Donnerstag, 12. September 2024

Fahrradparadies Deutschland: Diese Studie sollte Verkehrsminister Wissing dringend lesen

 Studie zum Radverkehr - so könnte es gehen. ABER: wir brauchen einen klaren politischen Willen!

Perspective daily  hier   von  Ingwar Perowanowitsch12. September 2024  

Kann Deutschland mit der passenden Infrastruktur eine Fahrradnation wie die Niederlande werden? Was würde das für den Klimaschutz bedeuten? Eine neue Studie gibt erstaunliche Antworten auf diese Fragen.

Die Klimabilanz im Verkehrssektor ist ernüchternd. Seit 1990 konnten die CO2-Emissionen nur geringfügig verringert werden. Jedes Jahr klafft die Lücke zu den gesetzlich festgeschriebenen Klimazielen immer weiter auseinander. Knapp 146 Millionen Tonnen CO2 wurden 2023 auf Straßen, Schienen und in der Luft ausgestoßen – 13 Millionen Tonnen mehr als nach dem Klimaschutzgesetz erlaubt.

Ebenso ernüchternd ist die Performance von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing, der in seiner bisherigen Amtszeit nicht einmal den Anschein erweckt hat, die Klimaziele erreichen zu wollen. Stattdessen hat er dafür gesorgt, dass das Klimaschutzgesetz so entkernt wurde, dass er sich nun die gesamte Legislaturperiode aus der Verantwortung stehlen kann. Seine Untätigkeit ist nicht nur eine Bürde für nachfolgende Generationen. Es ist vor allem eine Bürde für seinen oder seine Nachfolger:in.

Wie kommt der Verkehrssektor nach Wissing wieder auf Kurs und welche Potenziale liegen derzeit ungenutzt auf der Straße?

Um eine Teilantwort auf diese Frage zu finden, hat der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) kürzlich mit einer Studie beauftragt. Sie sollte das genaue Klimapotenzial eines bislang unterschätzten Verkehrsmittels untersuchen: des Fahrrads. Es ist zwar allgemein bekannt, dass Fahrradfahren eine erheblich bessere Klimabilanz als Autofahren hat. Doch wie hoch genau sein Beitrag zum Klimaschutz wäre, wenn wir das Potenzial des Zweirads maximal ausschöpften, war bis jetzt nicht bekannt.

Das Fahrrad: Status quo in Deutschland

Bevor wir uns die Ergebnisse der Studie anschauen, eine kleine Bestandsaufnahme. Im Jahr 2023 haben Menschen in Deutschland laut Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für 12% ihrer Wege das Fahrrad genutzt. Damit steigerte sich der Radverkehr im Vergleich zu 2017 um 1%.

Der Grund: Die Infrastruktur verbessert sich langsam, aber stetig und es gibt einen anhaltenden E-Bike-Boom, der neue Gesellschaftsgruppen aufs Fahrrad lockt. Der große Durchbruch ist das allerdings noch nicht, obwohl Umfragen belegen, dass viel mehr Menschen grundsätzlich bereit wären, mehr Fahrrad zu fahren. Es klafft also eine Lücke zwischen Absicht und Handeln. Warum eigentlich?

Das liegt in der Natur der Sache. Die Entscheidung fürs Fahrrad ist weniger von objektiven Faktoren wie der Fahrtdauer abhängig, sondern viel mehr von subjektiven Faktoren wie Sicherheit und Komfort. Gelingt es Kommunen, diese beiden letzten Faktoren zu steigern, wagen sich mehr Menschen aufs Rad. Da bislang in vielen deutschen Städten die Radinfrastruktur erhebliche Defizite aufweist, werden Menschen, die in der Theorie offen fürs Fahrrad sind, in der Praxis davon abgehalten.

Bringt man also die Qualität der Radwege mit den Ansprüchen der Radfahrenden in Einklang, werden sie umsteigen. Daher wird in der Verkehrsforschung dem Verkehrsmittel Fahrrad das größte Steigerungspotenzial zugeschrieben.

