Spiegel 12.02.2023 Eine Kolumne von Christian Stöcker
Die Welt fürchtet sich vor Energieknappheit und Inflation – und Ölkonzerne machen Rekordgewinne. Der Chef von BP nimmt das zum Anlass, die eigenen Klimaziele zu kippen. Das passt ins (Krankheits-)Bild.
Wenn man sich über den aktuellen Zustand der Welt Gedanken macht, verfällt man schnell auf Vergleiche aus dem Bereich der Medizin. Was die Menschheit mit dem Planeten und der Biosphäre anstellt, hat etwas eindeutig Pathologisches: Der Planet hat Fieber. Unkontrolliertes, zerstörerisches Wachstum nennen wir gemeinhin Krebs.
Der Vergleich von Wirtschaftswachstum und Krebs klingt sehr brutal, ja aktivistisch, übertrieben, tendenziös. Das ist er aber nicht: Die vorliegenden Daten zeigen sehr klar, dass das Wachstum, das die Weltwirtschaft in den vergangenen etwa 200 Jahren durchlebt hat, die Trägerwelle für die hochgefährlichen Entwicklungen ist, mit denen wir es heute zu tun haben. Zuallererst natürlich Klimakrise und Artensterben .
Wir wuchern mit unseren wirtschaftlichen Aktivitäten die Biosphäre kaputt.
Tumorwachstum = Muskelmasse?
Im Moment verhalten wir uns wie ein Bodybuilder, der an Krebs leidet, aber jedes Tumorwachstum erfreut als Zugewinn an Muskelmasse umdeutet.
Das Wachstumsmaß Bruttoinlandsprodukt (GDP), das seit vielen Jahrzehnten als Richtschnur für den Wohlstand der Nationen herhalten muss, tut leider genau das: Es kann zwischen Krebs und Muskeln nicht unterscheiden. Gerade gibt es wieder einen neuen Vorstoß , das Wachstumsmaß GDP endlich durch eins zu ersetzen, das die Menschheit nicht mehr auf den Abgrund zuträgt, sondern ihr sogar nützt. Denn das GDP ignoriert Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, Klimakatastrophe und andere Fehlentwicklungen.
In Deutschland nennen wir das »Dieselskandal«
Was zu einer weiteren Kategorie aus dem klinischen Bereich führt, diesmal aus der Psychiatrie. Der kanadische Juraprofessor Joel Bakan hat das in einem Buch und einem darauf basierenden Dokumentarfilm schon 2004 einmal so formuliert: Ein moderner Konzern verhält sich im Kern wie ein Psychopath. Der Begriff Psychopathie ist in Psychologie und Psychiatrie mittlerweile allerdings nicht mehr gebräuchlich, weil er, wie viele Diagnosebegriffe, zum Schimpfwort verkommen ist.
In der fünften Ausgabe des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-5) heißt das Störungsbild »antisoziale Persönlichkeitsstörung«. Und tatsächlich liest sich der Kriterienkatalog für diese Diagnose zum Teil wie eine Beschreibung ganz normaler Geschäftspraktiken internationaler Konzerne.
Geschäftshindernis Gewissen
Zum Beispiel gehört zum Störungsbild: »Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen« und »Lügen, Täuschung und Manipulation zum eigenen Nutzen oder Amüsement«.
In Deutschland nennen wir so etwas zum Beispiel »Dieselskandal«. Man könnte aber auch an die mit hohem finanziellen Aufwand über Jahrzehnte völlig bewusst betriebene Klimawandelleugnungs- und Desinformationskampagne der Kohle- und Ölkonzerne denken.
Generell gilt die antisoziale Persönlichkeitsstörung als »ein durchdringendes Muster der Missachtung von Konsequenzen und der Rechte anderer«. Solches Verhalten, so schrieb Joel Bakan schon im Jahr 2004, ist in Unternehmen, die nun einmal rein profitorientiert sind, strukturell eingebaut. Das liegt nicht daran, dass die Leute, die in großen Firmen in Managementpositionen sitzen, allesamt rücksichtslose Psychopathen wären. Von reinem Profitstreben getriebenes Handeln erzeugt gewissermaßen automatisch Ergebnisse, die denen einer antisozialen Persönlichkeitsstörung zum Verwechseln ähnlich sehen.
Ein Gewissen ist beim Geschäftemachen nur hinderlich.
Bezahlen wird die ganze Menschheit
Auch dafür liefern alle großen Ölkonzerne laufend Beispiele: Sie planen, gewaltige neue Öl- und Gasvorkommen zu erschließen und neue Pipelines zu bauen, in aller Welt: in Guyana, im Golf von Mexiko, in Libyen, in Tansania, Mosambik, Südafrika. Das kann, soviel ist sicher, weder das Klima noch die Menschheit verkraften .
