Süddeutsche Zeitung hier 29. Juli 2022 Von Silvia Liebrich
Wohlstand und Konsum
Viele Menschen spüren es längst: Wir stecken in einer tiefen Krise. Das Zeitalter des grenzenlosen Konsums geht zu Ende, nun ist Maßhalten angesagt. Was das bedeutet und worauf es nun ankommt.
Ein paar Wochen kein Fleisch essen, auf Alkohol verzichten oder das Smartphone ausschalten, in der Fastenzeit lassen sich viele Menschen gern darauf ein. Viele empfinden es als erleichternd, ja sogar befreiend, zumindest für eine begrenzte Zeit auf manches zu verzichten, was sonst unabkömmlich erscheint. In einem Alltag, der von vermeintlich grenzenloser Verfügbarkeit geprägt ist - egal, ob es nun um Essen, Kleidung, Reisen, Freizeitspaß und mehr geht -, kann Verzicht reinigend auf Körper und Seele wirken.
Doch was, wenn der Verzicht auf Liebgewonnenes plötzlich zum Dauerzustand und das Sparen zur Notwendigkeit wird? Bei vielen Deutschen macht sich angesichts des bevorstehenden Winters schon jetzt ein flaues Gefühl im Magen breit. Gas zum Heizen der Wohnung und für den Betrieb wichtiger Industriezweige könnte knapp und teuer werden. Das Schreckgespenst der Inflation überschattet inzwischen viele Bereiche des Lebens. Wohlstand und Lebensstil scheinen plötzlich gefährdet.
Nun zeigt sich: Die Corona-Pandemie hat die Welt des modernen Konsums anfällig gemacht, Russlands Gas-Monopoly bringt sie nun ins Schlingern. Doch diese Krisen wirken allenfalls wie eine Art Brandbeschleuniger in einer ohnehin im Umbruch befindlichen Welt. Die eigentliche Ursache für den Niedergang der modernen Wohlstandsgesellschaft liegt tiefer.
Wie sehr unser exzessiver Lebensstil die Erde und das Klima strapazieren, ist diese Woche erneut deutlich geworden. Wälder, Wasser, Ackerland, Rohstoffe - die Menschheit verbraucht jedes Jahr mehr natürliche Ressourcen, als der Globus erneuern kann, allen voran die Länder des reichen Westens. 2022 fiel der Tag, an dem das Jahresbudget aufgebraucht war, auf den 28. Juli. Und er rückt jedes Jahr ein bisschen nach vorn. Würden alle Länder so haushalten wie Deutschland, wären nicht nur 1,75, sondern etwa drei Erden nötig. All das ist uns bekannt, trotzdem sind wir kaum bereit, sparsamer und nachhaltiger zu wirtschaften.
Das Leben auf Pump hat natürliche Grenzen
Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu erkennen, dass diese Rechnung auf Dauer nicht aufgeht. Das Leben auf Pump, auf Kosten künftiger Generationen, hat natürliche Grenzen. Irgendwann ist der Scheitelpunkt der Wachstumskurve erreicht, vermutlich schneller, als es so mancher wahrhaben will. Dem Zeitalter des Überflusses folgt zwangsläufig ein Zeitalter des Verzichts, in dem die Menschen lernen müssen, mit deutlich weniger auszukommen. Ob dieser Zeitpunkt tatsächlich jetzt schon gekommen ist, das wird erst der Rückblick in ein paar Jahrzehnten zeigen. Doch vieles deutet darauf hin, dass der Moment nicht fern ist. Wir müssen lernen, damit umzugehen.
Seit Ausbruch der Pandemie bohrt sich der Verzicht nach und nach in den Alltag der Menschen. Engpässe gab und gibt es nicht nur bei Klopapier, Mehl und Sonnenblumenöl, sondern auch in vielen anderen Bereichen, etwa in der Autoproduktion oder Energieversorgung. Ein E-Bike, die Wärmepumpe fürs Haus oder schlicht Ersatzteile für die kaputte Waschmaschine - schwer zu beschaffen. Die noch vor ein paar Jahren gut geschmierten weltweiten Lieferketten - plötzlich rostig und brüchig.
