Mittwoch, 11. Dezember 2024

Was bleibt von "Mehr Fortschritt wagen"? Gar nicht mal so wenig, immer wieder wurde auch der Reformstau der Vorgängerregierungen bearbeitet

  hier   Perspektive daily   Benjamin Fuchs  9. Dezember 2024 

Das Fazit: Was die Ampel geschafft hat, was nicht und warum es crashte

3 Jahre deutsche Politik, Versuch einer fairen Bilanz.

Ganz am Anfang der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP hatte es tatsächlich so etwas wie einen Zauber gegeben. 16 Jahre CDU-Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel waren vorbei. Vieles hatte sich in dieser Zeit aufgestaut: Deutschland stand beim Stromnetz- und Breitbandausbau gar nicht gut da, der Zustand von Straßen und Schienen ließ zu wünschen übrig und es gab immer noch kein modernes Einwanderungsrecht. Jetzt sollte das alles angepackt werden. Die Spitzen von Grünen und FDP einigten sich zuerst untereinander und sandten ein berühmt gewordenes Selfie in die Welt, bevor es in die Koalitionsverhandlungen mit der SPD ging.

Der Vertrag von 2021 wollte »Mehr Fortschritt wagen«. Darin heißt es:

Wir haben unterschiedliche Traditionen und Perspektiven, doch uns einen die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung für die Zukunft Deutschlands zu übernehmen … und die Zuversicht, dass dies gemeinsam gelingen kann.

Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP, 2021

Im November 2024 ist vom Anfangszauber nichts mehr übrig: Es kommt zum Bruch.
Und richtig schlimm scheinen das nicht sehr viele zu finden. Fast 60% unterstützen das Ampel-Ende laut infratest dimap. Zum Vergleich: Am Tag nach der Bundestagswahl 2021 wollten 55% die Ampel. 

Auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) steckt im Beliebtheitstief: Zu Beginn der Ampelkoalition befürworteten 62% seine Kanzlerschaft, Ende 2024 sind es laut Forsa nur noch 16%. Was ist passiert? War die Ampel wirklich die schlechteste Regierung, die Deutschland je hatte? Oder war sie am Ende doch ganz okay? Zeit für eine Bilanz.

Corona und Krieg: Die historischen Startbedingungen der Ampel

Politikwissenschaftler Robert Vehrkamp, der für die Bertelsmann Stiftung auch an regelmäßigen Regierungsbilanzen arbeitet, bezeichnet den Koalitionsvertrag der Ampel als den ambitioniertesten der vergangenen 20 Jahre.

Die Ampel wollte vieles auf einmal: die Wirtschaft Richtung Klimaneutralität umbauen, Hartz IV abschaffen und das Bürgergeld einführen, den Mindestlohn erhöhen, die Rente zukunftsfest machen, 400.000 Wohnungen pro Jahr bauen, 100.000 davon öffentlich gefördert. Das kostet. Schon damals ist klar, dass Christian Lindners FDP die Schuldenbremse auf keinen Fall anfassen und möglichst auch keine Steuern erhöhen will. Die Regierung startet also am 8. Dezember 2021 mit einem ordentlichen Rucksack, dessen Gewicht in der Aufbruchseuphorie noch nicht so deutlich zu spüren ist.

Zwar rollt zu dieser Zeit eine neue Coronawelle auf Deutschland zu, und noch ist nicht ganz klar, wie gefährlich die neue Variante Omikron ist. Aber der ganz große Alarm ebbt ab. Die Wirtschaft erholt sich nach dem Einbruch von 2020 wieder – die Zeichen für die kommenden Jahre stehen auf Wachstum.

Nur ein paar Wochen später, am 24. Februar 2022, greift Russland die gesamte Ukraine an. Es folgt die Gas- und Energiekrise. Die Schuldenbremse bleibt wegen der Notsituation weiter ausgesetzt, »Zeitenwende« (100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr) und »Doppelwumms« (ein 200-Milliarden-Hilfspaket zur Energiekrise) werden aufgesetzt.

