Spiegel hier Eine Kolumne von Christian Stöcker 16.06.2024
Energiesystem: Warum es jetzt auch nachts Solarstrom gibtNach dem Siegeszug der erneuerbaren Energien bahnt sich gerade, von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, die nächste Energierevolution an: Solarstrom gibt es bald auch nachts, Windstrom bei Windstille.
Stellen Sie sich vor, Sie verdienten Ihren Lebensunterhalt als Weizenhändler. Sie kaufen Weizen auf dem Weltmarkt ein und veräußern ihn dann wieder, natürlich mit Gewinn. Selbstverständlich streben Sie an, den Weizen möglichst teuer weiterzuverkaufen. Sie heben ihn also möglicherweise in einem Silo auf, bis die Preise steigen. Wenn die Miete für das Weizensilo niedriger ist als die Gewinnmarge, rechnet sich das.
Zum Autor
Christian Stöcker, Jahrgang 1973, ist Kognitionspsychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang Digitale Kommunikation. Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE.
Jetzt stellen Sie sich vor, der Weizen sei ab und an nicht nur billiger, sondern die Weizenpreise seien negativ. Sprich: Wenn Sie einem Produzenten seinen Weizen »abkaufen«, müssen Sie nicht bezahlen, sondern bekämen sogar Geld dafür, dass sie ihn abnehmen.
Negative Weizenpreise gibt es nicht, aber bei einer anderen Handelsware ist das anders: Weil gelegentlich mehr Strom verfügbar ist, als im Moment gebraucht wird, gibt es immer mal negative Strompreise, schon seit sechzehn Jahren. 2023 war das in etwa 300 Stunden der Fall .
Endlich wieder gute Nachrichten
Kunden – oder Händler – bekommen in diesen Stunden Geld, wenn sie jemandem den überschüssigen Strom abnehmen. Das ist vor allem ein Beleg für die enorme Leistungsfähigkeit der erneuerbaren Energien. Von deren Kritikern wiederum wird dieser Umstand gern als Argument angeführt, warum ein auf Sonne und Wind aufgebautes Energiesystem nicht funktionieren könne. Wer will schon ein Produkt herstellen, für das er dann beim Verkaufen Geld bezahlen muss?
Derzeit werden Wind- und Solarparks gelegentlich abgeregelt, vom Netz genommen. Das liegt nur daran, dass es nicht genügend Aufbewahrungsmöglichkeiten gibt. Das aber ändert sich jetzt rasant. Und das ist eine sehr gute Nachricht.
Exponentiell fallende Preise, schon wieder
Dem von Kritikern der erneuerbaren Energien bemühten Argument »Nachts scheint die Sonne nicht« entzieht diese Entwicklung seine Grundlage. Zwar scheint auch in Zukunft die Sonne nicht nachts, trotzdem können wir künftig auch im Dunkeln Solarstrom nutzen; weil die Preise für eine im Grunde schon ziemlich alte Technologie seit vielen Jahren kontinuierlich und exponentiell fallen. Die Rede ist von Batterien. Von Stromspeichern also.
Um eine einzige Kilowattstunde Strom zu speichern, dafür musste man 1991 noch mehr als 7500 US-Dollar anlegen. 2018 waren es nur noch 181 Dollar , schon das war ein Rückgang um 97 Prozent. Und der Preisverfall hat seitdem nicht aufgehört. Im November 2023 lagen die Kosten für eine Kilowattstunde Speicherkapazität mit Lithium-Ionen-Batterien Bloomberg NEF zufolge bei 139 Dollar .
Goldman Sachs Energy prognostizierte im Sommer 2023, dass man die Kilowattstunde Stromspeicher bis 2025 für 99 US-Dollar bekommen werde. Kaum jemandem ist bislang klar: Speicherkapazität zur Verfügung zu stellen, ist künftig ein lukratives Geschäftsmodell. Der Internationalen Energieagentur zufolge werden 2024 geschätzte 50 Milliarden Dollar in Batteriespeicher investiert. Das ist zu wenig, und es wird sich ändern.
(Ja, wenn Sie als Privatnutzer einen Stromspeicher kaufen, ist er immer noch viel teurer – aber auch in diesem Markt wird der Preisverfall sich früher oder später bemerkbar machen).
Billig kaufen, teurer verkaufen
Volatile Märkte – wie der Strommarkt – sind bei Händlern traditionell sehr beliebt: Wenn die Preiskurve häufig zuckt, gibt es viele Gelegenheiten zum Geldverdienen. Von einem Markt, bei dem man ab und an Geld dazubekommt, wenn man etwas »kauft«, träumen Trader.
So läuft es in Zukunft mit dem Strom: Man wird ihn speichern, wenn er billig oder der Preis sogar negativ ist und verkaufen, wenn er wieder etwas teurer wird. Es wird lukrativ sein, sich als Stromhändler zu betätigen, ohne selbst jemals eine einzige Kilowattstunde zu erzeugen. Netzstabilisierung wird Dienstleistung, mit der sich Geld verdienen lässt.
Dabei braucht man noch nicht mal die als Umweltsünde kritisierten Lithium-Akkus: In China ist kürzlich ein 10-Megawattstunden-Speicher mit Natrium-Ionen-Batterien ans Netz gegangen. Andernorts werden Speicher gebaut, die ohne Kobalt und Mangan auskommen, und stattdessen Lithium-Eisenphosphat einsetzen – etwa in Bollingstedt-Gammelund .
Finanziert werden all diese Projekte von privaten Betreibern. Sie rechnen sich dank der niedrigen Speicherpreise auch ohne Förderung. Damit die Speicher gegenüber fossilen Kraftwerken nicht benachteiligt werden, hat die Bundesregierung eine Befreiung von doppelten Netzentgelten bis 2029 verlängert – sonst müssten Betreiber zweimal zahlen: beim Ein- und Ausspeichern. Union und AfD stimmten übrigens dagegen.
Batterie-Großspeicher entstehen gerade in, und das sind nur ein paar Beispiele von sehr vielen:
Förderstedt (Sachsen-Anhalt): 100 Megawattstunden
Bollingstedt-Gammelund (Schleswig-Holstein): 239 Megawattstunden
Leine (Niedersachsen): 275 Megawattstunden
Boxberg (Oberlausitz): 1000 Megawattstunden (also eine Gigawattstunde)
Brokdorf (Schleswig-Holstein): 1600 Megawattstunden
Es ist kein Zufall, dass Ihnen vermutlich viele dieser Namen bekannt vorkommen. Großspeicher werden derzeit bevorzugt dort gebaut, wo früher Kohle- oder Atomkraftwerke standen: Dort ist die nötige Netzanbindung schon vorhanden.
Dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme zufolge sind bereits jetzt allein in Deutschland Batteriespeicher mit einer Gesamtkapazität von fast 14 Gigawattstunden am Netz, mit einer Leistung von 9,5 Gigawatt. Zum Vergleich: Das Atomkraftwerk in Brokdorf hatte eine Leistung von knapp 1,5 Gigawatt. Der Großteil davon sind bislang allerdings Speicher, die Privatleute mit einer Fotovoltaikanlage bei sich zu Hause betreiben. Viele Hausbesitzer hierzulande wissen längst, dass man mittelfristig eine Menge Geld sparen kann, wenn man nachts selbst erzeugten Solarstrom nutzt.
Jetzt aber fließt immer mehr Geld in die Großspeicher. Selbst vermeintliche Abfallbatterien lassen sich dazu einsetzen. VW hat gerade angekündigt, eine eigene Anlage in Norddeutschland zu bauen, die zunächst 700 und später bis zu 1000 Megawattstunden speichern soll. Diese Anlage soll, wie viele von dieser Sorte mittlerweile, aus ausrangierten Elektroauto-Akkus bestehen. Die von Freunden des Verbrennungsmotors oft verbreitete Mär, Autobatterien ließen sich schlecht recyclen, ist genau das: ein Märchen. Die alten E-Auto-Stromspeicher werden zur Stabilisierung des Stromnetzes dringend gebraucht und bald kräftig nachgefragt. Das Herumgeeiere zur »Rettung des Verbrenners« von Union, FDP und diversen »konservativen« Parteien Europas zeigt sich vor dieser Entwicklung einmal mehr als Irrweg.
Große Unternehmen wie Enerparc aus Hamburg oder EnBW bauen jetzt schon ganz selbstverständlich große Solarparks in Kombination mit Stromspeichern. Damit kann man bei vorübergehenden Schwankungen in der Sonneneinstrahlung das Netz stabilisieren. Die wenigen Phasen im Jahr, in denen der erneuerbare Strom auch bei weiterem Ausbau wirklich nicht reichen würde, schrumpfen auf diese Weise immer schneller.
In Zukunft scheint die Sonne dann auch nachts – und auch Windstrom kann man selbstverständlich in Batterien speichern. Die »Innovation« im Energiemarkt, von der gerade die FDP immer so viel spricht, ist längst im Gang. Sie hat nur nichts mit Zeugverbrennen zu tun.
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