Samstag, 8. Januar 2022

„Ich bin selbst in größter Sorge“

 In der Bildschirmzeitung hier Veröffentlicht: 30. Dezember 2021

„Liebe junge Menschen im Klimahungerstreik!
Ihr habt euch von mir ein öffentliches Statement zu eurer Aktion gewünscht, und ich denke, dass ich euch das auch schulde.
Denn ihr beruft euch auf die wissenschaftlichen Einsichten zu den existentiellen Risiken der gegenwärtigen Erderwärmung. Letztere wird zweifellos von unserem Wirtschaften mit fossilen Energieträgern verursacht.
Zu diesen Einsichten habe ich in den letzten Jahrzehnten mit Veröffentlichungen beigetragen, und ich habe mich bemüht, die wichtigsten Forschungsergebnisse Entscheidungsträgern und Laien mitzuteilen und zu erklären.

Dass ihr alarmiert seid, ist nur folgerichtig – ich bin selbst in größter Sorge um die Zukunft unserer Zivilisation. Denn schon die aktuelle Erhöhung der mittleren Oberflächentemperatur unseres Planeten um 1,2 °C seit Beginn der Industriellen Revolution hat schwerwiegende Folgen, zu denen insbesondere die Zunahme und Verschärfung von Extremwetterlagen zählt.
Bei Fortsetzung der gegenwärtigen Klimapolitiken weltweit wird sich die Erde noch in diesem Jahrhundert um knapp 3 °C erwärmen, was zur langfristigen Destabilisierung essentieller Teilsysteme der globalen Umwelt (“Kippelemente”) führen dürfte. Und es bleibt ein weitgehend unerforschtes, aber leider plausibles Restrisiko, dass sich der menschengemachte Klimawandel durch nichtlineare Prozesse selbst verstärkt und dadurch die Menschheit endgültig aus dem Umwelt-Paradies des Holozäns vertrieben wird.

Dieses Risiko mag klein sein, aber würden wir unsere Kinder in einen Schulbus schubsen, dem mit 5%-Wahrscheinlichkeit ein tödlicher Unfall vorhergesagt worden wäre?
Es geht also um das Überleben bzw. künftige Leben von vielen Millionen Mitmenschen und von vielen Milliarden Mitgeschöpfen. Deshalb ist nachvollziehbar, vielleicht sogar verhältnismäßig, dass ihr mit dem Hunger- bzw. Durststreik die Gefährdung eures eigenen Lebens in die Waagschale werft, um den notwendigen Politikwechsel zu bewirken. Wer euch deshalb “Erpressung” oder dergleichen vorwirft, verkennt, dass dieses Streikmittel in der Geschichte oftmals erfolgreich eingesetzt wurde.
Bezeichnenderweise verehrt unsere Gesellschaft die beteiligten Helden am liebsten dann, wenn sie schon lange tot sind (wie Mahatma Gandhi) oder sich in weiter Ferne befinden (wie Alexei Nawalny).

Ich könnte mir sogar vorstellen, eines Tages, wenn alle realpolitischen demokratischen Mittel ausgeschöpft sind und erkennbar nicht die notwendige Klimaschutzleistung erbringen, mich selbst an einem Klimahungerstreik zu beteiligen. Falls ich dann die Kraft aufbringen sollte, denn der Idealismus der Jugend wird mit fortschreitendem Alter von erfahrungsgeprägtem Zynismus geschmälert.
Aber dieser Tag, wo man sich für das Wohlergehen der Gemeinschaft selbst Gewalt antun möchte, ist noch nicht gekommen - auch nicht für euch! Und dieser Tag wird hoffentlich nie anbrechen.
Denn noch steht uns eine Fülle von gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten zur Verfügung, bei denen niemand zwingend sein Leben für die Bewahrung der Schöpfung gefährden muss. Vermutlich werden sich nach der Bundestagswahl am 26. September 2021 sogar größere Spielräume für eine deutsche Klimapolitik eröffnen, die der dramatischen Lage eher gerecht wird. Dabei können direkte Begegnungen zwischen maßgeblichen Entscheidungsträgern und Aktivist:innen entscheidende Impulse geben – etwa zu dem von euch vorgeschlagenen Bürger:innenrat. Ihr werdet also nicht nur in dieser Woche, sondern auch in den nächsten Jahren dringend gebraucht.
Aber ganz grundsätzlich ist mir jedes Leben wichtig – das von den Vielen, die noch gar nicht geboren sind, und das von euch Wenigen, die in ihrer Verzweiflung zu verzweifelten Mitteln greifen. Deshalb bitte ich euch, den Streik sofort abzubrechen! Das Zeichen, das ihr gesetzt habt, ist ohnehin schon auf der ganzen Welt wahrgenommen worden. Ich biete an, so bald wie möglich Treffen mit führenden Klimawissenschaftlern zu organisieren, wo ihr euren Standpunkt vorbringen und überprüfen könnt. Und ich biete an, mein Netzwerk von Kontakten zu nutzen, damit ihr mit Persönlichkeiten sprecht, die zu überzeugen sich wirklich lohnt. Dafür braucht es ein paar Monate Zeit, die wir nach der weitgehenden politischen Untätigkeit der letzten drei Jahrzehnte auch noch aufbringen sollten.

Schließlich will ich euch noch einen Gedanken mitgeben, der euch die Beendigung der Aktion möglicherweise erleichtert: Neben der Arroganz der Macht und der Arroganz des Wissens gibt es auch eine Arroganz des selbstauferlegten Martyriums. Wir müssen aber alle Arten von Arroganz
ablegen, wenn wir die Welt noch gemeinsam retten wollen.

In tiefem Respekt, Hans Joachim Schellnhuber

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen