Samstag, 6. August 2022

Gartenkultur: "Wir pflanzen hier Hoffnung"

 Süddeutsche Zeitung  hier   5. August 2022, Von Julia Rothhaas

Was für eine tolle Idee! Man möchte am Liebsten gleich loslegen und Pflanzplätze suchen.
Bei uns in der Gegend gibt es ja auch einige Lehrpfade, die alte Obstsorten erhalten sollen (hier). Auf Anhieb fällt mir der Obstlehrpfad von Frickingen ein und die Sammlungen in Überlingen: Hödingen hier und im Rauensteinpark. 
Auch wenn man keinen Zugang zur Süddeutschen hat, lohnt sich ein Click auf den Link um das fantastische Foto des vollen Obstkorbes zu sehen. Siegfried Tatschl  hat ihn nur mit Früchten gefüllt, die er in seinem Heimatort geerntet hat. 

Früher war Siegfried Tatschl Psychotherapeut, mittlerweile hat er in seinem niederösterreichischen Heimatort mehr als 250 Obstsorten gepflanzt - und jeder pflückt, was ihm schmeckt. Zu Besuch im Garten Eden, bei einem Mann, der Frucht und Mensch zusammenbringen will.

Hinter dem Haus von Siegfried Tatschl trifft sich die große weite Welt: Der Granatapfelbaum aus Russland wächst friedlich neben der ukrainischen Marillen-Wildaprikosen-Kreuzung von der Krim, während sich die chinesische Kaki prächtig neben dem Walnussbaum aus Japan macht. "Die Artenvielfalt im Garten zeigt den Menschen, wie es gehen könnte", sagt Tatschl. Auch wenn er damit keinen Einfluss auf die Weltpolitik hat, so hat er doch recht, wenn er sagt: "Wir pflanzen hier Hoffnung."

In und um Kirchberg am Wagram, knapp 70 Kilometer nordwestlich von Wien, hat Siegfried Tatschl mehr als 250 verschiedene Obstarten gepflanzt, von manchen gibt es gleich mehrere Sorten, zum Beispiel von Birne, Mispel und Quitte. Einiges wächst angeblich sogar erstmalig im deutschsprachigen Raum, wie die Strandpflaume, die amerikanische Strauchkirsche oder Pawpaw - die Indianerbanane. Nie gehört? Kein Wunder, bei dem Angebot im deutschen Supermarkt.

Wenn es exotisch werden soll, gibt es Kiwis oder Dosenananas, Sortenvielfalt Fehlanzeige.
Für Siegfried Tatschl ist die Kiwi dagegen eine äußerst heimische Frucht, vom Wandspalier in seinem Innenhof hat er im vergangenen Jahr gleich 46 Kilo geerntet. Ist doch schade, findet der 63-Jährige, so viel mehr Menschen könnten so viel mehr Auswahl in ihrem Garten haben: "Der deutsche Botaniker und Arzt Johann Sigismund Elsholtz führte 1672 in seinem Verzeichnis mehr als 800 Birnensorten. Von so einer Vielfalt können wir heute nur träumen."

Dabei geht es um deutlich mehr als um einen bunten Früchtekorb auf dem Esstisch. "Obst, das klingt immer so niedlich. Aber ausgelaugte, vergiftete Böden, wenig Regen, ein Klima, das sich stark verändert: Wir müssen mit einer größeren Auswahl an Nahrungsmitteln doch vor allem unsere Lebensgrundlage erhalten", sagt Tatschl. Die Maulbeere etwa sei unschlagbar trockenheitsresistent und robust gegen Schädlinge. Vor etwa 60 Jahren war der bis zu zehn Meter hohe Baum mit seinen herzförmigen Blättern noch in der Landschaft zu finden, nun erlebt er als bislang unbekannte Kultursorte langsam sein Comeback. Viel zu langsam, schließlich ist die tiefschwarze längliche Beere eine der köstlichsten Früchte, die man je gegessen hat. Klar, dass sie auch "Engelsgeschenk" genannt wird.

