Spiegel hier Eine Kolumne von Ullrich Fichtner 22.06.2024
In Sachen Klima glauben die Leute fest daran, es geschehe »zu wenig zu spät«. Dabei steht die Welt an einem historischen Wendepunkt. Schon bald könnte es heißen: Wir schaffen das.
Im großen Hadern der Gegenwart kommt zu kurz, dass rund um die Welt gerade an sehr großen Rädern gedreht wird, um die Erderwärmung aufzuhalten. Man hört ja an Kneipentischen und in Talkrunden häufig das Gegenteil. Viele Leute sagen, es geschehe »zu wenig zu spät«. Sie machen dabei wichtige Gesichter, sind aber häufig noch nicht einmal grob darüber im Bilde, was überhaupt so alles unterwegs ist. Sie meinen letztlich, und das ist auch eine Art Volkskrankheit, selbst die komplexesten Fragen allein mit ihrem Bauchgefühl beantworten zu können. Und bekanntlich sagen viele Bäuche gerade: Das wird nix mehr mit der Welt und dem Klima.
Ullrich Fichtner, Jahrgang 1965, bereist als Reporter des SPIEGEL seit 2001 die Welt. Er hat aus vielen Kriegs- und Krisengebieten berichtet, mit wechselnden Dienstsitzen in Hamburg, New York und Paris. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet. Dass viele Menschen heute, zumal im reichen Europa, den Glauben an die Zukunft verlieren, findet er unbegreiflich. Heutige Kinder seien, im Gegenteil, »geboren für die großen Chancen«, meint er, und so lautet auch der Titel seines aktuellen Buches.
Nun irren nicht nur Bäuche gern, auch Köpfe wirken regelmäßig überfordert, wenn es um die Zukunft geht. Ich erinnere mich noch gut an die Begegnung mit einem kanadischen Energieforscher vor vielleicht 15 Jahren, der an eine Zukunft ohne Erdöl einfach noch nicht glauben konnte. Nach einem Abendessen in London gingen wir gemeinsam noch ein paar Schritte, als der Kanadier vor den blinkenden Lichterwänden von Piccadilly Circus plötzlich auf die Straße trat und mir mit rudernden Armen theatralisch zurief: »How can you do this with wind?« – Wie wollen Sie das hier mit Wind machen?
Die heutige Antwort auf diese Frage lautet: kein Problem, das machen wir mit links. Wir machen bald alles mit Wind, und erst recht mit Sonne. Wir machen es mit Wasserkraft, Geothermie, Biomasse, mit Wellen- und Strömungskraftwerken, mit grünem Wasserstoff , mit E- und Recycling-Kraftstoffen. Wir werden lernen, kinetische Energie jeder Art mit gutem Wirkungsgrad in Strom zu verwandeln. Wir werden die Biotechnologie dafür bewundern, wie sie Elektrizität aus Pflanzen und Licht aus Bakterien herauskitzelt – und all das wird, im Zusammenfluss mit den rasenden Fortschritten in der Batterie- und Speichertechnik und natürlich durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz das Ende des fossilen Zeitalters organisierbar machen.
Die Köpfe wissen es längst. Sie wissen von Fakten, die im negativen Denkrahmen unserer Zeit ins allgemeine Wissen – und vor allem in die Bäuche – leider noch nicht vorgedrungen sind.
Die erneuerbaren Energien werden
- nach Berechnungen der Internationalen Energie-Agentur (IEA) -
bereits im kommenden Jahr die größte Stromquelle auf Erden sein
und die Kohle als das alte Arbeitspferd der Energieerzeugung erstmals übertreffen.
- nach Berechnungen der Internationalen Energie-Agentur (IEA) -
bereits im kommenden Jahr die größte Stromquelle auf Erden sein
und die Kohle als das alte Arbeitspferd der Energieerzeugung erstmals übertreffen.
Die Symbolkraft dieses Augenblicks ist 300 Jahre nach Erfindung der ersten Dampfmaschinen nicht zu überschätzen.
Die IEA spricht folglich von einem »historischen Wendepunkt in der Energiegeschichte der Welt«. Im Jahr 2027 werden Solaranlagen laut IEA die ergiebigste aller Stromquellen sein, größer als Gas, größer als Kohle. Die Windenergiekapazitäten werden binnen Kurzem zur zweitgrößten Energiequelle aufsteigen.
Alles wird anders jetzt: China installiert bis 2027 die Hälfte des weltweiten Zuwachses an erneuerbaren Energieträgern, die Rede ist von 1200 Gigawatt zugebauter Leistung – das ist mehr als das Doppelte des gesamten jährlichen Strombedarfs der Wirtschaftsmacht Deutschland. Die USA sind dabei, Trump hin oder her, ihre Wind- und Solarkapazitäten bis 2027 zu verdoppeln. Und es gibt andere Beispiele ohne Ende.
