RND hier Imre Grimm 29.11.2024,
Die Kraft der Zuversicht: Warum die Welt besser ist, als wir denkenKeine Panik in der „Omnikrise“ - Auch in stürmischen Zeiten das Gute sehen.
Wirtschaftskrise in Deutschland, Krieg in Europa, Trump-Sieg in den USA: Es gibt Anlass genug, pessimistisch zu sein. Oder ist die Lage doch besser als die Stimmung? Ein Essay über ein verschüttetes Gefühl namens Hoffnung.
Der 5. November war kein „Schwarzer Freitag“, aber doch ein düsterer Dienstag, gefolgt von einem kaum minder misslichen Mittwoch: Erst wählten 77 Millionen US-Amerikaner einen verurteilten Straftäter zum Präsidenten. Und dann, keine zwölf Stunden später, zerbrach in Berlin die Ampelkoalition. Und der emotionale Arbeitsspeicher der Deutschen – ohnehin seit Jahren im alarmroten Bereich – geriet ins Flackern. Eine taumelnde Regierung. Ein egomanischer Despot im Weißen Haus. Noch zwei Krisengebiete mehr in dieser ohnehin schon irrlichternden Welt.
Die aktuelle Lage bietet jede Menge Anlass zur Niedergeschlagenheit. Erst recht für dieses Land, das sich überwiegend von Sorgen und alten Gewohnheiten ernährt und dessen Neigung zu diffusem Leiden an der Welt als „German Angst“ im englischen Sprachraum sprichwörtlich geworden ist.
Wie viele „Zeitenwenden“ passen in ein Jahrzehnt?
Der Riese Volkswagen wankt. Putin droht mit Atomwaffen. Mehr als 1000 Tage Krieg in der Ukraine. Zehntausende Tote im Nahostkonflikt. Rechtsextreme klopfen an den Türen zur Macht. Eine Jugend, die die Welt nur im Ausnahmezustand kennt. Brücken bröckeln. Gewissheiten erodieren.
Tristesse total. Eine sogenannte Omnikrise hat nicht nur Deutschland im Klammergriff. Klimawandel, Wirtschaft, Demokratie, Wohlstand, globale Machtverteilung – der Planet befindet sich in einem kolossalen Transformationsprozess. Das bringt massive Unsicherheit mit sich, und die wirkt hoch infektiös und tödlich für die Zuversicht. Die Folge: eine Abwärtsspirale der Negativität.
Entsprechend verheerend fällt die deutsche Selbstbewertung aus. Eine gelähmte Industrienation, die in Bürokratie erstickt. Überfordertes Politpersonal, das handwerklich versagt hat. Millionen Menschen mit kurzer Lunte, die sich in der Giftbrühe der sozialen Medien anschreien. Ein altes Erfolgslabel namens „Made in Germany“, das seine Strahlkraft eingebüßt hat. Dazu viel präfaschistisches Untergangsgeraune. Es ist ein „Perfect Storm“ des Pessimismus.
Angst ist ein starker sozialer Kitt
Willkommen in der gefühlten Funklochrepublik, wo Züge nach dem Zufallsprinzip fahren und eine Regierung in der Abklingphase Kiffergesetze beschloss, statt die Ärmel hochzukrempeln. Deutschland sei zum „Ramschladen“ geworden, zürnte im Frühsommer Theodor Weimer, der Chef der Deutschen Börse, in einem am rechten Rand heftig bejubelten Zornvideo. Ganz so, als könne das alte Land der rauchenden Schlote gleich dichtmachen.
Das ist Unfug. Bloß hat dieses hadernde, zu Zweckpessimismus neigende Deutschland die einzigartige Fähigkeit, sich in einen Kokon aus Sorgen hineinzudrehen wie ein Schneehund in seine Kuhle. Angst ist ein starker sozialer Kitt.
In echten Krisenländern guckt man keine Krimis
Kein Wunder, dass die Deutschen Krimis so lieben: Der „Tatort“ dient quasi als emotionales Aufräumkommando nach dem realen Grusel der „Tagesschau“ – als psychologische Rückversicherung, dass am Ende alles gut wird. Dieses Erregungsbedürfnis mit Reißleine existiert freilich nur in stabilen Gesellschaften. In Ländern voller echtem Grusel guckt man keine Krimis. Auch das ist ein Zeichen dafür, wie gut es dem Land in Wahrheit geht.
