Es gibt einen Kipppunkt, nach dessen Überschreitung man versteht: Ja, das mit der Klimakrise ist wirklich so nah und bedrohlich, wie man uns erzählt hat. New York hat gerade einen erlebt. Das ist erst der Anfang.
»Wenn es um den Klimawandel geht, hat jeder irgendwann einen ›Oh Shit‹-Moment – das ist der Moment, wenn klar wird, wenn die Leute verstehen, was wirklich auf dem Spiel steht.« Mit diesem Satz zitierte der Journalist und Sachbuchautor Jeff Goodell in dieser Woche im »Rolling Stone« den ehemaligen Vizepräsidenten Al Gore.
Die Überschrift von Goodells Text lautet übersetzt: »Die Klimakrise war immer real. Jetzt ist sie in Euren Lungen.«
Ich habe diesen »Oh Shit«-Moment in dieser Kolumne vor ein paar Jahren einmal mit dem Moment verglichen, in dem klar wird, dass das Flugzeug, in dem man gerade den Atlantik überquert, ein Loch im Tank hat. Nach dieser Erkenntnis ist nichts mehr wie vorher, Prioritäten verschieben sich, Zukunftspläne müssen dringend überdacht und angepasst werden.
Psychologisch betrachtet sind »Oh Shit«-Momente gewissermaßen Kipppunkte, bei denen die kognitiven Abwehrmechanismen, mit denen sich unsere Köpfe gegen das Akzeptieren des Unerhörten wehren, endlich versagen. Ja, es stimmt wirklich: Die Menschheit ist dabei, ihren eigenen Lebensraum irreparabel zu zerstören, und die Katastrophen haben längst begonnen.
Kanadischer Qualm in New York und Washington
Diese »Oh Shit«-Momente sind aber bislang weiterhin keine global geteilten Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001, sondern regionale oder sogar individuelle Erlebnisse.
In New York, Washington und anderswo im Osten der USA dürften in den vergangenen Tagen Hunderttausende oder sogar Millionen ihren persönlichen »Oh Shit«-Moment durchlebt haben. Wenn man mitten in den Vereinigten Staaten plötzlich den Qualm kanadischer Waldbrände einatmet, verändert das den Blick auf die Welt womöglich nachhaltig.
Wir können uns retten, indem wir Bußgeld zahlen
Natürlich wurden von den Fans fossiler Brennstoffe, den Feinden der Menschheit also, alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die kognitiven Abwehrmechanismen des eigenen Publikums auch gegen diesen potenziellen Kipppunkt in Stellung zu bringen. Kognitive Dissonanz wird ja gerne durch Abwertung dissonanter Information bekämpft, weil dieser Missklang im Kopf so unangenehm ist.
Diese Woche klang die Abwertung dissonanter Information im Auftrag der Öl-, Kohle- und Gaskonzerne zum Beispiel so:
»Es gibt keinerlei Gesundheitsgefährdung (…) wir haben solche Luft in Indien oder China andauernd (…) in China wäre das saubere Luft.« Steven Milloy, seit Jahrzehnten Tabakindustrie- und Fossillobbyist sowie Anti-Wissenschafts-Blogger bei »Fox News« .
»Es riecht wie Holzrauch, es ist eigentlich kein unangenehmer Geruch (…), es ist hübsch, es erzeugt eine schöne, interessante Aura.« Moderator Greg Kelley beim Rechtsaußen-Sender »Newsmax«
»Das ist jetzt nicht der Moment, den Leuten Vorträge über die Wissenschaft des Klimawandels zu halten.« Der Republikaner-Abgeordnete Marc Molinaro bei »Fox & Friends« .
Solche Abwieglungs- und Desinformationsstrategien dürften nur noch bei Leuten verfangen, die dank jahrzehntelanger Desinformation schon völlig den Kontakt zur Realität verloren haben oder, worauf Fox vermutlich spekuliert, weit genug vom Rauch entfernt wohnen. Und das sind in den USA leider viele.
Zur Erinnerung: Eine Pew-Befragung im Sommer 2022 ergab, dass von den Anhängern der Republikaner nur 23 Prozent den Klimawandel für eine große Bedrohung halten. Nirgendwo war fossile Desinformation erfolgreicher als in dieser Zielgruppe. Über die Gesamtbevölkerung der USA hinweg sind es deshalb nur 54 Prozent. Das ist unter den Industrienationen ein krasser Ausreißer nach unten. In den meisten davon halten etwa drei Viertel oder noch mehr die Klimakrise für sehr bedrohlich. Irgendwann werden es an die 100 Prozent sein, aber womöglich zu spät.