Dieses Potenzial hat zumindest auf dem Papier auch die Bundesregierung erkannt. Im nationalen Radverkehrsplan 3.0, dem offiziellen Strategiepapier zur Förderung des Radverkehrs, wird bis 2030 ein Anteil von 15% aller zurückgelegten Wege anvisiert. Ausgehend vom Basisjahr 2017, bedeutet das eine Steigerung um 4%. Wie genau das gelingen soll und welche Zielmarken dabei erreicht werden müssen, bleibt jedoch unklar.

Mit ambitionierteren Maßnahmen für den Radverkehr könnte sich die Zunahme in den nächsten Jahren ver-3-fachen. – Quelle: BMDV | Fraunhofer-Institut ISI

Mind the gap: So soll die Fahrradlücke in Deutschland geschlossen werden

Diese Lücke schließt die neue Studie des Fraunhofer-Instituts. Sie greift die Ziele des nationalen Radverkehrsplans auf und ergänzt sie um ein neues Leitbild: »Fahrradland Deutschland 2035« heißt die Vision. Mit ihr wollen die Autor:innen einen Weg aufzeigen, mit dem die Ziele aus dem nationalen Radverkehrsplan alle erreicht werden, indem sie ambitioniertere Maßnahmen zugrunde legt und den Zeitrahmen um 5 Jahre verlängert. Die Forschungsfrage lautet: Wie hoch könnte der Anteil des Radverkehrs maximal sein, wenn alle politischen und bürokratischen Hürden überwunden wären und Deutschland bis 2035 eine flächendeckende, sichere und mit anderen Verkehrsmitteln integrierte Fahrradinfrastruktur hätte, ähnlich wie sie in den Niederlanden vorzufinden ist?

In der Herangehensweise haben sich die Forschenden vorbildhafte Fahrradstädte, unter anderem Amsterdam oder Kopenhagen, genauer angeschaut, deren Erfolgsrezept analysiert und Lücken identifiziert, die zur vollendeten Fahrradstadt noch fehlen. Basierend auf diesen Erkenntnissen leiteten sie folgenden 3 Bausteine ab, auf denen eine vollendete Fahrradstadt beruhen muss:

    Baustein 1: Einladende Infrastruktur

Das Rückgrat einer jeden Fahrradstadt ist die Infrastruktur, die Kommunen Fahrradfahrer:innen bereitstellen, damit sich diese sicher und willkommen fühlen. »Sicher« bedeutet vor allem die konsequente Trennung der Radwege vom motorisierten Verkehr an Straßen und Kreuzungen. »Willkommen« bedeutet, dass die Radwege so attraktiv gestaltet und geführt werden, dass Radfahren Spaß macht. Das zusammen ist die erste und wichtigste Säule einer jeden Fahrradstadt.

Studien belegen, dass es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Verbesserung der Infrastruktur und Steigerung des Radverkehrs gibt. So verzeichnete Paris zwischen 2000 und 2018 einen Zuwachs an Radwegen um 415% und erlebte einen Anstieg des Radverkehrs um 385%. Sevilla baute sein Radwegenetz zwischen 2006 und 2017 um 228% aus und erntete 465% erhöhten Radverkehr. Andere Städte wie Kopenhagen, Amsterdam, Freiburg oder Wien verzeichnen eine ähnlich enge Korrelation. In Deutschland bräuchte es laut der Autor:innen der Studie eine Ver-3-fachung des bisherigen Radwegenetzes sowie eine qualitative Aufwertung.

    Mehr Radwege führen zu mehr Radverkehr!


    Baustein 2: Fahrrad im Umweltverbund

Die zweite Säule ist laut Studie die Integration des Fahrrads in den öffentlichen Personenverkehr. Häufig konkurrieren Fahrrad, Bus und Bahn um die gleiche Kund:innenschaft. Daher besteht die Gefahr, dass eine leistungsfähige Fahrradinfrastruktur den ÖPNV schwächt und ein leistungsfähiger ÖPNV den Radverkehr schwächt. Wenn ÖPNV und Fahrrad allerdings als Partner gedacht werden und erkannt wird, dass viele Menschen bereit sind, auch 2 Verkehrsmittel für einen Weg zu nutzen, ist es möglich, dass sich beide Verkehrsmittel gegenseitig stärken.

