Mittwoch, 17. August 2022

Brokkolirepublik – Nein danke! Oder: Warum Umweltpolitik in Berlin selten ein Thema ist

Das gilt nicht nur für Berlin - leider - sondern auch für Stuttgart. Gerade eben hat Nicole Razavi, CDU, Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen, ein  unterirdisches Interview zum Landesentwicklungsplan gegeben - gestern bei Regio TV (hier). Schwammiger geht`s nicht und ganz in der alten Spur: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Schwere Kost für Menschen, die im Heute leben und mit offenem Blick die unfassbaren Probleme wahrnehmen, die auf dem alten Wachstumskurs gegründet sind.

Newsletter   RND  hier  Markus Decker  16.08.2022

Newsletter „Hauptstadt-Radar“

Vor bald zehn Jahren gab es die Debatte um den „Veggie Day“. Doch noch heute müssen sich jene, die für Fleischverzicht eintreten, rechtfertigen. Überhaupt gilt: Obwohl der Klimawandel unaufhörlich voranschreitet, geht alles weiter wie immer.

vor bald zehn Jahren war der „Veggie Day“ in aller Munde – vor allem durch die Kritik an ihm. Die Grünen, die sich für einen fleischfreien Tag pro Woche in Kantinen stark machten, wurden im Sommer 2013 als Verbotspartei etikettiert und galten wahlweise als lustfeindlich oder bevormundend. Dass die folgende Bundestagswahl für die Ökopartei ziemlich in die Hose ging, wurde intern auch dem „Veggie Day“ zugeschrieben.

Nun macht der Verzicht auf Fleisch nach Einschätzung von Experten und Expertinnen unverändert auch deshalb Sinn, weil seine Produktion ein Verursacher des Klimawandels ist. Überdies schreitet dieser Klimawandel für jedermann sichtbar voran. Der Sommer ist ein nicht enden wollendes Hochdruckgebiet. Selbst in den Nächten kühlt es kaum ab. Zugleich brennt es in zahlreichen Wäldern. Und die Flüsse trocknen aus.

Klimapolitisch hat sich verglichen mit dem Sommer 2013 dennoch wenig verändert.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz kommt mit dem Privatflugzeug zur Hochzeit des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner. Und der liberale Verkehrsminister Volker Wissing will das Austrocknen des Rheins nicht an der Ursache bekämpfen: den ausufernden CO₂-Emissionen. Die FDP will bekanntlich kein Tempolimit, kein Aus von Autos mit Verbrennungsmotoren ab 2035 und auch keine Fortsetzung des 9-Euro-Tickets. Vielmehr möchte Wissing die Fahrrinne im Rhein vertiefen.

Der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, Christian Jung, warf dem grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck „Planungsfehler“ vor. Er hätte, so Jung, doch wissen müssen, dass bei einem Rheinpegel von 50 Zentimetern „keine Schifffahrt mehr möglich“ sei.

Unterdessen wird Klimaschützern und Klimaschützerinnen gern attestiert, sie würden Verzicht predigen. Der Verzicht, der notgedrungen längst im Gange ist, ist kein Thema: der Verzicht auf guten Schlaf, auf Wanderungen in lebensfähigen Wäldern, Wasser in bis zuletzt unerschöpflicher Menge, auf Gesundheit und Leben. So teilte das Statistische Bundesamt mit: „Im Juni und Juli waren die Sterbefallzahlen insbesondere in den Wochen erhöht, als sehr hohe Temperaturen verzeichnet wurden.“ Lieber als über den niedrigen Rheinpegel klagen manche Deutsche über Behinderungen im Flugverkehr, obwohl bekanntlich kaum etwas so klimaschädlich ist wie das Fliegen.

Umwelt- und Naturzerstörung sind im Berliner Regierungsviertel nach wie vor nichts, was für Aufregung sorgt oder bei Verantwortlichen Ängste auszulösen scheint. Keine Bundesregierung richtet einen Krisenstab ein, wenn in der Oder Tausende Fische sterben und ein Ökosystem kollabiert. Kein Bundestag tritt zu einer Sondersitzung zusammen. Für die Opposition wird ein Problem oft erst dann politisch relevant, wenn es sich gegen die Bundesregierung instrumentalisieren lässt. Für ausgetrocknete Flüsse gilt das nur bedingt. Für einen etwaigen Strommangel in Herbst und Winter gilt es schon eher. Er lässt sich nutzen, um die Atomkraft wieder ins Gespräch zu bringen – und den Grünen eine Niederlage zuzufügen.

Das legt die Grundstruktur des politischen Wettbewerbs frei: Ziel ist, den Status quo eines auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystems zu erhalten und die Konkurrenz zu schlagen. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass das System wie durch den Klimawandel selbst in Gefahr gerät.

