Donnerstag, 18. April 2024

»Ich bin vorsichtig mit der Champagnerlaune«

  


Ein spektakuläres Urteil könnte die Klimapolitik nicht nur in der Schweiz verändern – wobei man das vor Jahren auch von einem deutschen Urteil dachte. 

Zeit hier Von Matthias Daum, Florian Gasser und Lenz Jacobsen  17. April 2024
man kann erst mal großzügig vorspulen

Schweizer Rentnerinnen hatten vor dem Menschenrechtsgerichtshof überraschend Erfolg mit einer Klimaklage. Im Land erregt sich ein Teil nun über die vermeintliche Einmischung der Richter, und ein anderer Teil fragt sich, was das Urteil für die Klimapolitik bedeutet – und zwar nicht nur in der Schweiz, denn auch alle anderen europäischen Länder müssen sich daran halten. Erzwingt nun die Justiz Fahrverbote und CO₂-Einsparung? Die Erfahrungen aus Deutschland lassen daran zweifeln. Denn hier hat ein Verfassungsgerichtsurteil vor drei Jahren zum Klima auch weniger geändert, als man damals annahm.


Spiegel hier  Ein Interview von Charlotte Theile / Antworten von Experte Johannes Reich. 10.04.2024

Klimaurteil gegen die Schweiz

Die Schweiz tut zu wenig gegen die Klimakrise, das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Doch führt das Urteil überhaupt zu politischen Veränderungen? 

Die Schweizer »KlimaSeniorinnen« nach dem Urteil in Straßburg: Konkrete politische Veränderungen führen in der Schweiz immer über die Politik

SPIEGEL: Die Schweizer »KlimaSeniorinnen« hatten mit ihrer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Erfolg. Straßburg hat offiziell festgehalten: Die Schweizer Klimapolitik missachtet die Menschenrechte. Konkret die Rechte von älteren Frauen. Wie schauen Sie auf dieses Urteil?

Johannes Reich ist Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und beschäftigt sich sich dort mit Öffentlichem Recht, Umweltrecht und Energierecht. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das internationale Klimaschutzrecht.

Reich: Vor den Gerichten in der Schweiz sind die KlimaSeniorinnen mit ihrem Anliegen gescheitert, sie wurden nicht einmal angehört. Dass die Chancen in Straßburg besser stehen, war klar – und die Klage war gut formuliert. Dennoch hätte es auch gut sein können, dass das Gericht zu einem anderen Urteil gekommen wäre.

SPIEGEL: Inwiefern?

Reich: Die Seniorinnen haben ja gegen die Klimapolitik der Schweiz geklagt, weil erwiesen ist, dass ältere Frauen von Hitzewellen besonders betroffen sind. Doch die Auswirkungen heutiger CO₂-Emissionen wirken sich erst in etwa zehn Jahren aus, das soll nicht zynisch klingen, aber...

SPIEGEL: …vielleicht sind die Klägerinnen schon tot, wenn die Auswirkungen besserer Klimapolitik infolge des Urteils spürbar würden?

Reich: Wenn man von einer statistisch durchschnittlichen Lebenserwartung ausgeht, ja, dann wäre das oft der Fall.

SPIEGEL: Was die Klägerinnen aber noch erleben werden: Dass die Schweiz ihre Klimapolitik aufgrund des Urteils aus Straßburg nun nachjustiert.

Reich: Sicher ist das nicht. Das Urteil ist rein deklaratorisch. Das bedeutet: Es gibt keine konkreten Vorgaben für die Schweiz.

SPIEGEL: Das bedeutet, es gibt keine unmittelbaren juristischen und politischen Folgen? Keine strengeren Vorgaben für Verbrennermotoren, keine neue Förderung für Solardächer?


»Die Schweiz hat 2020 ihr Klimaziel verfehlt.
Es ist ihr nicht gelungen, ihre Emissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent zu senken«


Reich: Richtig. Deshalb bin ich auch etwas vorsichtig mit der Champagnerlaune, die wir in den letzten Tagen gesehen haben. Konkrete politische Veränderungen führen in der Schweiz immer über die Politik – etwa über die Volksinitiative.

SPIEGEL: Das heißt bedeutet Unterschriften sammeln, Kompromisse eingehen – und vielleicht am Schluss knapp verlieren. So, wie es etwa 2021 beim CO2-Gesetz passiert ist.

Reich: Das schweizerische System funktioniert in der Tat so, dass vor allem Volksentscheide Veränderungen bringen. Worauf die Seniorinnen aber sicher hoffen können: Dass der politische Preis für Untätigkeit in Klimafragen gestiegen ist.

SPIEGEL: In der Medienmitteilung des zuständigen Ministeriums heißt es, man prüfe das Urteil noch »im Detail«, finde aber schon jetzt: »Die Schweiz ist gut unterwegs.«

Reich: Das ist eine Floskel, der man klar entgegenhalten muss: Die Schweiz hat 2020 ihr Klimaziel verfehlt. Es ist ihr nicht gelungen, ihre Emissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent zu senken.

SPIEGEL: Woran liegt das?

Reich: Da gibt es eine Reihe von Gründen, ich möchte zwei nennen: das starke Bevölkerungswachstum und der Straßenverkehr, wo die Einsparungen, die wir durch effizientere Motoren haben, durch schwerere und stärkere Fahrzeuge wieder aufgefressen werden.

SPIEGEL: Das Departement für Umwelt, Verkehr und Kommunikation wird von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) geführt. Sehen Sie hier einen Zusammenhang?

Reich: Das wäre zu kurz gegriffen. Das Departement wurde von 1995 bis 2022 von Mitgliedern der Sozialdemokraten oder der Mitte geführt. Die Schweizer Politik reagiert je nach Parteizugehörigkeit aber sehr unterschiedlich auf dieses Urteil. Die Grünen Parteien feiern das Votum, rechte Parteien machen sich eher Sorgen, dass ausländische Gerichte in Bern zu viel Einfluss erhalten.


»Wir werden sehen,
dass zunehmend auch private Unternehmen in die Verantwortung genommen werden«


SPIEGEL: Dabei ist der tatsächliche politische Einfluss gering.

Reich: Es gibt keine Instanz, die dem Parlament sagen könnte: »Dieses oder jenes musst du jetzt tun.« Das Urteil ist für die Politik ein Signal, kein Korsett.

SPIEGEL: Trotzdem kreisen die Schweizer Medien um dieses Urteil. Die Seniorinnen werden auf Schritt und Tritt von Kameras begleitet, geben Interviews in unterschiedlichen Sprachen, werden gefeiert.

Reich: Persönlich verstehe ich das absolut, die Frauen haben acht Jahre lang auf diesen Tag hingearbeitet. Und natürlich ist auch juristisch bedeutsam, was passiert ist. Wir sehen hier einen Trend, der sich auch schon bei anderen Urteilen, etwa dem des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 gezeigt hat: die fortschreitende Subjektivierung der Rechtsordnung.

SPIEGEL: Das müssen Sie erklären.

Reich: Objektive Rechtsgrundsätze werden in dem Sinne subjektiviert, dass sie von Individuen eingeklagt werden können. Und die Menschenrechte eignen sich besonders gut, da sie auch einen moralischen Gehalt haben. Dass dies nun in der Rechtsprechung zu Klimafragen immer häufiger passiert, ist sicher ein Paradigmenwechsel. Trotzdem bleibt dieses Feld sehr komplex.

SPIEGEL: Was meinen Sie damit?

Reich: In der Schweiz haben wir etwa die Situation, dass viele Emissionen, für die die Schweizer Bevölkerung verantwortlich ist, gar nicht in der Schweiz anfallen. Die Schweiz hat einen sehr hohen Anteil an »embedded emissions«, er liegt bei etwa siebzig Prozent. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Schweiz ein sehr teurer Standort ist und die gesamte Schwerindustrie ins Ausland ausgelagert wurde.

SPIEGEL: Kann die Schweiz denn nicht auch dazu beitragen, dass im Ausland Emissionen reduziert werden?

Reich: Das tut sie. Aber hier ist das Land in einer sehr umstrittenen Pionierrolle. Man finanziert Emissionseinsparungen im Ausland aus der grundsätzlich richtigen Überlegung heraus, dass ein Franken anderswo mehr CO₂ einsparen kann als in der teuren Schweiz. Doch diese Projekte sind zum Teil schlecht überwacht, manche Einsparungen werden doppelt abgerechnet.

SPIEGEL: Lassen sich solche komplexen Zusammenhänge in einem Urteil abbilden?

Reich: Die Richter in Straßburg haben es zumindest versucht. Wer sich für die genaue Rechtsprechung interessiert, sollte sich das Urteil  unbedingt einmal durchlesen.

SPIEGEL: Gehen Sie davon aus, dass sich nun auch andere Bevölkerungsgruppen ermutigt fühlen, ihr Land zu verklagen?

Reich: Wir werden eher sehen, dass zunehmend auch private Unternehmen in die Verantwortung genommen werden. In Deutschland gibt es etwa das Verfahren gegen RWE, in der Schweiz ist ein Verfahren gegen das Baustoffunternehmen Holcim anhängigNoch spannender finde ich aber die niederländische Klage gegen den Mineralöl-Konzern Shell – anders als bei den KlimaSeniorinnen könnten hier nämlich wirklich konkrete Konsequenzen für das Unternehmen entstehen. 

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