Freitag, 1. November 2024

Naturrechte: Wenn Flüsse und Wälder vor Gericht ziehen können

 hier vom Recherche-Kollektiv Südamerika+Reporterinnen: Ulrike Prinz  26.10.2024

COP16: Von der Ware zum Rechtssubjekt. Was bedeutet es, wenn die Natur Rechte bekommt

Indigene fordern Personenrechte für den Amazonas, als ein global lebenswichtiges Ökosystem. Doch was bedeuten die Rechte der Natur und was ist ihr Vorteil? Fünf Fragen - fünf Antworten



Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt sind zu einer Gefahr für die weltweite Nahrungsmittelproduktion und die Wasserversorgung geworden. Auch der wirtschaftliche Druck auf die Ökosysteme nimmt zu. Die Politik lässt sich fast überall vor den Karren der Wirtschaft spannen. Umweltschützer versuchen deshalb zunehmend, den Naturschutz auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Ein Instrument dabei sind die Rechte der Natur.

Was sind die „Rechte der Natur“?

Die „Rechte der Natur“ sind ein relativ neues juristisches Konzept, das der Natur oder ihren Ökosystemen und Bestandteilen – Flüssen, Bergen, Mooren und Wäldern – Personenrechte zuspricht.

Ein Fluss ist dann mehr als nur ein Gewässer mit zulässigen Grenzwerten. Er ist Teil eines Ökosystems, das mit anderen Elementen verbunden ist und soll ein Recht auf Existenz, Unversehrtheit und auf Erneuerung haben.

Umweltorganisationen, Indigene, Regierungsbehörden, Wissenschaflterïnnen und Einzelpersonen können die Natur vor Gericht vertreten und in ihrem Namen sprechen und handeln.

Woher kommt das Konzept?

Die Idee dahinter ist eine fundamental andere Beziehung zur Umwelt – eine, die auf Verantwortung basiert statt auf Eigentum und Ausbeutung und die den Menschen nicht über die Natur stellt, sondern ihn als Teil der Natur begreift.

Ecuador war Pionier bei der Erschaffung dieser Rechtsfigur. 2008 nahm es die Natur als Rechtssubjekt in seine Verfassung auf und erkannte den indianischen Ausdruck „Pacha Mama“ (Mutter Erde) als Synonym für die Natur an. Sehr oft wird das Recht der Natur daher mit der Kosmovision der indigenen Völker begründet, in der ein Berg, ein Fluss, ein Feuchtgebiet als heilig gelten. „Pacha Mama, in der sich das Leben verwirklicht und realisiert, hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden“, heißt es im Artikel 72 der ecuadorianischen Verfassung.

Doch kann man die Rechte der Natur auch in der westlichen, aufklärerischen Rechtstradition aus dem Eigentumsrecht ableiten.

Was können sie besser als die bisherigen Umweltrechte?

Bisher waren nur Menschen, Organisationen oder ökonomische Akteure Rechtssubjekte. Die Natur, also Tiere, Pflanzen und Steine, gelten als Objekte, die man besitzen, zerstören oder schützen kann. Umweltschutzgesetze regeln, wie viel Naturzerstörung oder Umweltverschmutzung in Kauf genommen wird und legalisieren dadurch Umweltschäden.

Das grundlegende Problem hinter dieser Vorstellung ist, dass die Gewinne aus der Ausbeutung der Natur meist in private Taschen fließen – die Schäden jedoch, wie beispielsweise verschmutzte Luft und Wasser – trägt die Allgemeinheit.

Selbst ein Ökosystem mit höchster Naturschutzkategorie kann bisher ausgebeutet werden, wie zum Beispiel das Wattenmeer. Ist die Natur hingegen ein Rechtssubjekt, stehen ihre Rechte gleichwertig neben anderen Rechten und können nicht ohne weiteres weggewogen werden, zugunsten wirtschaftlicher Profitinteressen.

Indigene, Umweltverbände, NGOs oder Anwaltskanzleien können dann vor Gericht ziehen und als Fürsprecher der Natur deren Rechte einklagen.

Was nützen die Rechte der Natur gegen Umweltverbrechen?

Sie sind ein Instrument, um das profitorientierte Interessensgeflecht aus Politik und Wirtschaft auszuhebeln und geben der Zivilgesellschaft und Umweltschützerïnnen ein mächtiges Rechtsmittel in die Hand.

Außerdem können die Rechte der Natur in der Bevölkerung ein Umdenken bewirken: weg von der Natur als Ressource und hin zur Natur als Mitlebewesen und hin zur Erkenntnis, dass alles miteinander verbunden ist.

Naturrechte werden im Rahmen der Verhandlungen über den Klimawandel und der Konvention über die biologische Vielfalt diskutiert. Im Kunming-Montreal-Protokoll der Biodiversitätskonvention wurden die Rechte der Natur 2022 aufgenommen (Art. 19 f). 196 Länder haben dieses Protokoll unterzeichnet.

Die IUCN, die größte und älteste internationale Umweltorganisation der Welt, hat ihre Mitglieder zur Umsetzung von Naturrechten verpflichtet.

Wegen Überdüngung nahm das Algenwachstum im Mar Menor so stark zu, das es schon zweimal umgekippt ist. Die Gemeinden müssen es täglich von einer stinkenden Algenschicht befreien.

Welche Erfolge sind bisher zu verzeichnen?

Freiheit und Rechte sind noch nie vom Himmel gefallen. Sie müssen erstritten werden. Die Geschichte der Menschheit kann man als einen Prozess der progressiven Anerkennung von Rechten lesen. Die Rechte der Natur stehen dabei in der Tradition von wegweisenden Paradigmenwechseln wie dem Verbot der Sklaverei und der Gleichberechtigung für Frauen.

Inzwischen gibt es über 400 Initiativen in rund 40 Ländern. In Neuseeland wurde 2017 der Wanganui-Fluss zu einer eigenen juristischen Person erklärt.

Spanien hat 2022 aufgrund einer Bürgerinitiative als erstes europäisches Land ein Ökosystem zum Rechtssubjekt erhoben. Dabei handelt es sich um die Salzwasserlagune Mar Menor.

Diese Urteile haben auch praktische Folgen: In Spanien wurden Bewässerungsanlagen abgebaut und Bauvorhaben im Einzugsbereich des Mar Menor gestoppt.

In Ecuador wurden Bergbauvorhaben gerichtlich unter Berufung auf die Rechte der Natur gestrichen oder Städte dazu verurteilt, Flüsse zu dekontaminieren. In Bayern läuft ein Volksbegehren, um die Rechte der Natur in der dortigen Verfassung zu verankern.

In Peru genießt seit März 2024 Marañón eigene Personenrechte. Er ist der Hauptquellfluss des Amazonas und besonders durch jahrzehntelange Erdölförderung geschädigt. Eingereicht wurde der Antrag auf Rechtsperson vom Frauenverband der Kukama, die sich seit Jahren für den Schutz ihres Flusses einsetzen. Als Schützerïnnen der Rechte bestimmt das Gerichtsurteil den peruanischen Staat und die Kukama-Indigenen.

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