Doch niemand will auf Dauer freiwillig verzichten. Dies ist wohl eine der schwierigsten menschlichen Übungen überhaupt. Das macht den Umgang mit dem Thema auch für die Politik so schwierig. Unvergessen die unsägliche Debatte, ob ein fleischfreier Tag pro Woche in der Kantine zumutbar wäre oder nicht. Oder, ob es ein Eingriff in die persönliche Freiheit ist, wenn Parkplätze vor der eigenen Haustür in Fahrradwege umgewandelt werden.
Freiwillig verzichten? Das bleibt eine Utopie
Beispiele wie diese zeigen: Freiwilliger Verzicht ist eine Utopie, zumindest was den Großteil der Bevölkerung angeht. Der Blick in die Geschichte macht deutlich, dass oft erst schwere Krisen die Menschen dazu bewegten, schädliches Verhalten zu ändern. Nun ist eine Zeit angebrochen, in der gleich mehrere schwere Krisen zusammenkommen: Krieg, Klimakrise, Umweltzerstörung, Energie- und Rohstoffmangel.
All dies wirkt sich nun immer spürbarer auf die Weltwirtschaft aus. Knappheit und steigende Preise erzwingen im Privatleben unausweichlich den Verzicht, etwa auf die nächste Flugreise in den Urlaub, ein neues Handy oder den eigenen Pool im Garten. Auch der wöchentliche Besuch beim Italiener um die Ecke oder der Familienausflug in den Freizeitpark stehen plötzlich infrage.
Aber ist das wirklich so schlimm? Verzicht ist auch eine Frage der Perspektive. Gern wird verdrängt: Ein scheinbar grenzenloses Warenangebot, Lieferservice rund um die Uhr, das alles sind Phänomene der vergangenen zehn, höchstens zwanzig Jahre. Wie war das noch vor dem Amazon-Zeitalter? Einkaufen hat mehr Zeit gekostet. Vieles, was heute mal schnell bestellt wird, wurde vermutlich gar nicht erst gekauft, weil die Suche in Läden zu viel Mühe gemacht hätte oder das Budget schlicht nicht ausreichte.
Ein T-Shirt für fünf Euro, damals etwa 10 D-Mark, gab es in den Achtziger- und Neunzigerjahren nicht, genauso wenig wie eine Waschmaschine für 200 Euro. Kleidung, Haushaltswaren, Elektronik oder Essen, vieles war gemessen am Verdienst teurer als im Vergleich zu heute. Trotzdem hatten die Menschen zu jener Zeit nicht das Gefühl, Mangel zu leiden - ganz im Gegenteil. Doch Globalisierung und mit ihr die Digitalisierung haben einen Lebensstil gefördert, der alles andere als nachhaltig ist.
Der Blick in andere Regionen dieser Erde relativiert den Umfang des eigenen Verzichts. Die multiplen Krisen dieser Zeit treffen ärmere Länder und die Menschen dort ungleich härter. In Deutschland erreichte die Teuerungsrate im Juli 7,5 Prozent, in Ländern wie Pakistan liegt sie bei 20 Prozent oder noch höher. Viele Menschen dort wissen nicht, wie sie die nächste Mahlzeit finanzieren sollen, geschweige denn anderes. Über das Klagen der Deutschen würden sich die Menschen dort vermutlich nur wundern und gern mit ihnen tauschen.
Dass die Vorstellung, auf einen Teil des gewonnenen Wohlstands verzichten zu müssen, Angst bereitet, ist zugleich verständlich. Da hilft es, sich klarzumachen, dass sich ein erfülltes Leben nicht an der Zahl der unternommenen Kreuzfahrten oder der Größe des Kleiderschranks bemessen lässt. Verzicht wird nicht selten mit Verlust assoziiert, der für immer eine Lücke hinterlässt. Doch wo Lücken klaffen, entsteht auch Raum für Neues. Geht das Gas aus, kann es mittelfristig durch Energie aus Sonne, Wind und Wasser ersetzt werden. Dass dies nun im Eiltempo geschehen muss, verursacht vorübergehende Spannungen. Hart ist das etwa für Mieter und Unternehmen, die nicht einfach ausweichen können. Doch so entsteht auch ein Handlungsdruck, der den Abschied von klimaschädlichen fossilen Brennstoffen beschleunigt. Er bringt erneuerbare Energien schneller zum Einsatz, die auf lange Sicht nicht nur günstiger, sondern auch klimafreundlich sind.