2023 soll es zurück zur finanzpolitischen Normalität gehen. Das heißt: Die Schuldenbremse sollte mit dem Haushalt 2024 wieder eingehalten werden. In dieses Vorhaben platzt Ende 2023 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das plötzlich ein Loch von 60 Milliarden Euro in die Kassen reißt – und auch in viele Ampelpläne. Und hier kommt die erste Überraschung: Trotz aller Widrigkeiten arbeitet die Koalition zunächst recht zügig ihre Vorhaben ab.

Vorfahrt für Reformen? Die Ampel im Tracking

Ein entsprechend gutes Zeugnis bekam die Koalition zur Halbzeit von Wissenschaftler:innen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ausgestellt. Ihnen zufolge hatte die Ampel 2023 gut 1/3 ihrer 453 Versprechen voll oder teilweise umgesetzt. Wie die Bilanz ganz am Ende ausfällt, wird die Stiftung erst nach der Wahl veröffentlichen.

Auch die Organisation »Frag den Staat« verfolgte im Rahmen eines Rechercheprojekts die Arbeit der Ampel in einem Koalitionstracker. Dafür hat das Projektteam den Koalitionsvertrag durchforstet und 271 Vorhaben identifiziert. Die Zahl ist deshalb kleiner, weil die Bertelsmann Stiftung in ihrem Vorgehen die einzelnen Vorhaben feiner aufspaltet. Mehr als 25 Organisationen wie Pro Asyl, Sanktionsfrei, Netzwerk Recherche oder Netzpolitik.org behielten für den Tracker bei Frag den Staat ihre Ressorts im Auge.

Die Ergebnisse zeigen hier in eine ähnliche Richtung: Stand Dezember 2024 hat die Bundesregierung laut Tracker 26% ihrer Vorhaben voll umgesetzt, 15% teilweise und mit 34% immerhin begonnen.

Arbeitsverweigerung lässt sich daraus nicht ableiten. Aber vieles steckt eben noch in der Pipeline – und wird sich nun wohl auch nicht mehr bewegen.

»Auffällig ist, dass die Ampel einige Bereiche stärker bearbeitet hat als andere«, sagt Arne Semsrott, Journalist und Leiter von Frag den Staat. Bei Gesetzen zu Bürgerrechts- und Transparenzfragen sei die Ampel nicht so stark gewesen, dafür sei im Bereich Asyl und Migration viel passiert.

Das zeigt auch die nun folgende Perspective-Daily-Bilanz der Ampelkoalition, die einige Schlaglichter auf die wichtigsten Erfolge und die traurigsten Versäumnisse richtet – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Grünes Licht für Bürgergeld, Cannabis und Deutschlandticket

Migration und Asylrecht: Die Ampel hat Deutschland auch rechtlich auf den Weg in Richtung Einwanderungsland gebracht, was in unionsgeführten Regierungen stets verweigert wurde. Dazu gehört ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das neue Staatsangehörigkeitsrecht. Letzteres erleichtert den Zugang zum deutschen Pass. 

Gastarbeiter:innen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben, sollen nun auch leichter die Staatsangehörigkeit bekommen. Im Asylbereich hat Olaf Scholz den Satz geprägt: »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.« Insgesamt bleibt von der Ampel eine Verschärfung des Asylrechts. Nach langen Verhandlungen stimmte Deutschland hier härteren EU-Regeln (GEAS) zu, durch die nun Asylverfahren an den EU-Außengrenzen kommen sollen. Außerdem gibt es wieder Grenzkontrollen. Die Regierung machte zudem den Weg für eine »Bezahlkarte« für Asylsuchende frei, die Bargeldauszahlungen ersetzte. Vorgeblich, weil viel von dem an Asylbewerber:innen ausbezahlten Geld ins Ausland fließe. Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung widersprechen dem allerdings.

Soziales: Das mit einem Stigma behaftete Hartz IV wurde zum Bürgergeld. Die zentralen Veränderungen bestanden zunächst in höheren Regelsätzen (502 statt 449 Euro), weniger Druck und einem stärkeren Fokus auf Weiterbildung. Bürgergeld-Empfänger:innen konnten nun auch mehr Geld aus Jobs mit einem Verdienst zwischen 520 und 1.000 Euro behalten. 2024 stieg der Bürgergeldsatz von 502 auf 563 Euro, was mit der heftigen Teuerung begründet wurde, die vor allem ärmere Menschen traf. Neue Sanktionsverschärfungen waren schon vom Kabinett beschlossen, werden jetzt aber vermutlich nicht mehr kommen. Der Mindestlohn stieg per Gesetz auf 12 Euro.

Liberalisierungen: Ziemlich schnell kam die Teillegalisierung von Cannabis. Das gibt es nun einfacher auf Rezept, im Eigenanbau oder typisch deutsch: im Verein. Inzwischen haben die ersten Anbauvereinigungen unter strengen Auflagen getrocknete Blüten ausgegeben. 

Zudem gab es einen lange überfälligen Schritt im Bereich der weiblichen Selbstbestimmung: Paragraf 219a, das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, ist Geschichte. Die Streichung von 219a hatte die Union stets abgelehnt. Und: Dank des Selbstbestimmungsgesetzes können Menschen nun durch Erklärung beim Standesamt ihren Geschlechtseintrag verändern. Wichtig ist das vor allem für Transpersonen oder nicht binäre Menschen, die bisher langwierige und intime Gutachten ertragen mussten.

Umkämpftes Klima: Nur kurz Bestand haben dürfte die Reform des Heizungsgesetzes, um das trotz einiger Entschärfungen eine Art Kulturkampf entfacht wurde, der immer noch anhält. Spätestens Mitte 2028 sollen laut Gesetz neue Heizungen mit 65% erneuerbarer Energie laufen. Dazu gibt es Förderungen von bis zu 70% der Umbaukosten. CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat bereits angekündigt, das Gesetz als Regierungschef abschwächen zu wollen.

Und noch ein Gesetz zum Wohl des Klimas, das mehr Windenergie ermöglichen soll, hat die Ampel verabschiedet: Jedes Bundesland muss 2% seiner Fläche für die Bebauung durch Windräder ausweisen.

Viel Kritik musste die Erneuerung des Klimaschutzgesetzes einstecken. Bis 2030 soll Deutschland 65% weniger CO2 ausstoßen als 1990, bis 2045 lautet das Ziel Klimaneutralität. Bisher sollten die Ziele sektorweise erreicht und kontrolliert werden. Die Sektorziele wurden auf Drängen der FDP abgeschwächt. Sie existieren weiter, relevant ist am Ende aber die eingesparte Gesamtmenge. Vor allem Verkehrsminister Wissing (einst FDP, jetzt parteilos) argumentierte damit, dass andere Sektoren leichter CO2 einsparen könnten als sein Ressort.

In Wissings Sektor findet sich dafür eine der handfesteren Leistungen der Ampel: Mit dem Deutschlandticket, hervorgegangen aus dem 9-Euro-Ticket, geht es derzeit für 49 Euro im Monat per Nah- und Regionalverkehr durchs Land. Ab 2025 soll es 58 Euro kosten, über die Finanzierung kommt es aber immer wieder zu Streit zwischen Bund und Ländern.

Die Ampel hat unterm Strich also viele Reformen angepackt, blieb aber schließlich auch bei einigen Vorhaben stecken. Doch welche sind das?

Wie ein Actionstar, der unter einem sich schließenden Rolltor durchrutscht, hat es die Krankenhausreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gerade noch so geschafft und nach viel Streit Ende November den Bundesrat passiert. Kleinere Kliniken sollen sich stärker auf Spezialgebiete fokussieren, der Druck, möglichst viele Menschen durch ihre Betten zu schleusen, damit weichen. Das könnte für Patient:innen längere Wege bedeuten, aber gleichzeitig eine bessere Behandlungsqualität.

Nicht allen Ampelplänen war ein solches Finale vergönnt. Die Kindergrundsicherung von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) legt eine Vollbremsung hin und wird nicht mehr kommen. Zentrale staatliche Leistungen sollten dafür zusammengefasst werden, um den Zugang für arme Familien zu erleichtern. Auch die Rentenreform bleibt unvollendet. Es sollten Renteneinnahmen aus Aktien erwirtschaftet und das Rentenniveau auf 48% festlegt werden.