Optimismus freilich lässt sich nicht beschließen. Die gefühlte Lage speist sich nicht aus Appellen, schon gar nicht denen eines schwachen Nochregierungschefs, der sich zu jedem Anflug von Elan tapfer zwingen muss. Olaf Scholz: die Kanzler gewordene Katerstimmung.
Wer Angst hat, sollte Fakten sammeln.
Benedikt Waldherr, Psychotherapeut
Wer Angst hat, sollte Fakten sammeln, sagte der Psychotherapeut Benedikt Waldherr dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Und zwar solche Fakten, die „der eigenen Furcht widersprechen“. Treten wir also einen Schritt zurück. Versuchen wir, uns jenseits der Schwarzmalerei klarzumachen, was Deutschland für privilegierte Verhältnisse bietet.
Eine Fülle an Optionen
Es brennen keine Mülltonnen. Es ziehen keine marodierenden Banden durch das Land. Niemand wird willkürlich weggesperrt. 84,48 Millionen Menschen leben warm und trocken in einer stabilen Nation mit übervollen Supermärkten, verbindlichen Grundregeln und einem leidlich funktionierenden Gesundheits- und Rechtssystem. Weitere Benefits: ein hohes Demokratieverständnis, Meinungsfreiheit und eine Fülle an biografischen Optionen. Was für ein Luxus.
Und im größeren Kontext? Deutschland hat der Krise zum Trotz Japan überholt und ist die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt. Die Inflationsrate hat an Dramatik verloren. Der Dax erreicht Rekordhöhen. Zwar sank die Produktion im Vergleich zu 2015 um 6 Prozent. Die Bruttowertschöpfung aber – also der Gesamtwert aller erwirtschafteten Waren und Dienstleistungen – steigt seit Jahren, zuletzt 2023 um üppige 6,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
„Wir haben alles, außer Rohstoffe“
Als „Hidden Champions“ bezeichnet die Wirtschaft mittelständische Weltmarktführer. Gut 4000 gibt es weltweit – stolze 1700 davon haben ihren Sitz in Deutschland. In den USA sind es 350. Dieses Kräfteverhältnis gerät etwas aus dem Blick angesichts der Dauerdebatte über die Allmacht der fünf großen US-Digitalkonzerne Google, Apple, Meta (Facebook), Amazon und Microsoft. In Heilbronn entsteht das größte Zentrum für Künstliche Intelligenz in Europa. Deutschland ist das beliebteste nicht englischsprachige Land für Fachkräfte aus dem Ausland.
Gewiss: Das alles nützt direkt und sofort niemandem, der im Supermarkt vor der teuren Butter steht. Mittelfristig aber ist es ein klarer Indikator dafür, dass Deutschland im schmerzhaften Wandlungsprozess, den die halbe Welt durchmacht, hervorragende Karten hat. „Wir haben alles, außer Rohstoffe“, sagt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer im „Manager Magazin“. Siemens-Chef Roland Busch sieht es genauso: „Wir haben alle Chancen, um ein Wirtschaftswunder 2.0 zu initiieren.“
Stattdessen jedoch betreibe Deutschland eine „mutwillige Selbstverstümmelung“, sagte der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze dem „Handelsblatt“. Es sei „typisch deutsch“, dass das Deutschlandbild immer zwischen den Extremen schwanke: „Entweder kranker Mann oder Musterschüler.“ Die hypernervöse Gegenwart hält Uneindeutigkeit nur noch schwer aus.
„Besser als Stahl kochen oder Autos zusammenschrauben“
Deutschland habe viel zu lange seinem ideologischen „Industriefetisch“ nachgehangen, sagt Tooze. Dabei könne das Land seine Ressourcen heute „viel besser verwenden, als Stahl zu kochen oder Autos zusammenzuschrauben, etwa im Bereich Forschung oder neuer Technologien“. Volkswagen ist aktuell das augenfälligste Beispiel für den massiven Gesellschaftsumbau, der sich anfühlt wie ein Niedergang. Der Prozess ist bitter und hart für Tausende Betroffene. Die Alternative aber wäre, ein historisches Erfolgsmodell mit massiven Subventionen künstlich am Leben zu erhalten.