Siegfried Tatschl sieht sich als Moderator zwischen Frucht und Mensch. Beides zusammenzubringen, ist dem ruhigen, besonnenen Mann bereits oft gelungen. Als er 2003 in Kirchberg den ersten Obstbaum im öffentlichen Raum pflanzte, war das Geschrei groß. Obst? Dann doch lieber einen Parkplatz aus der brachen Freifläche machen. Doch weil Tatschl zuvor bereits fleißig Felsenbirnen, Weichseln, Johannis- und Maibeeren vor Kindergarten und Schule gesetzt hatte, bekam er Unterstützung aus der Gemeinde und durfte schließlich den "Alchemistenpark" anlegen, in dem vor allem unterschiedliche Beeren zu finden sind: Elsbeere, Mehlbeere, Papiermaulbeere, Allackerbeere, Rebhuhnbeere, Loganbeere, Taybeere, aber auch Berberitzen, Erdkirschen und Kakis. Jeder darf zugreifen, an den Bäumen und Sträuchern hängen vom Frühling bis zum Frost durchgängig Früchte und Nüsse. Gartenbesitzer holen sich hier inzwischen Anregungen für ihr eigenes Stück Grün, vor allem aber begegnen sich dort Menschen, die im Alltag kaum Überschneidungen haben.

Der gemeinsame Nenner ist die Süße. "Schon unsere Vorfahren wussten, wo Gutes zu finden ist. Mensch und Bär haben sich immer bei den Beeren getroffen", sagt Tatschl. Zudem besteche bei der Frucht das Unmittelbare, da werden Kindheitserinnerungen wach: Vom Baum oder Strauch pflücken und in den Mund stecken hat mehr Magie, als mit der Zucchini unterm Arm nach Hause zu gehen, um sie anzubraten. Den Begriff "naschen" vermeidet der ehemalige Psychotherapeut dabei bewusst, "das verfälscht, um was es eigentlich geht, nämlich um Lebensraumgestaltung, soziale Interaktion, Ernährung". Wer nascht, isst hingegen was Verbotenes, Ungesundes.

Doch wer weiß schon, dass sich die Blüten der Mehlbeere als Tee eignen und die Beeren hervorragend in Muffins schmecken? Dass der Geschmack einer reifen Indianerbanane an Mango oder Vanille erinnert und man daraus auch Eis oder Shakes machen kann? Und dass die kleinen Beeren der Narde, des Amerikanischen Angelikabaums, besonders gut zu Himbeeren im Joghurt passen? "Die Obstvielfalt zu erhalten und dann auch zu erklären, ist Aufgabe der Politik", findet Tatschl. Deswegen hat er dafür gekämpft, dass es im öffentlich zugänglichen Alchemistenpark der "Essbaren Gemeinde", wie sich Kirchberg mit acht weiteren umliegenden Orten inzwischen nennt, Schilder gibt, die erklären, woher ein Baum kommt und wie man seine Früchte verwenden kann. "Man braucht aber Geduld: Es hat Jahre gedauert, bis jemand darauf kam, die Früchte des Blumenhartriegel zu essen - trotz Schild", sagt Tatschl. Hinter der Schale, die einer Litschi nicht unähnlich ist, steckt ein hell-cremiges Fruchtmark. "Doch dann hat irgendjemand mal damit angefangen. Inzwischen muss man schauen, dass man überhaupt noch eine reife Frucht abbekommt."

Siegfried Tatschl steigt über die grünen Terrassen hinter seinem Haus, einer alten umgebauten Schmiede, und holt sich für seinen Tomatensalat Portulak und dunkles Basilikum, das nach Zimt schmeckt. Natürlich steckt er sich während seines Rundgangs Maulbeeren und Suhosinen in den Mund, ein Brennnesselgewächs aus Asien mit gelborangenen Mini-Beeren, in Sichtweite steht seine blauen Kaki, die hoffentlich 2023 so weit ist. Die Liebe zur Botanik zieht sich durch sein Leben. Schon als Kind bestimmte er liebend gern Pflanzen; bis heute weiß er, wo die Narzissen im Garten der Großeltern standen, bevor der Bagger kam und alles plattmachte, eine traumatische Erfahrung.

