NTV hier Ein Gastbeitrag von Kai Niebert und Jan-Niclas Gesenhues 01.05.2023
Ende März trifft der Koalitionsausschuss mehrere Verabredungen. Eine Einigung, die dabei etwas untergeht: Dem Naturschutz wird eine ganz neue Priorität eingeräumt. So soll Deutschland seiner Verpflichtung nachkommen, ein Drittel seiner Fläche der Umwelt zu widmen.
Der Koalitionsausschuss der Bundesregierung hat viele Diskussionen ausgelöst, vor allem mit Blick auf den Klimaschutz. Dabei wurden die Ergebnisse zum Naturschutz etwas übersehen. Zu Unrecht. Denn das Beschlusspapier hat es naturschutzpolitisch in sich. Einige der Forderungen könnten einen wahren Paradigmenwechsel im Naturschutz herbeiführen.
Das globale Netz von Arten und Ökosystemen ist unsere Lebensversicherung.
Wir sind auf intakte Ökosysteme angewiesen, wenn wir gesund leben und auch nächsten Generationen Entwicklungsmöglichkeiten lassen wollen. Zudem werden wir unsere Klimaziele reißen, wenn Moore, Wälder und Meere nicht besser geschützt und renaturiert werden. Deshalb müssen die 2020er-Jahre zu mehr Naturschutz, mehr naturnaher Nutzung und zu mehr Wildnis führen. Kurz: Wir brauchen eine Stärkung unserer grünen Infrastruktur - vom wiedervernässten Moor über den renaturierten Fluss bis hin zum Urwald.
Klar ist: Wir können es nicht immer vermeiden, die Natur zu belasten. Aber weil sie schon jetzt stark geschädigt ist, reicht es nicht mehr aus, diese Eingriffe nur auszugleichen, denn das führt dann zwangsläufig zu einer Abwärtsspirale. Statt nur dafür zu sorgen, dass es der Natur nicht noch schlechter geht, muss ihr Zustand verbessert werden – und zwar in der Fläche. Das heißt auch, dass wir die Natur nicht in Schutz- und Schmutzgebiete einteilen. Auch außerhalb von Schutzgebieten müssen Auen renaturiert, Moore wiedervernässt und Städte begrünt werden.
Die Beschlüsse des Koalitionsausschusses ermöglichen eine Beschleunigungsoffensive im Naturschutz, da nun konkrete Änderungen im Planungs-, Ordnungs- und Förderrecht angepackt werden können. Das ist auch dringend notwendig, denn auf insgesamt 30 Prozent der Flächen in Deutschland muss Naturschutz und Renaturierung ein Vorrang eingeräumt und deutlich naturfreundlicher gewirtschaftet werden. Dazu hat sich Deutschland im Naturschutzabkommen von Montreal verpflichtet.
Naturschutz und Klimaschutz müssen gemeinsam gedacht werden. Grüne Infrastrukturen wie Schutzgebiete, naturnahe Wälder, Auen und artenreiche Grünflächen sind für den Klimaschutz genauso wichtig wie erneuerbare Energien.
Die Spitzen der Umweltverbände haben der Regierung deshalb Anfang des Jahres einen Doppelwumms für Natur und Klima vorgeschlagen. Schon heute gilt: Wer zum Beispiel Bäume für ein Stromnetz abholzt, muss woanders neue pflanzen. Das Problem ist jedoch, dass dieser Ausgleich oft nicht systematisch erfolgt und die Ersatzflächen schwer zu finden sind. Das soll sich durch neue Regeln und bessere Koordination ändern. Damit werden einerseits Investitionen in Wind- und Solarenergie einfacher und attraktiver, gleichzeitig wird der Zustand vorhandener Schutzgebiete verbessert und Lebensräume miteinander verbunden. Entstehen würde ein neuer, bundesweiter Biotopverbund. Insgesamt wird so sowohl dem Naturschutz als auch dem Klimaschutz geholfen.
In Kombination mit einer Stärkung des Naturschutzes bei der Flächenausweisung sowie schnelleren Genehmigungs- und Planungsverfahren für Naturschutzprojekte kann das einen echten Schub für unsere natürlichen Lebensgrundlagen auslösen. Große, zusammenhängende Räume für die Natur statt Flickenteppich - in solchen Gebieten kann die Natur dann ihre ganze Kraft entfalten und sich viel besser an die Klimakrise anpassen.
Es braucht Gebiete, wo Naturschutz Vorrang hat
Die entscheidende Frage lautet: Woher sollen die notwendigen Flächen für all diese Projekte kommen? Das von den Regierungsparteien im Koalitionsausschuss vereinbarte Flächenbedarfsgesetz für die Natur kann hier ein echter Meilenstein auf dem Weg zu einer umfänglichen Renaturierung Deutschlands werden. So ein Gesetz muss klar machen: Was sind die Flächen, was darf und soll auf diesen Flächen passieren und wie kommen Naturschutzbehörden, Verbände und Unternehmen an Flächen, um dort Moore, Wiesen oder Wälder wieder fit zu machen.
Für die Sicherung dieser grünen Infrastruktur auf 30 Prozent der Fläche sollte festgelegt werden: Hier hat die Natur Vorrang. Das heißt nicht, dass sie von jeder Nutzung ausgenommen ist – im Gegenteil. Aber hier muss eben besonders naturfreundlich gewirtschaftet werden. Auch hier braucht es Planungsbeschleunigung. Aber eben für die Natur. Gleichzeitig muss die Flächenversiegelung deutlich reduziert werden. Nach wie vor verschwinden in Deutschland täglich Flächen der Größe von fast 80 Fußballfeldern unter Beton und Asphalt. Damit werden sie dauerhaft Natur und Lebensmittelerzeugung entzogen. Diese Versiegelungsorgien sind nicht weiter hinnehmbar.
Der Abwärtsspirale im Naturschutz muss ein Ende gesetzt werden. Wir befinden uns mitten im sechsten großen Artensterben der Erdgeschichte, und dieses Mal sind wir Menschen die Verursacher. Die voranschreitende Klimakrise verschärft die Lage dramatisch. Viele unserer Ökosysteme stehen kurz vor dem Kipppunkt – international, aber auch in Deutschland. Für uns ist klar: Wir müssen jetzt handeln und aus dem Klein-Klein zu einem Neustart im Naturschutz kommen, der dem Ausmaß des Aussterbens und Kollabierens der Ökosysteme gerecht wird. Damit schützen wir die Freiheit kommender Generation, die Grundlage unserer Wirtschaft und die Vielfalt des Lebens.
Die Autoren
Dr. Jan-Niclas Gesenhues ist seit 2021 Mitglied im Deutschen Bundestag und umweltpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Prof. Dr. Kai Niebert forscht und lehrt als Nachhaltigkeitsexperte an der Universität Zürich. Seit 2015 ist er Präsident des Umweltdachverbands Deutscher Naturschutzring.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen