Mittwoch, 19. Juni 2024

Infrastruktur: Ein Land steht still

 Süddeutsche Zeitung hier  16. Juni 2024, Von Gerhard Matzig

Marode Brücken, ruinierte Bahnhöfe, kaputte Straßen, fehlende Trassen – und: kein Netz. Neueste Schätzungen aus der Republik der Sitzenbleiber.

links: Symbolbild aus Ravensburg/Weingarten
Thema: der verpatzte Radschnellweg

Aktuelle Meldungen vom Wochenende. Erst etwas Positives für Fußgänger, zugleich etwas Verdrießliches für Radler. In Karstädt, Landkreis Prignitz in Brandenburg, ist über Nacht ein Radweg verschwunden. Laut Nordkurier sind nun „erhitzte Gemüter“ die Folge. Nach Arbeiten an der Ortsdurchfahrt gibt es nämlich keinen kombinierten Geh- und Radweg mehr. Das Bauamt erklärt das mit wenigen Zentimetern, die dem Kombi-Weg nach den neuen Regeln im „Landesbetrieb Straßenwesen“ an Breite fehlen, damit sich „zwei Radfahrer begegnen können“. Erlaubt sind daher nur noch Fußgänger, sich begegnend oder nicht.

Das Argument in Karstädt, dass auf diesem Weg kaum jemals jemand zu Fuß gehe, wohingegen die „vielen“ Radfahrer auch bisher mit der Breite in aller Regel unfallfrei und wirklich okay ausgekommen seien, scheint nicht zu ziehen. Aus einem intensiv genutzten Radweg wird daher nun eine Begegnungsstätte für vereinzelte Fußgänger. Mittlerweile wurde Brandenburgs Infrastrukturministerium eingeschaltet. Ergebnis: Alles soll jetzt gründlich untersucht werden.

Dass Brandenburg ein eigenes Infrastrukturministerium hat, ist toll. Deutschland, ein Land, das seinen immer noch ungeheuren Wohlstand unter anderem einer einst tadellosen Infrastruktur zu verdanken hat als Fundament einer ausdifferenziert mobilen Gesellschaft der Moderne, unterhält sogar ein Bundesverkehrsministerium. Es untersteht Volker Wissing (FDP). Die FDP ist die Partei, die ein in Umfragen mehrheitlich erwünschtes allgemeines Tempolimit auf Autobahnen sabotiert, während zuvor vor allem berüchtigte CSU-Verkehrsminister den größten Infrastrukturschaden seit 1945 in Deutschland verantworten: den noch auf Jahrzehnte nicht gut zu machenden Ruin der Deutschen Bahn.

Meinung: Die Zerstörer  Von Holger Gertz  hier 

Nein, die Deutsche Bahn hat sich nicht selbst ins Desaster manövriert. Dieses historische Versagen besorgte wesentlich eine einzige Partei: die CSU. Eine Abrechnung.

Umso überraschender ist nun die Meldung der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, wonach Wissing massive Kürzungen bei den Autobahnen für den Bundeshaushalt 2025 plane. Es geht um Milliarden. Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie meint dazu laut Deutschlandfunk nahezu lakonisch: „Weitere Einschränkungen durch Straßenschäden und Sperrungen seien die Folge.“ Das Wort „weitere“ ist etwas für Genießer.

Unvergessen, der ein halbes Jahr weitestgehend geschlossene Bahnhof in Wiesbaden

Übrigens stand man erst vor einigen Tagen am Bahnhof in Würzburg und hat innerhalb von nur zwei ICE-Wartestunden die Worte „Hochwasserschaden“, „Menschen im Gleisbereich“, „technischer Defekt“, „Erdrutsch“ und „Personalmangel“ sowie „Entschuldigung“ an einem einzigen Bahnsteig gehört. Sehr viel später im Zug dann: „Leider kein Bordbistro ab Nürnberg.“ Kurz mal überlegt, ob es eine gute Idee war, ein autofreies Jahr einzulegen. Aber: Es ist in Deutschland mittlerweile relativ egal, ob man als Radfahrer, Autofahrer oder Zugreisender unterwegs ist von A nach B über die Umleitung C: Man sollte damit rechnen, dass man bald steht.

Mitunter ganz praktische E-Scooter sind offenbar Sendboten des Teufels und werden als Akt der Lynchjustiz gehängt, wozu Bäume im Park dienen, oder man ersäuft sie in städtischen Gewässern. Dies scheint die Rache der Fußgänger dafür zu sein, dass sie abseits ihrer Safari-artigen Reservate in bizarr bepollerten Fußgängerzonen, über die sich nur H&M, Subway und Co. freuen, nichts mehr zu melden haben. Fürs Fußläufige gibt’s dunkle Unterführungen oder mit etwas Glück eine Brücke über eine Straße voller Schlaglöcher. Wobei die Brücke im Normalfall einsturzgefährdet und die Unterführung im Regelfall nicht barrierefrei ist. Dass im bislang noch nicht völlig verarmten Wiesbaden von Juni bis Dezember 2021 wegen einer solchen Brücke der Hauptbahnhof vom Zugverkehr weitestgehend abgeschnitten war – unvergesslich, vor allem für die Tauben in der Landeshauptstadt, die ihr Glück über die neue Wohlfühloase mitten in der Stadt kaum fassen konnten.