Später, bei seinem ersten Job als Therapeut im Strafvollzug, konnte er beobachten, wie gut seinen Patienten, überwiegend Sexualstraftäter, die Beschäftigung im Garten tat. Aus Projekten an der Schule seiner beiden Kinder wurde über die Jahre ein Lebenswerk. Heute berät er Gemeinden, die ein ähnliches Konzept umsetzen wollen wie Kirchberg mit seinen knapp 3800 Einwohnern, er berät Baumschulen und vermittelt seltene Sorten mitunter in die Gastronomie, zu Spitzenköchen wie Andreas Döllerer in Golling oder Heinz Reitbauer in Wien. Tatschl recherchiert und archiviert, 2015 veröffentlichte er ein Buch mit dem imposanten Titel "555 Obstsorten". Im gleichen Jahr wurde er für sein Engagement mit dem Europäischen Preis für ökologisches Gärtnern im öffentlichen Raum ausgezeichnet.

Nicht nur sein botanisches Wissen hilft Siegfried Tatschl bei seinen Pflanzprojekten, sondern auch, weil er weiß, wie Menschen ticken. "Viele haben Angst, dass jemand ihnen was wegessen könnte in so einem öffentlichen Garten. Dabei ist es eigentlich gut, wenn es Ärger gibt", sagt Tatschl. Nur dann komme man überhaupt in Kontakt. "Wenn da ein Apfel hängt und vier Hände danach greifen, kann entweder darum gekämpft werden oder man kommt auf die Idee, ihn zu vierteln."

Deswegen hat er sich das Konzept der "Fruit Streetworker" ausgedacht, die vermitteln, wenn der eine zu viel erntet und der nächste leer ausgeht. Die Mitarbeiter der Gemeinde sollen entlang der essbaren Hecken zum Ernten ermutigen, aufklären, wie äußerst selten es zu Giftunfällen durch den Verzehr von Beeren oder Obstsorten kommt, und sie sollen Fallobst entfernen, um Wespen nicht anzulocken und Flecken auf Bürgersteigen oder Autos zu vermeiden (der Grund für das lauteste Gejammer bei jedem Versuch, irgendwo einen Obstbaum zu pflanzen). Auch die Sorge, dass mit den Bäumen nicht pfleglich genug umgegangen wird, lässt sich gut umschiffen: "Mitmachen lautet die Devise! Wer selbst Mini-Terrassen oder Kastenbeete anlegt, geht damit anders um."

Noch eine weitere Diskussion kennt Tatschl aus Gemeinderatssitzungen zu gut: Wie viel Unbekanntes wollen wir eigentlich in unsere Gärten lassen? Er fragt die Nörgler dann immer nach heimischen Obstsorten. "Als Antwort kommen Apfel und Birne. Falsch: Der Apfel stammt ursprünglich aus Kasachstan, die Birne aus dem Kaukasus und Usbekistan." Das Gedächtnis in Sachen Früchte ende meist mit der Großelterngeneration, deswegen schlage er den Begriff "Neue Exoten" vor für Indianerbanane und Co. Alte Exoten wie der Apfel haben sich schließlich längst etabliert. Es wird also höchste Zeit für Neues.

Es hat geregnet, endlich, also schlüpft Siegfried Tatschl in seine Gummistiefel und stapft auf die andere Straßenseite. Er möchte sehen, ob sich die ausgetrockneten Himbeersträucher etwas erholt haben. Gegenüber von seinem Haus hat er sich ein weiteres Paradies geschaffen, das sich liebevoll als grünes Chaos beschreiben lässt: Auf 3300 Quadratmetern wachsen überall Wildsträucher und Obstbäume, am Boden hilft Mulch beim Düngen und Kühlen, im Totholz haben Nützlinge Unterschlupf gefunden, als Orientierung führt ein Pfad durchs Grün. Unter ein paar Birken hat er Baumstümpfe als Hocker gestellt, "meine Lichtung", zum Durchschnaufen, "schließlich bin ich im Wald aufgewachsen".

