Mittwoch, 20. November 2024

In Deutschland – und auch sonst vielerorts – findet gerade eine Energierevolution statt, wie sie die Welt in diesem Tempo noch nie erlebt hat

 hier  Spiegel  Eine Kolumne von Christian Stöcker  17.11.2024

Riesige Speicher fürs Stromnetz: 
Ein Batterie-Tsunami rollt heran

Die Union zweifelt an erneuerbaren Energien, dabei bahnt sich ein zweites deutsches Energiewunder an: Netzbetreiber melden einen »Boom« bei Anträgen für Großspeicher. Der könnte Strom billiger machen denn je.


Laut der Technischen Hochschule Aachen (RWTH) sind in Deutschland aktuell Stromgroßspeicher mit einer Gesamtleistung von 1,5 Gigawatt an das Netz angeschlossen. Das ist ein bisschen mehr Leistung, als sie das Atomkraftwerk Brokdorf zur Verfügung stellen konnte. Großspeicher können diese Leistung natürlich nicht kontinuierlich anbieten, sondern immer nur so lang, bis die Batterien leer sind.

Christian Stöcker, Jahrgang 1973, ist Kognitions­psychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang Digitale Kommunikation. Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE.

Die Menge an Strom, die bislang installierte Großspeicher vorhalten können, liegt laut RWTH Aachen bei 1,8 Gigawattstunden. Das ist, nur zum Vergleich, in etwa der durchschnittliche Tagesverbrauch von 180.000 Haushalten.

Laufende Kosten nahe null

Eine viel größere Menge Strom wird derzeit in den Kellern und Hauswirtschaftsräumen deutscher Haushalte gespeichert: Die Kapazität deutscher Heimspeicher hat sich in den vergangenen vier Jahren verzehnfacht, von 1,4 Gigawattstunden auf 14 Gigawattstunden. Privatleute können derzeit hierzulande also fast achtmal so viel Strom bei sich zu Hause speichern wie Unternehmen, die große Speicherparks betreiben. Dazu kommen noch einmal knapp 670 Megawattstunden gewerbliche Speicher, die etwa Industrieunternehmen oder große Bauernhöfe betreiben. All diese Zahlen sind nur Momentaufnahmen, denn Monat für Monat werden jeweils wieder Hunderte Megawattstunden Speicherkapazität hinzugebaut (eine Gigawattstunde sind tausend Megawattstunden).

Firmen und Privatleute machen das, weil es sich lohnt. Dieser Boom wird weitergehen, denn die Preise für Speicher und Photovoltaik sind weiterhin im freien Fall. Man kann sich im Moment ein Balkonkraftwerk samt Wechselrichter für weniger als 200 Euro zulegen. Eine Heimbatterie mit gut 10 Kilowattstunden Speicherkapazität gibt es mittlerweile ab 1500 Euro, mancherorts für noch weniger. Wer es richtig anstellt und die baulichen Möglichkeiten hat, kann auch hierzulande von Mai bis September schon jetzt seine laufenden Stromkosten auf nahe null senken, nur mit Solarstrom und Speicher. So etwas amortisiert sich schnell.

»Tsunami«, »Boom«, »überrollt«

Die Information über das noch viel wichtigere Feld der Großspeicher findet man bislang allerdings nur in Fachpublikationen. Etwa dem Onlinefachmagazin der auf Energiethemen spezialisierten Analystenfirma Montel. »Montel News« hat  bei den vier Übertragungsnetzbetreibern – 50Hertz, Amprion TenneT und TransnetBW – in Deutschland nachgefragt, wie viele Großspeicherprojekte derzeit beantragt werden. Die Antwort überraschte auch viele Fachleute, die jetzt intensiv über die Implikationen  diskutieren .

»Wir werden gerade überrollt von einem Tsunami an Anschlussbegehren«, zitiert Montel einen Vertreter von Amprion. Eine TransnetBW-Sprecherin und ein 50Hertz-Sprecher benutzten gleichlautend den Begriff »Boom«. Die »Anschlussbegehren« für Großspeicherprojekte summieren sich auf erstaunliche 161 Gigawatt Gesamtleistung. Das heißt: Es ist jetzt schon mehr als hundertmal so viel beantragt, wie derzeit ans Netz angeschlossen ist.

Es gibt Unternehmen, und zwar diverse, die angesichts der schwankenden Strompreise durch erneuerbare Energien ein Geschäftsmodell aus dem Speichern und Weiterverkaufen von Strom machen wollen. Das lohnt sich wegen der weiterhin in hohem Tempo fallenden Batteriepreise.

Dass das passieren wird, war in dieser Kolumne vor einigen Wochen schon einmal Thema. Jetzt zeigt sich: Es wird wohl noch viel schneller gehen als erwartet – wenn die Regierung die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Der Energieökonom Lion Hirth rät zum Beispiel, diese augenscheinlich wertvollen Optionen zum Geldverdienen mit Stromhandel nicht einfach kostenlos herzugeben. Und er weist darauf hin, dass Anträge nicht gleich Ausbau sind.

Die Prognosen mal eben verdoppelt?

Dass es diese Anfragen gibt, heißt nicht, dass all diese Großspeicher auch installiert werden: Manche Unternehmen fragen zum Beispiel mehrere Standorte parallel an, um am Ende wohl nur ein Projekt umzusetzen, andere bringen vielleicht keine Finanzierung zustande oder nehmen aus anderen Gründen wieder Abstand. Der Netzbetreiber Amprion zum Beispiel geht aber davon aus, dass 70 bis 80 Prozent der Anfragen für die von diesem Netzbetreiber verantwortete Zone zumindest technisch machbar wären.

