Treibhauspost hier
Für die nächsten zehn Minuten, während Du diese Ausgabe liest, ist die Klimakrise vorbei.
Wir zoomen raus von News und alltäglichem Streit in der Politik und fragen uns: Wann ist die Klimakrise endlich beendet? Und werden wir das noch erleben?
Wann hast Du Dir das letzte Mal das Ende der Klimakrise vorgestellt? Den Moment, wo wir es geschafft haben, der Alptraum endlich vorbei ist und wir uns alle erleichtert in den Armen liegen.
Ich muss zugeben, dass ich die Frage nach dem Ende der Klimakrise ziemlich lange verdrängt habe. Für mich war das immer etwas, das ich mir herbeigesehnt, aber viel zu selten konkret vorgestellt habe. Ich habe den Gedanken nie zu Ende gedacht – bis jetzt.
Heute möchte ich das Verdrängen hinter mir lassen und mit Dir zusammen nach dem Ende der Klimakrise suchen. Ich bin mir sicher, es wird sich lohnen.
Ein dauerhaft stabilisiertes Anthropozän
Wenn Politiker*innen und andere Entscheidungsträger*innen ihr Bild vom Ende der Klimakrise verkünden, hört es sich für mich häufig so an: „Wir haben die Klimakrise überwunden, wenn wir klimaneutral leben und wirtschaften“. Das Ganze am liebsten, ohne an unserer Lebensweise irgendetwas zu ändern.
Aber was bedeutet klimaneutral eigentlich genau? Ich kann mich noch ziemlich gut an einen Satz von Erdsystemforscher Wolfgang Lucht erinnern, den er bei einem Gespräch zu Manuel und mir vor einiger Zeit sagte: „Der Zustand, den wir anstreben sollten, ist ein dauerhaft stabilisiertes Anthropozän“.
Klingt direkt schon deutlich weniger griffig als der Politiker*innen-Satz, aber das ist ja meistens ein gutes Zeichen. Gemeint ist: Selbst wenn wir klimaneutral leben und wirtschaften, wird uns die Klimakrise noch weiter beschäftigen. Denn solange es Menschen gibt, ist das Stabilisieren der Atmosphärentemperatur auf eine bestimmte Grad-Zahl ein permanenter Prozess. Beziehungsweise: harte Arbeit.
Um uns das besser vorstellen zu können, beamen wir uns einfach mal in eine klimaneutrale Zukunft, in der es der Menschheit gelungen ist, die Erderhitzung bei 1,99 Grad zu stabilisieren.
Im 1,99-Grad-2054 gibt es Windräder und Solarparks, so weit das Auge reicht. Ein Netz aus komfortablen Nachtzügen verbindet die Hauptstädte miteinander. Gigantische, elektrische Maschinen säen, pflegen und ernten unser Obst und Gemüse. Klingt erstmal annehmbar.
Doch auch in dieser Welt gibt es noch menschengemachte Treibhausgase. Ein gewisser Anteil des CO₂-Ausstoßes kann nämlich gar nicht vermieden werden, selbst wenn alle wollten. Zu den sogenannten „unvermeidbaren Restemissionen“ zählen beispielsweise Methan und Lachgas aus der Land- und Abfallwirtschaft oder Emissionen aus bestimmten industriellen Prozessen. Deswegen braucht es negative Emissionen, vor allem durch Aufforstung und Renaturierung (und zu einem gewissen Maß auch durch verschiedene technologische Lösungen, die zum Beispiel CO₂ aus der Luft filtern oder im Meeresboden einspeichern). Ohne diese negativen Emissionen würde sich das Klima immer weiter erhitzen, wenn auch langsam. Was für ein Aufwand.
Halten wir fest: Klimaneutralität bedeutet ein dauerhaftes, extrem aufwändiges Stabilisieren der Atmosphärentemperatur. Und damit ist das Ende der Klimakrise noch längst nicht eingeläutet.
Willkommen im 1,99-Grad-Berlin
Angenommen, die Menschheit würde dieses dauerhafte Stabilisieren hinbekommen. Könnten wir einen ausgelassenen Net-Zero-Rave feiern und die Krise für beendet erklären? Vielleicht wäre die Antwort in Deutschland sogar „Ja“. Aber nur, wenn wir dabei ausklammern, wie sehr uns die Klimafolgen dauerhaft einschränken würden.
Beamen wir uns nochmal in die klimaneutrale 1,99-Grad-Welt, dieses Mal nach Berlin. Wenn ich mich umgucke, sehe ich vor meinem inneren Auge überall Bäume, Fahrrad-Highways und subventionierte, vegane Bio-Cafés. Aber ich sehe auch: Infoscreens gegen Dehydrierung, über Straßen gespannte Sonnensegel und riesige Kühlhäuser, in denen vor allem alte Menschen (ich wäre dann einer davon) an besonders heißen Tagen Schutz suchen. Wir reden immerhin von 1,99 Grad Erderhitzung.