Den Acker hat er vor 25 Jahren gekauft, damals pure Monokultur, so wie auf den Feldern nebenan bis heute. "Da lebt nix mehr." Anders bei ihm, Tiere in klein und groß haben da Unterschlupf gefunden. Ein Vierteljahrhundert mag für Menschen eine lange Zeit sein, doch: "Beim Obst braucht man eben ein anderes Durchhaltevermögen als beim Gemüse. Ein Radieschen keimt innerhalb weniger Tage, manche Zitronenbäume brauchen 30 Jahre und mehr, bis sie das erste Mal fruchten", sagt Tatschl. Dafür bleiben sie einer Familie über Generationen treu.

Baumschulen aus aller Welt melden sich regelmäßig bei Siegfried Tatschl mit neuen oder hierzulande noch unbekannten Sorten, die er dann weitervermittelt. Sein halber Garten steht voller Töpfe, in denen Jungpflanzen mit Namen stecken, die man noch nie gehört hat. Vor ein paar Monaten hat er einen Gerber-Sumach aus der Türkei bekommen, kein Obst, dafür ein säuerliches Gewürz, das er sich ewig gewünscht hat. Und dann ist da noch die Pistazie, die schon bald vor seinem Schuppen groß werden soll. Warum Pistazie? Tatschl will wissen, ob sie mit unserem Klima klarkommt. Außerdem isst er sie für sein Leben gern.

Die neuen Exoten im Obstgarten

Suhosine (Debregeasia edulis): Überwintert gern im Haus, ist mit der Brennnessel verwandt und hat kleine süße Beeren.

Maibeere (Lonicera kamtschatica): Die bläulich-violetten Früchte sind oval und schmecken angenehm süß-sauer.

Schwarze Maulbeere (Morus nigra): Gibt es auch in vielen anderen Farben und sieht aus wie eine langgezogene Brombeere.

Taybeere (Rubus fruticosus x Rubus idaeus): Kreuzung aus Brom- und Himbeere.

Erdkirsche (Physalis pubescens): Keimt von selbst im Beet. Die reifen gelben Früchte fallen ab und sind gut lagerfähig.

Allackerbeere (Rubus arcticus): Ursprünglich aus Skandinavien. Die purpurroten Früchte werden mit Stiel gepflückt.

Chums (Prunus besseyi x Prunus salicina): Kreuzung aus der Westlichen Sandkirsche und der Japanischen Pflaume. Die Früchte sind etwas größer als Kirschen.

Strandpflaume (Prunus maritima): Stammt aus Nordamerika und hält bis zu minus 40 Grad aus. Fachkreise meinen: völlig unterbewertet, hat hohes Potential.

Koreanische Berberitze (Berberis koreana): Wird bis zu 2 Metern hoch, die Früchte erinnern an Preiselbeeren.

Amerikanischer Angelikabaum oder Narde (Aralia racemosa): Die kleinen Beeren machen sich mit Himbeeren gut im Jogurt.

Chinesischer Blumenhartriegel (Cornus kousa): Schöne Blüten und Früchte, die am besten frisch schmecken.

Niederliegende Rebhuhnbeere (Gaultheria procumbens): Die Pflanzen riechen nach Krankenhaus, die Früchte schmecken aber als Marmelade oder auf Kuchen.

Chinesische Dattel oder Jujube (Ziziphus jujuba): Das Fruchtfleisch erinnert an den Geschmack von Karamell. In der chinesischen Medizin als Dattel-Sirup oder Trockenfrüchte bewährt.

Indianerbanane oder Pawpaw (Asimina triloba): Als Baum bis zu 5 Metern hoch, im Herbst herrlich gelbe Blätter. Die Frucht schmeckt nach Mango oder Vanille. Eignet sich für Eis, Sorbets, Marmelade, Shakes.

Seidenraupenbaum oder Che (Cudrania tricuspidata): Aus der Familie der Maulbeergewächse. Pflegeleicht mit Früchten, die geschmacklich an Melonen erinnern.

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