So wurden zum Beispiel in den Niederlanden in den letzten Jahrzehnten zu wichtigen Haltestellen des öffentlichen Verkehrs einladende Radwege, diebstahlsichere Abstellplätze in Form von überwachten Fahrradparkhäusern sowie kostengünstige Bike-Sharing-Programme installiert. Ziel war es: Frühere Autopendler:innen davon zu überzeugen, mit dem Fahrrad zum Bahnhof und von dort mit dem Zug zum Zielort zu fahren. Eine Strategie, die voll aufgegangen ist.


Rund 40% aller Zugpendler:innen fahren mittlerweile in den Niederlanden mit dem Fahrrad zum Bahnhof.


Eine wichtige Baustelle in Deutschland ist laut der Studie neben baulichen Veränderungen vor allem eine Erleichterung der Fahrradmitnahme im Nah- und Fernverkehr. Neben chronischem Platzmangel erschweren komplizierte Tarif- und Buchungssysteme die Mitnahme erheblich.


    Baustein 3: Fahrradfreundliche Kommunen

 Im letzten Baustein der fahrradgerechten Stadt wird es politisch. Hier geht es darum, dass Kommunen die Radverkehrswende aktiv gestalten und mit Push-Faktoren die Menschen zum Ausstieg aus dem Auto bewegen. Die Autor:innen nennen städtebauliche, regulatorische und preispolitische Maßnahmen, die alle das Ziel verfolgen, es schwieriger und teurer zu machen, in der Stadt mit dem Auto zu fahren und zu parken.

Städte können Fahr- und Parkspuren für Pkw in sogenannte »Protected Bike Lanes«, also geschützte Radwege, umwandeln. Sie können einzelne Straßen oder ganze Viertel autofrei gestalten, um den öffentlichen Raum aufzuwerten und der aktiven Mobilität ein attraktives Umfeld zu bieten. Sie können häufiger oder flächendeckend Tempo 30 als neue Regelgeschwindigkeit einführen und über höhere Parkgebühren oder eine Citymaut das Autofahren im Stadtgebiet verteuern.

Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Straßenverkehrsordnung so reformiert wird, dass oben genannte Maßnahmen auch tatsächlich im Zuständigkeitsbereich der Kommunen liegen. Für flächendeckend Tempo 30 oder die Einführung einer Citymaut gibt es auf kommunaler Ebene bislang keine Rechtsgrundlage.


Diese 3 Bausteine bilden laut Fraunhofer-Studie das Fundament für das »Leitbild Fahrradland Deutschland 2035«. Unter Berücksichtigung weiterer externen Faktoren, wie des demographischen Wandels, der Urbanisierung, der wirtschaftlichen Entwicklung, des Fahrrad- und Autobesitzes, des Hochlaufs der E-Mobilität (Auto und Fahrrad) und einer prognostizierten Entwicklung des öffentlichen Verkehrs, kommen die Wissenschaftler:innen schließlich zu folgenden Ergebnissen, wie stark der Radverkehr in Deutschland in den nächsten 10 Jahren zunehmen könnte:

Was bedeutet das für den Verkehr?

Werden alle oben genannten Bausteine vollständig umgesetzt, könnte der Anteil des Radverkehrs im Vergleich zu den aktuellen Zielen des Radverkehrsplans 3.0 auf allen Strecken bis 30 Kilometer ver-3-facht werden – von 15% auf 45%.

Das Fahrrad könnte zum Verkehrsmittel Nummer 1 werden



Interessant: Der gesteigerte Fahrradanteil wird laut Berechnung nicht zulasten von Bus und Bahn gehen. Die Wissenschaftler:innen berechneten sogar einen leichten Anstieg um 2% – von 10% auf 12%.

Ein »Verlierer« wäre jedoch der Fußverkehr. Er nimmt im Fahrradland Deutschland 2035 um 6% ab – von 20% auf 14%. Der größte Verlierer dieser Vision ist allerdings das Auto: Sein Anteil würde um 26%, von 55% auf 29%, sinken – was natürlich ein Gewinn für Mensch und Klima wäre.

Was bedeutet das für den Klimaschutz?

Bleiben wir beim Klima: Werden die prognostizierten Verkehrsverlagerungen bis 2035 tatsächlich so eintreten, ergibt sich laut Wissenschaftler:innen ein jährliches CO2-Einsparpotenzial von 19 Millionen Tonnen CO2. Zum Vergleich: Die aktuelle Lücke im Verkehrssektor beträgt 13 Millionen Tonnen CO2. Das Fahrrad besitzt also das Potenzial, die derzeitige Lücke nicht nur zu schließen, sondern sogar überzuerfüllen.