Aber nehmen wir einmal optimistisch an, von den beantragten 161 Gigawatt Leistung ginge die Hälfte eines Tages wirklich ans Netz, also etwa 80 Gigawatt. Wenn man eine mittlere Speichertiefe von drei Stunden ansetzt (ein aktuell realistischer Wert), ergibt das 240 Gigawattstunden Speicherkapazität. Das entspräche dann etwa dem aktuellen Tagesverbrauch von 24 Millionen Haushalten. Gespeichert in Batterien.

Das wäre eine alle Prognosen ad absurdum führende, bislang unerwartete Entwicklung: Selbst das von dem Grünen Minister Robert Habeck geführte Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geht  nach dem sogenannten Netzentwicklungsplan Strom nur von 43 bis 54 Gigawatt Leistung von Großspeichern aus – und zwar erst im Jahr 2045. Für das Jahr 2037 sieht der Plan nur 24 Gigawatt Leistung aus Großspeichern vor. Noch einmal zur Erinnerung: Fast siebenmal so viel ist derzeit beantragt.

Aus Problemen werden Chancen

Großspeicher werden derzeit vor allem eingesetzt, um die Frequenz im Stromnetz bei schwankendem Input zu stabilisieren. Und im sogenannten Intraday-Handel, also dem schnellsten Teil der Strombörse. Gäbe es plötzlich viel mehr davon, würde manches, das im Moment wie ein Problem aussieht, sich in eine Chance verwandeln.

Zum Beispiel der ebenfalls gewaltige Boom privat betriebener Solaranlagen, die mit ihren vielen kleinen Beiträgen zur Stromversorgung die Regelung des Netzes zu einer wachsenden Herausforderung machen. Auch Heimspeicher helfen da nicht weiter, denn wenn die Sonne kräftig scheint, sind die Heimspeicher spätestens mittags voll und dann speisen viele Haushalte plötzlich Solarstrom ins Netz, was den Strompreis drückt und das Regeln schwieriger macht. Künftig könnten diesen Strom dann die Betreiber der Großspeicher billig einkaufen – und etwa in den Stunden mit hohem Stromverbrauch am Abend wieder gewinnbringend losschlagen. Das macht Alternativen wie Gas-Peak-Kraftwerke dann teilweise überflüssig.

Dazu könnten, die richtigen Rahmenbedingen vorausgesetzt, noch einmal Massen von E-Autos mit großen Batterien kommen: Wenn Gesetzgeber, Stromanbieter und Netzbetreiber bidirektionales Laden ermöglichen, wären viele E-Autos plötzlich ebenfalls Netzspeicher, bei Bedarf aus der Ferne als Stromquellen aktiviert, als dezentraler Großspeicher gewissermaßen. Die Batterien halten das locker aus.

In Frankreich geht das schon  – dort können Fahrer bestimmter Renault-Modelle künftig »quasi kostenlos« laden, wenn sie ihr Auto gelegentlich als Speicher verfügbar machen. Renault übernimmt die Garantie für die Batterie. Mit entsprechender Regulierung könnte man das Gleiche auch mit den Batterien in deutschen Kellern machen.

Anlagen abregeln hat sich bald erledigt

Windkraftanlagen oder große Solarkraftwerke abzuregeln, weil sie gerade »zu viel« Strom produzieren – das ist in dieser Zukunft mit viel Speicherkapazität überflüssig. Was wiederum gut für den Strompreis wäre, denn bekanntlich ist erneuerbarer Strom konkurrenzlos billig.

Und auch da wird die Entwicklung nicht stehen bleiben. Aktuelle Batterie-Großspeicher haben eine sogenannte Speichertiefe von zwei bis vier Stunden, sind also nach dieser Zeit unter Last wieder leer. Neue Systeme, die etwa in Australien  (dort übrigens unter anderem von RWE ) oder Kalifornien  geplant werden, liefern dagegen bis zu acht Stunden lang Output. In Kalifornien ist ein Projekt mit 100 Stunden Speichertiefe  in Arbeit.

Das eine oder andere Gaskraftwerk für Stromversorgung zu Peak-Zeiten wird vermutlich schlicht überflüssig werden. Genau das passiert etwa in Texas und Kalifornien bereits.  Der Strompreis wird unabhängiger vom Gaspreis. Und die Inseln mit sogenannten Dunkelflauten werden immer kleiner.

Der Kanzlerkandidat der Union nennt Sonnen- und Windenergie »Übergangstechnologien«, zerrte im Bundestag diese Woche wieder einmal die Floskel von der »Technologieoffenheit« hervor und verspricht Luftschlösser wie Fusionsenergie (diese Technik gibt es einfach noch nicht). Die FDP hat vor dem Bruch der Koalition ein Papier vorgelegt, das hauptsächlich in die fossile Vergangenheit weist . Weil erneuerbare Energien in Deutschland immer noch als »grün« gelten, machen schwarz und gelb Wahlkampf mit Nebelkerzen.

Unterdessen feiern internationale Beobachter  die enormen Erfolge der deutschen Politik zu erneuerbaren Energien.

In Deutschland – und auch sonst vielerorts – findet gerade eine Energierevolution statt, wie sie die Welt in diesem Tempo noch nie erlebt hat. Die nationale Energiediskussion, auch die mediale, ist von dieser Entwicklung völlig entkoppelt. Sie dreht sich um Retro- oder Fantasietechnik. Das ist auch ein Medienproblem.

Wie auch immer die nächste Bundesregierung aussieht – sie muss vor allem aus dem Weg gehen. Also doppelte Kosten für Ein- und Ausspeichern dauerhaft abschaffen, Genehmigungen vereinfachen, Rahmenbedingungen klären, deregulieren. Dann werden wir unser Energiesystem in zehn Jahren nicht wiedererkennen. Es wird sauberer, flexibler, besser und billiger sein.

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