Der erste Eindruck kann deshalb nicht sein, dass »zu wenig zu spät« geschieht, sondern dass sich gerade irrsinnig viel tut, in unglaublich kurzer Zeit, überall und gleichzeitig. Die Welt macht seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015 riesige Schritte in die richtige Richtung. Und wenn nicht alles täuscht (Achtung! Triggerpunkt!), dann wird es bald heißen: Energie war die Schicksalsfrage des Jahrhunderts – denn im Prinzip ist sie schon heute beantwortet.
Das ist keine leere Provokation. Es werden dieser Tage die Grundlagen für einen revolutionär neuen Energiemix gelegt, der die globale CO2-Last der Strom-, Wärme- und Kraftstoffproduktion innerhalb weniger Jahre drastisch reduzieren und in nicht ferner Zukunft ökologisch beherrschbar machen wird. Getrieben von den sagenhaften Fortschritten in Forschung und Entwicklung, befördert von Produktionskosten im freien Fall schießen die Kapazitäten der erneuerbaren Energieträger förmlich in die Höhe.
Das war bis vor Kurzem unvorstellbar, nicht nur für meinen kanadischen Forscher vor 15 Jahren, auch noch für Nachhaltigkeitsforscher bis vor fünf Jahren.
Es ist nicht übertrieben zu sagen,
dass gerade eine Utopie fast schlagartig Wirklichkeit wird:
die Idee von einer nachhaltigen, emissionsfreien Energieversorgung.
dass gerade eine Utopie fast schlagartig Wirklichkeit wird:
die Idee von einer nachhaltigen, emissionsfreien Energieversorgung.
Und dabei ist die Möglichkeit anderer weltverändernder Durchbrüche – wie sie sich in der Kernfusion seit knapp zwei Jahren abzeichnen – noch gar nicht eingepreist.
Ullrich Fichtner: Geboren für die großen Chancen
Ein SPIEGEL-Buch: Über die Welt, die unsere Kinder und uns in Zukunft erwartet
Verlag: DVA
Ja ja, es stimmt schon: Der Ölverbrauch wird noch für viele Jahre entsetzlich hoch sein, auch Kohle noch jahrzehntelang verbrannt werden. Die Wärmeerzeugung für die Industrie bleibt ein Problem, und der Anteil der Erneuerbaren an der weltweiten Stromerzeugung machte im Jahr 2023 »nur« 30 Prozent aus (auch wenn es »schon« heißen müsste). Die Einwände sind alle nicht falsch. Aber es gibt keinen Grund, »zu wenig zu spät« zu grummeln und das nächste Bier zu bestellen. Es gilt, nicht zu verzagen. Um das Richtige und Ausreichende ins Werk zu setzen, muss gearbeitet werden ohne Ende. Immer weiter. Plus ultra. Wie es sich die Kalifen in die Kacheln ihrer Alhambra haben schreiben lassen.
Es ist in der heutigen Welt gar nicht mehr so kühn zu behaupten: Unsere Kinder und erst recht die Kindeskinder werden sich um die Energieerzeugung in Zukunft keine großen Sorgen mehr machen müssen. Eher wird es so sein, dass sie auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückschauen wie wir auf die Schwarz-Weiß-Filmchen von der Jahrhundertwende anno 1900: Fasziniert davon, wie gründlich sich die Zeiten doch regelmäßig ändern und wie fremd die Lebenswelt der eigenen Vorfahren binnen Kurzem wirkt. Und wie doch alles anders kam als gedacht. Und sogar besser geworden ist.
Und wer noch nicht genug Mut gefasst hat, hier noch mehr aus der Kolumne von Ulrich Fichtner hier im Spiegel 08.06.2024
Genug gejammert: Eine Verteidigung des Heute gegen das Gestern
Es ging der Welt »noch nie« so schlecht? Abstruser Gedanke. Wer das Rettende erkennen will, muss Abstand nehmen, auch vom eigenen Missmut.
Wer in der Gewissheit lebt, die Welt sei im Eimer und die Zustände noch nie so schlimm gewesen, hat ein schlechtes Gedächtnis, überschätzt den eigenen Durchblick oder ist vielleicht einfach noch sehr jung. Schließlich kann die Vorstellung, die heutigen Verhältnisse seien im Großen und Ganzen »noch nie« so schlimm gewesen und der Zustand der Welt »noch nie« so beklagenswert angesichts der Schrecken der Vergangenheit eigentlich nur als schlechter Witz gemeint sein.
Man muss nicht einmal ins Zeitalter der großen Weltkriege zurückspringen, um sich die Haltlosigkeit der Noch-nie-so-schlimm-Position vor Augen zu führen. Als zum Beispiel die heutigen Boomer Kinder waren, in den Siebzigerjahren, war der Vietnamkrieg noch im Gange, und der libanesische Bürgerkrieg begann gerade erst. Ägypten und Syrien überfielen Israel, der Ölpreisschock ließ die Welt erstarren, der Kalte Krieg war eiskalt damals und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs erschreckend hoch.