Doch sind diese Zahlen realistisch? Wie hoch stehen die Chancen, dass eine seit Jahrzehnten auf das Auto getrimmte Kultur einen plötzlichen Sinneswandel erfährt und voll auf das Fahrrad setzt? Claus Doll, Verkehrsforscher und Leiter der Studie, reagiert wenig überrascht, als ich ihm per Videocall/Telefon diese Frage stelle: »Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich bei unserer Studie um keine Prognose, sondern um ein theoretisches Potenzial handelt.«

In der Tat schreiben die Autor:innen wiederholt, dass sich ihr Zielbild »Fahrradland Deutschland 2035« von bestehenden »finanziellen, juristischen und personellen Beschränkungen« löst. Genau hier liegt der Knackpunkt: Denn der Ausbau der Radinfrastruktur scheitert in Deutschland häufig nicht nur am Widerstand betroffener Autofahrer:innen und ihrer Lobby, sondern eben auch an harten materiellen Faktoren wie fehlenden Mitteln, mangelnder Rechtslage und Personalengpässen. Vor allem Letzteres ist das Nadelöhr, durch das die Verkehrswende hindurchmuss und derzeit viele Kommunen vor große Probleme stellt. Ein Problem, welches nicht von heute auf morgen gelöst werden kann.

Die Autor:innen sind für ihre Berechnungen also von theoretischen Idealbedingungen ausgegangen, die in der Praxis nicht gegeben sind. Daher sind die Ergebnisse unter Vorbehalt zu verstehen. Im Kern sei es in der Studie um eine grundlegendere Frage gegangen, so Doll: »Wir wollten wissen, ob sich die Menschen in Deutschland anders verhalten würden (als die Menschen in Amsterdam oder Kopenhagen, Anmerkung der Redaktion), wenn ihnen eine ähnlich gute Radinfrastruktur geboten würde. Diese Frage konnten wir klar mit Nein beantworten.«

Damit bestätigt die Studie ein zentrales Argument von Fahrradverbänden. Der Grund, warum sich Menschen für das Fahrrad entscheiden, hat weniger mit Kultur oder sozialen Faktoren zu tun, sondern vielmehr mit der bereitgestellten Infrastruktur. Anders gesagt: Die Niederländer:innen haben kein spezielles Fahrradgen oder eine einzigartige Fahrradkultur. Sie haben einfach eine hochentwickelte Infrastruktur und den politischen Willen, diese zu bauen.

Diesen Willen vermisst Claus Doll in Deutschland noch: »Es fehlt uns hier am gestaltenden Mut und an Ideen, wo wir eigentlich hinwollen.« Viele Städte wüssten zwar in der Theorie, was sie machen müssten. In der Praxis trauten sie sich aber nicht.

Anders in Paris: »Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat eine Vision, ist damit angetreten und hat die Wahl gewonnen«, sagt Doll. Gleichzeitig sei sie pragmatisch. »In Paris sagt man: Wir machen jedes Jahr einen Bezirk schöner, sammeln gemeinsam Ideen und setzen das dann um.« Dort gehe es vor allem schnell, was wichtig sei, damit die Menschen die Veränderungen zu sehen bekommen. »Wenn ich mir die Planungs- und Umsetzungskultur hier anschaue, wird das alles etwas länger dauern«, fürchtet Doll.

Doch egal wie lange es dauert, Deutschland in ein echtes Fahrradland zu verwandeln: Am Ende ist der Weg entscheidend. Ist er erst mal eingeschlagen, können Entwicklungen plötzlich Fahrt aufnehmen. Städte wie Amsterdam, Kopenhagen oder neuerdings Paris haben gezeigt, dass der Weg zu Fahrradstädten nie linear, sondern sprunghaft verläuft. Auch im Verkehrssystem gibt es offenbar Kipppunkte. Denn auch das zeigen diese Städte: Hat der Radverkehr erst einmal eine kritische Schwelle erreicht, geben die Menschen das Fahrrad als Lebensgefühl nicht mehr freiwillig auf.

Redaktionelle Bearbeitung: Felix Auste

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