Bei zwei Grad Erwärmung: Hitzesommer passieren circa alle zwei Jahre statt alle zehn Jahre – und werden bis zu drei Grad heißer. 📸: Sechster Sachstandsbericht des Weltklimarats.
Extreme Hitzesommer, die ohne Erderhitzung einmal pro Jahrzehnt vorkamen, erlebt das 1-99-Grad-Berlin mindestens alle zwei Jahre. Hinzu kommen neue Krankheiten, Überschwemmungen, Wassermangel und all die anderen Auswirkungen der Erderhitzung, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Hört sich für mich nicht wirklich nach der passenden Stimmung für einen Net-Zero-Rave an. Und zusätzlich müsste man sogar noch einen weiteren (ziemlich entscheidenden) Aspekt ausblenden: Gerechtigkeit.
Die klimaneutrale Friedrichstraße
Vielleicht hast Du schonmal was von Solarpunk gehört, oder von den Zukunftsbildern 2045.
Bei beidem geht es um konkrete Utopien einer (klimaneutralen) Zukunft, die vergleichbar sind mit dem 1,99-Grad-Berlin, in dem wir uns gerade umgeguckt haben. Zu sehen sind häufig grün-bewachsene Fassaden, elektrisch-futuristischer ÖPNV, heiter bis wolkiges Wetter – und wenig Menschen.
Eine utopische Version der Berliner Friedrichstraße. 🖼️: realutopien.info
Solche Utopie-Bilder können dabei helfen, uns eine Welt vorzustellen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Was man aber nicht ausblenden darf: Dass die Stimmung wohl ziemlich schnell ihre Idylle verliert, wenn man ein bisschen herauszoomt und ein nicht unwahrscheinlicher, viel dystopischerer Teil der 1,99-Grad-Welt sichtbar wird – riesige Flut-Dämme, mit Schwefel-Aerosolen beladene Geoengineering-Ballons und surrende Schwärme von KI-gesteuerten Frontex-Drohnen, die über meterhohe Stacheldrahtzäune kreisen. Und dahinter: ein unendliches Meer grauer Zelte, in denen all jene Zuflucht suchen, die mit dem falschen Pass geboren worden sind.
Zugegeben, das ist natürlich ein sehr dystopisches Bild der 1,99-Grad-Politik, das ich der Idylle gegenüberstelle, aber mein Punkt ist: Solange unsere Visionen von einem Ende der Klimakrise vor allem nach CO₂-neutraler Friedrichstraße aussehen, laufen sie Gefahr, post-koloniale Denkmuster zu reproduzieren.
Es liegt nah, dass wir uns das Ende der Klimakrise erstmal für uns selbst vorstellen. Aber wir dürfen uns dabei nicht vormachen, dass ein 1,99-Grad-Lagos oder ein 1,99-Grad-Jakarta auch nur ansatzweise ähnlich aussehen würden. All die Bangladeshi, die fliehen müssen, weil ihr Land vom Meer verschluckt wird, die kenianischen Hirten, die gezwungen sind, gewaltvoll um immer knapperes Weideland zu kämpfen und all die anderen Menschen jenseits der Mauer: Für sie ist die Klimakrise erst zu Ende, wenn Schutz, Fluchtmöglichkeiten und finanzielle Unterstützung in nie dagewesenem Ausmaß von denen innerhalb der Mauer zur Verfügung gestellt werden. Und das hat mit Klimaneutralität erst einmal gar nicht so viel zu tun.
Halten wir fest: Das Ende der Klimakrise ist nur dann in Sicht, wenn – zusätzlich zur dauerhaften Stabilisierung der Temperatur – der Schutz vor Klimafolgen dauerhaft und für alle mitgedacht wird.
Immer wieder Kipppunkte
Und genau an dieser Stelle kommen wir mal wieder nicht an Kipppunkten vorbei. Bei +1,99 Grad sind zwei von ihnen überschritten. Und acht befinden sich im kritischen Bereich.
Wir hätten also – theoretisch – ein dauerhaft stabilisiertes Klima, bei gleichzeitig irreversiblem Kollaps mehrerer Ökosysteme. Wenn der westantarktische und der Grönland-Eisschild kippen, was schon bei der heutigen Erderwärmung von +1,2 Grad möglich und spätestens bei +3 Grad traurige Gewissheit ist, würden die Meeresspiegel in den kommenden Jahrhunderten und Jahrtausenden um bis zu zehn Meter ansteigen.