Erwähnenswert ist vielleicht noch der Kohleausstieg, der auf 2030 vorverlegt werden sollte. Das scheiterte vor allem an den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, in denen der Braunkohleabbau nach wie vor eine wichtige Bedeutung hat. Das Bundeswirtschaftsministerium beerdigte die Pläne Mitte 2024. In Ostdeutschland gilt weiter das Jahr 2038 als Enddatum, Nordrhein-Westfalen dagegen steigt 2030 aus. Und auch im Baubereich blieb die Bundesregierung hinter den anvisierten 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr deutlich zurück.

Einige Vorhaben hat die Ampel ganz zurückgestellt. Darunter die Einstufung von nicht gewinnorientiertem Journalismus als gemeinnützig, was mit einigen finanziellen Erleichterungen verbunden wäre, die auch uns sehr helfen würden. Ein entsprechender Erlass scheiterte am Widerstand des Bundesrats.

Welche weiteren Vorhaben die Ampel (nicht) umgesetzt oder zurückgestellt hat, kannst du bei Frag den Staat einsehen  hier

Am Ende: Schmerzhafte Vollbremsung und Verdienste

Wie fällt sie nun aus, die Gesamtbilanz dieser Koalition, die viel schlechtgeredet und -geschrieben wurde? Was bleibt in Erinnerung? Wahrscheinlich vor allem: Streit. Den meisten wird der Zwist um die Schuldenbremse oder auch das sogenannte Heizungsgesetz (Gebäude-Energie-Gesetz) in Erinnerung bleiben, das die Bundesregierung seit März 2022 beschäftigte und in einer Kampagne des Springerverlags in Kooperation mit dem libertären FDP-Abgeordneten Frank Schäffler gipfelte. Stichwort: Heizhammer. Am Ende blieb ein Kommunikationsdesaster des Bundeswirtschaftsministeriums, das Menschen immer skeptischer auf die Wärmewende, also die Abkehr von fossiler Energie beim Heizen, blicken ließ. Auf europäischer Ebene torpedierte die FDP das Aus für Verbrenner ab 2035.

Immer wieder trat der einstige Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf die Ausgabenbremse. Er stellte die Unterstützung der Ukraine infrage, wollte das Bürgergeld kürzen, ukrainischen Geflüchteten gar keins mehr zahlen. Schließlich provozierte die kleinste der 3 Koalitionsparteien den Crash. Damit hat die FDP allen geschadet, denn in Erinnerung bleibt nun vor allem der Zwist – und nicht das, was die Koalition geschafft hat.

Und das war gar nicht so wenig. Immer wieder hat sie auch den Reformstau der Vorgängerregierungen bearbeitet. Politikwissenschaftler Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung sagt: »Ich bin mir sicher, dass die Ampel mit etwas Distanz von der Geschichtsschreibung deutlich gnädiger gesehen wird als heute.«

Aber die Ampel hinterlässt auch Aufgaben für die kommende Regierung. Ökonom:innen vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft und dem gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung sehen einen Investitionsbedarf von 600 Milliarden Euro, um die Wirtschaft zukunftsfähig zu machen. Dafür müsste die Schuldenbremse gelockert werden, das ist unter fast allen Ökonom:innen unumstritten. Eigentlich gibt es dafür derzeit wohl auch die nötige 2/3-Mehrheit, aber die Union möchte das Thema erst nach der Wahl angehen.

Mehr Kooperation zwischen demokratischen Parteien sei wichtig, auch als Zeichen gegen populistische Parteien, sagt Robert Vehrkamp. Die Parteien haben aber längst in den Wahlkampfmodus geschaltet.

Dabei sollten sie es nicht zu weit treiben. Denn spätestens im März müssen sie wieder konstruktiv miteinander sprechen, um die brachliegenden Reformen zu stemmen – und das öffentliche Bild der Ampel nicht zu kopieren.

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