Hungersnöte zerrütteten den afrikanischen Kontinent, Folterkönige wie Bokassa krönten sich zu Kaisern, Menschenfeinde wie Chiles Diktator Augusto Pinochet bezogen ihre Paläste. 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, am Ende eines Jahrzehnts, an dessen Anfang der Biafra-Krieg mit mehr als zwei Millionen Toten stand; zwei Millionen, kein Tippfehler. Und dazu der Terror vor hiesigen Haustüren, Marke RAF, Rote Brigaden, Action Directe, IRA.
Früher war also alles besser? Wirklich nicht.
Eine Verteidigung des Heute gegen das Gestern tut not. Dann fällt auch der Blick in die Zukunft viel leichter: Sie ist nicht festgelegt, nicht durch Krisen und Kriege und auch nicht durch den Klimawandel, sondern sie ist immer und zu allen Zeiten eine offene Veranstaltung. Die heute in viel zu vielen Kreisen gängige Übung, den Untergang der Welt an die Wand zu malen, raubt die Kraft, an ihrer Rettung zu arbeiten. Ich habe mal einen US-General sagen hören: »Wer immer nur die Hände ringt, hat nie eine Hand frei, um die Ärmel aufzukrempeln.« Damit könnte man heute gut T-Shirts beflocken.
Vor der Zukunft steht jedenfalls kein Minus und kein Plus. Deshalb sind Pessimisten und auch Optimisten, auf ihre jeweiligen Weisen, auf dem Holzweg. Der Raum des Handelns liegt zwischen den Polen, zwischen Hoffen oder Bangen. Dort wird die Zukunft gemacht. Sie ist das Ergebnis von Myriaden heutiger Entscheidungen und Taten, und wenn nicht alles täuscht, stürzen in unserer Gegenwart gerade allerlei Kaskaden grob, aber machtvoll in die richtige Richtung.
Wie jetzt, richtige Richtung? Ja, aber um das sehen zu können, muss man sich von einer weiteren abstrusen Idee unserer Zeit verabschieden, nämlich von der Vorstellung, dass wenig bis nichts geschieht, um die Erderwärmung aufzuhalten. Das glauben nicht nur Klimabewegte, ich habe es neulich beim Friseur gehört, und ich halte es für ungefähr so irre wie den Gedanken, die Zeiten seien »noch nie« so schlimm gewesen.
Liebe Leute, bitte mal im Ernst: Es reicht doch schon, Robert Habeck auf Instagram zu folgen, um zu verstehen, dass der Umbau der Welt gerade wirklich an allen Ecken und Enden ins Werk gesetzt wird, und zwar von Kapstadt bis Hammerfest und von San Francisco bis Sankt Peter-Ording! Wärme, Strom, Bau- und Verkehrswesen, Industrieprozesse, Speichertechnologien, Abfall- und Kreislaufwirtschaft, Material- und Biowissenschaften, CO₂-Abscheidung – es passiert nicht nichts, sondern es bleibt in Wahrheit gerade kein Stein auf dem anderen.
Die schlechte alte Welt des ›Weiter so!‹ hat sich in ein Wimmelbild des Aufbruchs verwandelt.
Das Rettende wächst jetzt, und es wächst – wie der globale Zubau der Fotovoltaik – exponentiell. Um die schönen Muster im verwirrenden Klein-Klein zu erkennen, muss man allerdings Abstand nehmen, nicht zuletzt von eigenen missmutigen Gewissheiten. Es ist ein bisschen wie im Museum: Wer nicht ein paar Schritte zurücktritt, sieht bei Monet keine Seerosen, sondern nur sinnloses Gepinsel.
Das Rettende wächst jetzt, und es wächst – wie der globale Zubau der Fotovoltaik – exponentiell. Um die schönen Muster im verwirrenden Klein-Klein zu erkennen, muss man allerdings Abstand nehmen, nicht zuletzt von eigenen missmutigen Gewissheiten. Es ist ein bisschen wie im Museum: Wer nicht ein paar Schritte zurücktritt, sieht bei Monet keine Seerosen, sondern nur sinnloses Gepinsel.
Das alles heißt ja nicht, dass wir in der besten aller vorstellbaren Welten schon angekommen wären. Aber in einer relativ gebesserten, einer vielerorts wohlhabenderen, gesünderen, saubereren, gerechteren, und sogar weniger gewalttätigen leben wir heute ganz zweifellos – verglichen mit fast allen früheren Epochen und Jahrzehnten. Wir haben uns auch aufgemacht, mit dem Klimawandel fertigzuwerden, mit seinen Ursachen und mit seinen Folgen. Unendlich viel ist zu tun, unendlich viel liegt noch im Argen. Aber allein dass das »wir« an dieser Stelle heute tatsächlich die Menschheit meint, deren Vertreter sich in historischen Verträgen fortlaufend zur Rettung und Besserung der Welt verabreden, das allein ist ein starker Grund zur Zuversicht.
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