Übersicht über verschiedene Klima-Kipppunkte. 📸: Youtube-Screenshot Earth Commission
Ein Ende der Klimakrise bei vorerst permanent steigendem Meeresspiegel – wie soll das funktionieren? Etwa zehn Prozent der Menschheit leben in direkter Küstennähe, weniger als zehn Meter über dem Meeresspiegel. Sie stünden in der „stabilisierten“ 1,99-Grad-Welt unter dauerhaftem Druck, sich vor Fluten, Überschwemmungen und Stürmen zu schützen.
Hinzu kommt: Packt man Kipppunkte und den Verlust von Ökosystemen mit in die Gleichung, müssen all die Aufforstungs- und CCS-Maßnahmen auf einmal nicht nur die unvermeidbaren menschengemachten Restemissionen kompensieren, sondern auch noch die Erhitzung, die durch das Auftauen der Permafrostböden, durch Waldbrände und den verringerten Albedo-Effekt der schmelzenden Eisflächen entstehen.
Und selbst wenn all das langfristig gelingen würde, kann die Klimakrise jemals für beendet erklärt werden, wenn ihre „Zwillingskrise“, das Artensterben, in der 1,99-Grad-Welt ungebremst weiterläuft? Oder die Vergiftung durch Plastik und andere Chemikalien? Und was ist, wenn trotz stabilisiertem Klima patriarchale Strukturen weiterhin dafür sorgen, dass Frauen, Kinder und andere marginalisierte Gruppen am meisten unter den Folgen der Erderhitzung leiden?
All die Fragen bringen eine ziemlich radikale Schlussfolgerung mit sich: Die Klimakrise kann gar kein Ende haben. Sie wird uns für immer beschäftigen.
Du und ich und jeder Mensch, der diesen Planeten in den nächsten zehntausend Jahren betritt, wird mit ihr leben müssen.
Und es mag Dich jetzt überraschen, aber mir hilft der Gedanke.
Bitte was?
Ich bin davon überzeugt, dass es kontraproduktiv ist, sich ein Ende der Klimakrise auszumalen, das schlicht nicht eintreffen kann. Und sich gleichzeitig einzureden, dass es Wirklichkeit wird, wenn man nur ganz fest daran glaubt.
Bitte nicht falsch verstehen, ich will damit auf keinen Fall dazu aufrufen, die Hoffnung aufzugeben und das Handtuch zu schmeißen, im Gegenteil. Zu akzeptieren, dass die Klimakrise kein Ende hat, ist eine Erkenntnis, die eine realistische Perspektive bietet (vor allem für diejenigen, die vorhaben, nach 2070 noch auf diesem Planeten zu leben).
💌 Eine Krise ist per Definition ein Höhe- beziehungsweise Wendepunkt und hat damit auch ein Ende. Wenn die Klimakrise gar kein Ende hat, ist der Begriff eigentlich auch nicht zutreffend (Manuel hat darüber eine ganze Ausgabe geschrieben).
Die Gewissheit, dass die Klimakrise kein Ende hat, rückt die Erwartungshaltung zurecht. Ein Zurück zum Normal, zu den „Goldenen 2000ern“ der westlichen Gedankenlosigkeit, gibt es nicht. Bevor die Enttäuschung riesig ist, wenn die Klimakrise in den kommenden Jahrzehnten so präsent sein wird wie nie, selbst wenn wir Erneuerbare Energien hochskalieren, kann diese Gewissheit helfen. Dabei, dass Menschen auf dem Weg dahin nicht verprellt werden und sich in Weltuntergangshysterie suhlen, wenn ihre Erwartungen an Klimaschutzmaßnahmen enttäuscht werden.
Und noch eine Hoffnung kann die Akzeptanz der nie mehr endenden Klimakrise mit sich bringen: dass sich endlich eine breite Mehrheit für Klimaschutz ausspricht. Nämlich dann, wenn sie versteht, dass ihr momentanes Credo, wegzugucken, bis die Klimakrise vorbei ist, in letzter Konsequenz bedeuten würde, nie wieder hinzugucken.
Vielleicht fragst Du Dich an dieser Stelle trotzdem noch, ob uns so eine theoretische Debatte nicht auch vom Handeln abhalten könnte. Ich glaube nicht. Ich würde sogar so weit gehen, dass das Ausblenden der Frage nach dem Ende der Klimakrise, wie eingangs erwähnt, auch eine Form der Verdrängung ist.
Die Auseinandersetzung mit ihr wird sich lohnen. Auch wenn sie in tausend neuen Fragen resultiert. Wie gehen wir mental mit einem lebenslangen Krisenzustand um? Wie können wir unser Leben angemessen planen?
Kurz gesagt: Ich weiß es nicht. Aber vielleicht ist es in dem Fall wie so häufig wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen, als die passenden Antworten parat zu haben. Ich hoffe, Du kannst ihnen auch etwas Hilfreiches abgewinnen.
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