Die Aussicht auf Verzicht ist so gesehen kein Grund, in Panik zu verfallen. Er lässt sich abmildern und steuern. Wichtig ist es nun, die bevorstehende Transformation erträglich zu machen und jene zu unterstützen, die am stärksten unter ihr leiden. Dafür braucht es mutige Politiker, die den Ernst der Lage so gut erklären, dass Wähler bereit sind, den mühsamen Weg des Wandels mitzugehen. Und es braucht Politiker, die bereit sind, notfalls auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen.
Kritisch wird es, wenn die Grundversorgung gefährdet ist
Grenzen muss Verzicht dort haben, wo die Grundversorgung des täglichen Lebens gefährdet ist. Bietet der Bäcker wegen Gasknappheit nur noch zehn statt wie gewohnt zwanzig Brötchensorten an, tut das niemand weh. Ein Problem haben jene, die sich kein Brot oder Brötchen mehr leisten können. Eine Wohnung, die statt 21 Grad nur noch 18 oder 19 Grad erreicht, ist zumutbar. Nicht zumutbar ist es, wenn das Heizen an sich unerschwinglich wird.
Für ein reiches Land wie Deutschland heißt das, es muss Vermögende und Besserverdiener stärker in die Pflicht nehmen, damit schlechter Gestellte entlastet werden können. Nur so lässt sich ein gefährliches soziales Auseinanderdriften der Gesellschaft bremsen. Klar muss aber auch sein, dass es nicht Aufgabe des Staates sein kann, alles und jeden zu retten. Selbst wenn er wollte, er kann es nicht, weil dafür schlicht das Geld fehlt.
Der Staat muss sich darauf konzentrieren, den nachhaltigen Umbau der Wirtschaft zu fördern, nicht einen schädlichen Status quo zu erhalten. Ein Negativbeispiel für Letzteres ist der Tankrabatt für Autofahrer, der Milliarden kostet und den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen nur hinauszögert. Geld, das an anderer Stelle viel besser eingesetzt wäre, etwa beim Ausbau des maroden Bahnnetzes oder bei der energetischen Sanierung von Häusern.
Auch die Wirtschaft muss lernen, mit weniger auszukommen. Unternehmen, die schon jetzt mit Rohstoffen und Wasser sparsam umgehen und klimaneutral wirtschaften, haben inzwischen klare Wettbewerbsvorteile. Die Energiekrise macht deutlich, dass nur ein schneller und effizienter Umbau von Industrie und Gewerbe die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland sichern kann.
Bedeutet Verzicht zwangsläufig ein schlechteres Leben, wie viele Menschen befürchten? Mit einem klaren Ja oder Nein lässt sich das nicht beantworten. Die Antwort hängt davon ab, wie der Umbruch gestaltet und der Mangel verwaltet wird, wie gut es gelingt, Alternativen zu finden, und wie vorhandene lebenswichtige Ressourcen wie Lebensmittel und Wasser, aber auch Energie und Wohnraum gerecht verteilt werden.
Ohne staatliche Lenkung - und dazu gehört auch Zwang - lassen sich Wirtschaft und Gesellschaft nicht zukunftstauglich umbauen. Der Staat muss jene stützen, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind und jene zum Verzicht zwingen - etwa beim Verursachen von Treibhausgasen -, die sich dank ihres Vermögens darum drücken wollen.
Es liegt in der Natur des Menschen, Unvermeidliches aufzuschieben, bis es nicht mehr anders geht. Genau das ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten passiert. Die Folgen der Klimakrise verursachen heute bereits riesige irreparable Schäden, die in den nächsten Jahren noch größer werden, wenn nicht endlich ein beherzter Kurswechsel vollzogen wird.
Eine Gesellschaft, die über das Wissen und die Möglichkeiten verfügt, die Grundlagen des menschlichen Lebens für die Zukunft zu erhalten, steht auch in der Pflicht, dies zu tun. Verzicht steht so gesehen nicht für Verlust, sondern für eine Chance. Die Chance, sich selbst und auch künftigen Generationen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen.
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