Das ist auch vielleicht der Geheimplan. Man produziert rund um deutsche Verkehrswege einfach so viel sich widersprechende Grotesken als „normative Kraft des Faktischen“ nach Georg Jellinek, dass ein Tempolimit erst gar nicht mehr verfügt werden muss. Alle Menschen können dann nach Blaise Pascals ironischem Diktum verfahren: Sie bleiben daheim ruhig auf einem Stuhl sitzen, statt den Versuch zu unternehmen, mit was auch immer zu fahren.

Ausgebaute Wege, ein funktionierendes Postsystem, Strom, Daten, Wasser und Abwasser ... „Bürger“-Steige, Brücken und alle möglichen Bauten der Infrastruktur: Die Zivilisationsgeschichte ist eine Geschichte des Vernetzens und Erschließens. Letztlich geht es bei alldem um Teilhabe. Es ist das zentrale Momentum moderner Gesellschaften.

Dazu zwei weitere Meldungen dieser Tage. Zum einen benennt der Industrieverband ein Defizit von etwa 400 Milliarden Euro für den Erhalt und Ausbau von Verkehrswegen, Schulen, Energie- und Digitalnetzen: „Das Industrieland Deutschland hat über Jahrzehnte zu wenig investiert, und jetzt kommen neue Investitionsbedarfe hinzu.“ Die Neue Zürcher Zeitung kommt mit Verweis auf das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung sogar auf diese Summe, die nötig sei, um die deutsche Infrastruktur, die zum Teil aus den Sechzigerjahren stammt, für die Zukunft zu ertüchtigen: 600 Milliarden Euro – in den kommenden zehn Jahren. Das liegt weit über den Wiederaufbaukosten, die die Weltbank neulich für die zerbombte Ukraine berechnet hat.

Im öffentlichen Raum breitet sich das Faustrecht aus

Zuletzt: Verkehrspsychologen sagen, dass „die Aggressivität und Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr“ in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen habe, weshalb das Faustrecht im öffentlichen Raum zunehme. Kein Wunder, für immer mehr Verkehrsteilnehmer gibt es immer weniger Platz – und dieses Defizit wird widersinnig bis ruinös bewirtschaftet. Deutschland degeneriert infrastrukturell: Seine Bewohner, Handwerker und Industrien, auf dem Land und in den Städten, die enorme Steuermittel erwirtschaften, stehen vor gesperrten Brücken, kaputten Straßen, nicht vorhandenen Radwegen, verspäteten Zügen und warten auf Busse, die nur im Sommer fahren. Immerhin sind wir dafür inzwischen offenbar lustiger als früher, mindestens wenn man den Kommentaren unserer ausländischen EM-Gäste über die Deutsche Bahn glauben darf.

Da kommt nun die Studie „Infrastrukturen“ als aktueller Bericht der Bundesstiftung Baukultur gerade recht. Am 20. Juni wird der explosive Bericht im Rahmen des Konvents der Baukultur in Potsdam öffentlich vorgestellt. Vorangestellt ist ihm eine Kernbotschaft, die sich aus vielen mit Zahlen untermauerten Analysen ergibt, wobei der Begriff der Infrastruktur nicht allein Straßen und Schienen, sondern auch Energienetze und öffentliche Bauten der Daseinsvorsorge oder der Kultur umfasst


Die Botschaft lautet:


„Leistungsfähige und für alle verfügbare Infrastrukturen
sind eine Basis unseres Zusammenlebens.
Als öffentliche Güter müssen sie (...) durch neue Angebote
Mehrwert für das Gemeinwohl und die Umwelt schaffen.“


Mit anderen Worten: Die immer wieder ideologisch verkürzt ausgetragene Fehde zwischen unterschiedlichen Verkehrsträgern und diversen Lebensräumen (Auto, Bahn, Stadt, Land), wird den Herausforderungen der Zukunft und einem zunehmenden Bedürfnis nach intelligent vernetzten Mobilitätsformen nicht gerecht. Auch die eher lustigen als weiterführenden Ideen von mehr Seilbahnen in München und Wasserbussen zwischen Köln und Düsseldorf werden daran wenig ändern.

Nach und neben den gigantischen Investitionen im Osten nach der deutschen Einheit verständigte sich diese Republik für drei Jahrzehnte auf einen sogenannten Pragmatismus, der am Ende gerne die erhörte, die etwas lieber mal nicht wollen. Eine moderne Infrastrukturpolitik müsste sich stattdessen von nun an sehr schnell dem Gemeinwohl und der Zukunftsvorsorge unterordnen. Das „Verkehrliche“ ist keine politische Verfügungsmasse, sondern Lebensgrundlage.
Nein, Deutschland ist nicht marode. Noch nicht.

Aber es ist ausweislich der aktuellen Erhebungen ein Land, das sich nicht mehr bewegt. Oft ist man dann ja bereits tot.

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