Die Desinformierten sind bares Geld wert
Für die Propagandisten der Fossilbranchen sind die Millionen Desinformierten viele Milliarden Dollar wert. Solange es Leute gibt, die bereit sind, auch den Rauch in ihren Lungen den »woken Kanadiern« (»Newmax«) statt der menschengemachten Klimakatastrophe zuzuschreiben, werden Verhalten und Gesetzgebung sich weiterhin nur langsam ändern. So langsam, dass man weiterhin schön Geld mit Roh-CO₂ verdienen kann.
In Deutschland ist die Sachlage anders: Bei uns nannten der Pew-Studie zufolge 73 Prozent den Klimawandel eine große Bedrohung. Dieses Jahr wird diese Zahl weiter steigen, denn das Jahr 2023 hält auch für uns Deutsche noch einige potenzielle »Oh Shit«-Momente bereit.
Vermutlich auch für die Leserinnen und Leser der »Bild«-Zeitung, die diese Woche ernsthaft in großen Buchstaben fragte: »Warum ist es jetzt schon wieder so trocken?«
Ja, warum nur?
Für jede Menge »Oh Shit« -Momente wird das sorgen, was im Moment mit den Weltmeeren passiert: Die Oberflächentemperatur liegt zum Beispiel im Atlantik zurzeit mehr als ein Grad Celsius über dem langjährigen Mittel , was wohl an einer Kombination von Einflüssen liegt, von der Erderwärmung über »El Niño« bis hin zu geringeren Schwefelemissionen von Schiffen.
Gleichzeitig ist das Meereis in der Antarktis viel dünner, als das zu dieser Jahreszeit normal wäre, rekordverdächtig dünn . Beides dürfte globale Folgen für das Risiko von Extremwetterereignissen haben.
Es wird jede Woche absurder
Mit reinrassiger Klimawandelleugnung blamiert man sich in Deutschland mittlerweile zum Glück außerhalb der Kernzielgruppe der AfD. Aber die These, dass die rasant zunehmenden Wetterextreme der Gegenwart gar nicht so viel mit unseren CO₂-Emissionen zu tun haben, ist bei Springer-Zeitungen und anderswo nach wie vor populär. Bestimmt auch bei Gazprom, in Katar, bei Leag, Mibrag und RWE, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und Abwieglungsstrategien findet man von Sahra Wagenknecht bis zur FDP, von der CDU bis zu Springer.
Der Präsident der nächsten Weltklimakonferenz ist weiterhin ein Mann, dessen eigentlicher Arbeitgeber, die Ölgesellschaft der Vereinigten Arabischen Emirate, gerade eine Ausweitung ihrer Öl- und Gasförderaktivitäten plant . Es wird jede Woche absurder.
Fakt ist: Der kanadische Mai war der heißeste in der Geschichte der Aufzeichnungen und der siebttrockenste. Die Tatsache, dass der Rauch jetzt über das am dichtesten besiedelte Gebiet der USA zieht (was das Thema überhaupt erst in den Fokus der globalen Aufmerksamkeit rückt, weil es die »Oh Shit«-Momente multipliziert), hat mit einer Hitzeglocke über Kanada zu tun .
Diese Phänomene sind keine »normalen« Ausschläge natürlicher Wetterphänomene. Sie sind Auswirkungen der globalen Erhitzung, und sie werden schnell schlimmer. Die Brände des noch nicht einmal halb vergangenen Jahres 2023 in Kanada haben bereits jetzt eine Waldfläche vernichtet, die 13-mal so groß ist , wie das bislang als »normal« galt. Und die abgebrannte Fläche ist bereits mehr als doppelt so groß wie im auch schon schlimmen Jahr 2022.
Wann kommt Aiwangers »Oh Shit«-Moment?
Auch in Deutschland brennt der Wald bekanntlich bereits jetzt. Diese Woche fachten kräftige Winde die Feuer in Brandenburg weiter an . Einmal mehr ist das Problem für die Feuerwehren noch größer als ohnehin schon, weil das brennende Gebiet »munitionsbelastet« ist, wie das auf Amtsdeutsch heißt.
Originellerweise erklärte Hubert »25 Quadratkilometer« Aiwanger von den Freien Wählern, der in Bayern gerade Wahlkampf macht, diese Woche im Zusammenhang mit einem Bild vom Rauch-verdunkelten New York: »Die Grünen zerstören unsere Freiheit.« Der Mann wäre bei »Fox News« oder »Newsmax« gut aufgehoben – wenn denn das Englisch dafür reichte –, ganz sicher aber nicht in Regierungsverantwortung mitten in der größten Krise der Menschheitsgeschichte.
Immer daran denken: Das alles ist weiterhin erst der Anfang. Die ersten schamhaften Vorboten der richtigen Extremwetterkatastrophen, die uns erwarten, wenn die Temperaturen weiter steigen.
Mal sehen, wann Leute wie Aiwanger ihren »Oh Shit«-Moment erleben. Dass er kommt, ist sicher.
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