Uno-Generalsekretär António Guterres forderte kürzlich ein Ende für »die bodenlose Gier der Brennstoffindustrie und ihrer Unterstützer«. Er fuhr mit einer »speziellen Botschaft« für die Fossilbranchen fort: »Wenn Sie keinen glaubwürdigen Kurs für Netto-Null-Emissionen vorweisen können, mit Zielen für 2025 und 2030, die alle ihre Operationen betreffen, sollten Sie nicht mehr im Geschäft sein.«
Die unglaublichen Gewinne der Ölkonzerne
Firmen verhalten sich aber eben, ab einer gewissen Größe, automatisch rücksichtslos und potenziell kriminell. Es gibt unglaublich viele Beispiele dafür.
Ein aktuelles hat diese Woche der Ölkonzern BP geliefert. Für BP und die anderen großen Ölfirmen laufen die Geschäfte gerade prächtig: Shell vermeldete Anfang Februar einen Jahresgewinn von etwa 40 Milliarden Dollar für 2022, was eine Verdoppelung der Gewinne zum Vorjahr darstellt. So viel hat das Unternehmen in 100 Jahren Firmengeschichte noch nie in einem einzigen Jahr verdient. ExxonMobil machte 2022 noch mehr Profit, nämlich 56 Milliarden Dollar, Chevron kam auf 37 Milliarden. Nur, falls Sie sich fragen, wo die Inflation eigentlich herkommt.
Insgesamt haben die »Big Oil« genannten Ölkonzerne der Welt im Kriegsjahr 2022 Reuters zufolge 219 Milliarden Dollar verdient (nicht umgesetzt). Die Klimakatastrophe ist sehr lukrativ. Für manche.
Noch mehr aus dem Boden pumpen
BP – Jahresgewinn: fast 28 Milliarden Dollar – reagierte auf seine gewaltigen Einnahmen mit einer Ankündigung, die hervorragend zum oben skizzierten Störungsbild passt. CEO Bernard Looney erklärte, dass er die eigenen Klimaziele nun aufkündigen werde. Ursprünglich wollte BP seine Emissionen bis 2030 um 35 bis 40 Prozent absenken. Jetzt, da das Geld so sprudelt, sollen es nur noch 20 bis 30 Prozent werden .
Das sei nun einmal das, »was Regierungen und die Gesellschaft rund um die Welt wünschen«, so Looney zur Begründung .
Die Klimakrise wird uns aber Verdrängung nicht danken. Physik interessiert sich nicht für die Marktgängigkeit von Produkten, sie macht keine Ausnahmen und gewährt keinen Aufschub.
Sogar den Investoren wird mulmig
Interessanterweise sind sogar viele BP-Investoren weiter als der CEO. Die Ankündigung, doch mehr Roh-CO₂ fördern zu wollen, werfe »eine bedeutsame Frage der Unternehmensführung auf«, so Bruce Duguid von der Vermögensverwaltung Federated Hermes , die über 600 Milliarden Dollar Anlagevermögen verwaltet. Schließlich hätte ein großer Teil der Investoren die bisherigen Reduktionsziele vor erst neun Monaten voll und ganz unterstützt.
Sogar diejenigen, die an den antisozialen Geschäftspraktiken verdienen, bekommen mittlerweile also Gewissensbisse. Auch Investoren haben Kinder und Enkel.
Solange das Optimierungsziel der Fossilbranchen – möglichst viel Geld mit dem Verkauf von Roh-CO₂ verdienen – aber uneingeschränkt und legal bleibt, solange es einen Markt für ihre giftigen Produkte gibt, wird sich an deren Verhalten nichts ändern. Es ist ja, innerhalb der engen, engstirnigen, in diesem Fall: suizidalen Gesetze des Marktes völlig rational. BP ist eine Organisation zur Erzeugung von Geld, nicht mehr und nicht weniger. Ein Konzern hat kein Gewissen.
Folgerichtig sollte man schleunigst aufhören, Lobbyisten dieser Branchen in Entscheidungen über künftige nationale und internationale Regelungen einzubinden. Es muss unbedingt verhindert werden, dass die nächste COP-Klimakonferenz ausgerechnet vom Chef eines arabischen Ölkonzerns geleitet wird. Die Bundesregierung sollte alles Erdenkliche tun, das zu verhindern. Es kann mit Firmen, deren Geschäftsmodell im Widerspruch zum Fortbestand der Zivilisation steht, keinen »Interessenausgleich« geben.
Man fragt ja auch nicht den antisozialen Dealer, wie er sich die Drogengesetzgebung der Zukunft so wünschen würde.
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