Apropos „Veggie Day“: Der CSU-Vorsitzende Markus Söder findet das mit dem Fleischkonsum weiterhin ganz okay. „Wir sind schließlich keine Brokkolirepublik“, sagte er im Juli, obwohl es auch da schon in Bayern knochentrocken war.

Söder ist 55 Jahre alt. Wie sein Leben in zehn Jahren aussieht, wenn der Klimawandel sich so radikalisiert wie in den letzten zehn Jahren: Es scheint ihn nicht besonders zu interessieren. Vielleicht weil dann gar kein Brokkoli mehr wächst. 

Bittere Wahrheit

Als sich die Ampelkoalition im Dezember 2021 zusammenfand, da staunten nicht wenige. SPD, Grüne und FDP gingen geräuschlos und beinahe partnerschaftlich ein Bündnis ein, das vor allem der FDP-Vorsitzende Christian Lindner vorher ein ums andere Mal ausgeschlossen hatte. Acht Monate später ist außer großen Gemeinsamkeiten in der Gesellschaftspolitik und einem Grundkonsens in der Außenpolitik nichts Gemeinsames mehr zu erkennen. Man habe die Koalition geschmiedet, weil CDU und CSU nicht konnten und „wir mussten“, sagte Lindner jetzt. Es klingt wie Zwangsehe. Und die sind in Deutschland eigentlich verboten.


Die FDP ist diese Ampel aus staatspolitischer Verantwortung eingegangen, weil CDU und CSU nicht regierungsbereit waren. Wir sind sie eingegangen, weil wir mussten. Aber wir sind in der Ampel, weil wir Gutes bewirken.

Christian Lindner

FDP-Vorsitzender und Bundesfinanzminister, im ZDF-Sommerinterview

 

Wie das Ausland auf die Lage schaut

Zu den Erfahrungen mit dem 9-Euro-Ticket heißt es im Londoner „Guardian“:

„In Deutschland war dies der Sommer der Eisenbahn. Im Juni hatte die von der SPD geführte Regierungskoalition ein stark subventioniertes und höchst populäres Ticket für öffentliche Verkehrsmittel zum Preis von 9 Euro pro Monat aufgelegt. Damit sollten Menschen veranlasst werden, das Auto stehenzulassen, und zugleich sollte der Anstieg der Lebenshaltungskosten abgemildert werden. Allein im Juni kauften 31 Millionen Menschen ein solches Ticket. Die jüngsten Daten legen nahe, dass sich die Zahl der Zugreisen auf Strecken zwischen 30 und 100 Kilometern im Vergleich zu der Zeit vor Corona verdoppelt hat.

Zweitweise waren die Züge völlig überfüllt. Und es ist unklar, inwieweit das Reiseverhalten in der Urlaubssaison relevant für die anderen Zeiten im Jahr ist. Zudem legen erste Analysen auch nahe, dass die Autonutzung konstant blieb. Doch in einer Nation, die berühmt ist für ihre Liebesbeziehung zum Auto, hat politische Fantasie mehr Menschen die Möglichkeiten des Bahnreisens nahegebracht und den Weg zu einer kulturellen Wende gewiesen, die den Null-Emission-Zielen entspricht.“


Die spanische Zeitung „El Mundo“ kommentiert das Projekt einer Pipeline für Erdgas von der Iberischen Halbinsel über die Pyrenäen durch Frankreich nach Mitteleuropa:

„Der Krieg in der Ukraine und Putins Erpressung mit fossilen Brennstoffen haben die Widersprüche im Energiebereich der EU-Staaten offengelegt. Unzählige Male hat zum Beispiel der deutsche Bundeskanzler die Politik beklagt, die Berlin seit so vielen Jahren betrieben und die zu einer absoluten Abhängigkeit von russischem Gas geführt hat. Die Scholz-Regierung braucht dringend Lösungen angesichts der Gefahr, dass Moskau den Hahn zudreht. Und es ist verständlich, dass der Kanzler nun darauf drängt, den Bau einer Gaspipeline von der Iberischen Halbinsel nach Frankreich wiederzubeleben, um ganz Europa mit Gas zu versorgen, ein Projekt, das vor 15 Jahren angedacht, aber dann eingestellt wurde.

Spanien verfügt über 35 Prozent aller Flüssiggasterminals in der EU und rund 50 Prozent der Speicher. Außerdem würde unsere Verbindung nach Algerien es uns ermöglichen, mehr Gas bereitzustellen. Spanien würde sozusagen zum Eingangshafen von Kraftstoff für Europa. Und die Gaspipeline würde nicht mehr nur dem Transport von Erdgas dienen, sondern auch grünen Wasserstoff durchleiten.“

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