten mochten, dass ich nicht nach Problemen in ihrer Kindheit bohre, dass ich ihnen auch keinen Rat gebe, sondern einfach ein guter Gesprächspartner bin, der sie zu Gedanken inspiriert. Schon Sokrates hat seine philosophische Methode als Hebammenkunst bezeichnet, die Menschen hilft, ihre eigenen Gedanken zu gebären. Ich habe im Krankenhaus nichts anderes gemacht.

SPIEGEL: Sie haben einen Möglichkeitsraum eröffnet, so wie die Hoffnung, die Sehnsucht, die Fantasie?

Schmid: Das war immer mein Anliegen. Eine philosophische Lebenskunst heute kann nicht mehr normativ sein, also den Menschen sagen, wie sie zu leben haben. Die Lebenskunst heute muss optativ arbeiten, also Optionen eröffnen. Ich habe den Patienten nicht gesagt, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen sollen. Sondern ich habe sie auf Ideen gebracht, wie sie es vielleicht können.

»Leben ist immer Leben in Beziehungen. Allein lässt sich das Leben nicht bewältigen.«

SPIEGEL: Einer Ihrer Bestseller heißt, ich zitiere inklusive Untertitel: »Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden«. Kann die alternde Gesellschaft denn eine gelassenere werden?

Schmid: Ich begegne vor allem vielen Menschen, die null gelassen sind, sogenannte Wutbürger, und die sind in vielen Fällen 70 plus. Sie haben Möglichkeiten verpasst in ihrem Leben, und sie machen dafür das System verantwortlich, nicht sich selbst. Diese Leute glauben im Ernst, sie hätten ein Recht darauf, glücklich zu werden – und dieses Glück vom Staat geliefert zu bekommen. Eine irre Vorstellung, aber ich erlebe das immer wieder bei Veranstaltungen. Kein Wunder, dass die Menschen mit der Einstellung wütend werden. Zumal ihnen die Zeit davonläuft. Und sie das starke Gefühl haben, dass ihre Glückschancen geschmälert werden von Intellektuellen, von jüngeren Menschen, von Migranten.

SPIEGEL: Von Glückskonkurrenten.

Schmid: Es gibt sicher eine Menge soziologische und politologische Erklärungen dafür, dass Menschen sich politischen Extremen zuwenden. Aber solange sich in vielen Köpfen die Überzeugung hält, dass es im Leben um Glück geht, werden wir Wutbürger haben.

SPIEGEL: Die Wut richtet sich oft gegen Symbole der Veränderung: genderneutrale Sprache, Lastenräder. Der Soziologe Steffen Mau spricht von Triggerpunkten .

Schmid: Typisch für älter werdende Menschen ist das Gefühl, dass die Welt nicht mehr ihre Welt ist. Und das stimmt ja, ich kenne das selbst. Meine Welt waren die Beatles. Aber ich will kein Wutgreis sein, der seinen Schmerz über das vergehende Leben an allem auslässt, was auflebt.

SPIEGEL: Kann man Lebenskunst lernen?

Schmid: Ja, natürlich. Ich will nicht sagen, problemlos. Aber mit einiger Mühe schon. So wie jede Kunst.

SPIEGEL: Und Sie beherrschen diese Kunst?

Schmid: In keiner Kunst hat jemals jemand ausgelernt. Natürlich ist es gut, ein paar rudimentäre Dinge zu wissen. Dazu gehört: Leben ist immer Leben in Beziehungen. Wer von Beziehungen nichts wissen will, wird scheitern. Allein lässt sich das Leben nicht bewältigen.

SPIEGEL: Aber wie komme ich in gute Beziehungen?

Schmid: Na ja, springen Sie erst mal rein. Nacharbeiten können Sie immer noch.

SPIEGEL: Herr Schmid, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 


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