Hätte Deutschland sich viel früher einen Ruck geben müssen? Gewiss. Aber der Umbau ist in vollem Gang. Psychologisch gesehen freilich ist Ungewissheit emotionaler Extremsport. „Was erwarten wir? Was erwartet uns?“, fragte Ernst Bloch 1959 in „Das Prinzip Hoffnung“. „Viele fühlen sich nur als verwirrt. Dieser ihr Zustand ist Angst.“ Es komme aber darauf an, „das Hoffen zu lernen“, denn Hoffnung sei „ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern“.
Marktwirtschaft ist auch Mutwirtschaft
Ins Gelingen verliebt. Es ist eine Charaktereigenschaft, die nicht vielen Deutschen innewohnt. Vorsätzlich positives Denken gilt hierzulande als Selbstbetrug und esoterische Scharlatanerie. Überhaupt sind die Beharrungskräfte in saturierten Gesellschaften auch entgegen der Faktenlage stets groß. Je schneller sich die Welt zu drehen scheint und je größer die Fliehkräfte, desto fester klammert man sich an das Vertraute. In der Überzeugung: Je weniger sich ändert, desto weniger kann schiefgehen. Das ist psychologische Physik.
Gewiss: Rosa Brillen und Realitätsverleugnung lindern keine Ängste. Optimismus gilt als Irrweg der Träumenden. Zu Unrecht – denn umgekehrt hat skepsisbesoffene Bedenkenträgerei auch keine Zukunft. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter sprach von der „schöpferischen Zerstörung“, die Neues erst ermögliche. In diesem Sinne ist Marktwirtschaft auch Mutwirtschaft.
Vom allgemeinen Wehklagen übertönt hat sich die Stimmung der Deutschen in Wahrheit sogar leicht aufgehellt. Der Angstindex – der Durchschnitt aller gemessenen Ängste, jährlich ermittelt von der R+V-Versicherung – ist im Vergleich zu 2023 um 3 Prozent auf 42 Prozent gefallen. Die größte Sorge bleibt für 57 Prozent das deutsche „Urtrauma“: steigende Lebenshaltungskosten. Die Angst vor einer Wirtschaftskrise (48 Prozent) sank dagegen von Platz fünf im Vorjahr auf Platz acht.
Die zarte Blüte der Zuversicht
Die meinungsfundamentalistischen Feinde des Optimismus‘ aber schüren bewusst die Verdrießlichkeit, denn die Erzählung, dass alles den Bach runtergeht, nützt ihnen. Die Folge: Die Veränderungstoleranz tendiert gen null.
Die guten Zeiten sind vorbei. Die besseren kommen jetzt.
Christoph Werner,Chef der Drogeriekette dm
Der Volkswirtschaftler Henning Vöpel gibt der „dauerempörten Gesellschaft“ im „Focus“ eine Mitschuld am „rasenden Stillstand“ der Postmoderne. Die Spieltheorie zeige, dass Geduld ein wichtiger strategischer Vorteil sei. Keine Regierung? Neuwahlen im Winter? Na und? Die Regierungsbildung 2017/18 war eine 168-tägige Hängepartie. Das Land hat auch das überstanden. „Die guten Zeiten sind vorbei“, sagte Christoph Werner, der Chef der Drogeriekette dm, „die besseren kommen jetzt“.
Das größte Wagnis unserer Zeit
Also alles nicht so schlimm? Sicher nicht. Aber es gibt eben auch Licht hinter den schwefligen Wolken. Über Jahrhunderte war Ungewissheit, nicht Gewissheit, ein starker Antrieb. Sie hielt Alexander von Humboldt nicht davon ab, die Schönheiten und Gefahren der Welt zu erkunden. Sie trieb Marco Polo nach Osten und Kolumbus nach Westen. Sie ist die zaghafte Schwester der Neugier.
Selbstverständlich hat das Land das Zeug, die emotionale, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Erneuerung mittelfristig zu schaffen. „Unsere größten Ängste“, schrieb Rainer Maria Rilke, „sind die Drachen, die unsere tiefsten Schätze bewahren.“ Zuversicht mag das größte Wagnis unserer Zeit sein. Aber es gibt keine Alternative.
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