Mittwoch, 27. März 2024

Biologin: "Wir haben ein Maß an Perfektion erreicht, die keinem Lebewesen noch etwas gönnt"

Offensichtlich soll die bestehende Haltung weiter auf die Spitze getrieben werden, bis es dann irgendwann wirklich gar nicht mehr geht. Das zeigt die aktuelle  Diskussion im Europaparlament um das Renaturierungsgesetz, wo Lügen die Fakten überlagern und der Natur- und Klimaschutz im Interesse der industriellen Landnutzung geopfert wird.

Wesentlich erscheinen mir diese Aussagen im unteren Artikel:
"Wir haben uns stark auf technische Lösungen wie erneuerbare Energien fokussiert. Dass wir eigentlich viel breitere Lösungen bräuchten, naturbasierte Lösungen, ein gutes Zusammenleben und Änderungen im Konsum, das ist in den ganzen Debatten der letzten Jahrzehnte fast gar nicht diskutiert worden."

Standard  hier Interview  Jakob Pallinger  25. März 2024

In Zukunft werden sich Unternehmen stärker für Naturrisiken verantworten müssen, sagt die Biologin Katrin Böhning-Gaese. Der Schlüssel für den Artenschutz sei immer noch die Ernährung

Die industrielle Landwirtschaft zählt zu den Hauptverursacherinnen des Artensterbens.

Ohne eine biologische Vielfalt kann auch die Menschheit nicht überleben. Verschwinden die Arten, verschwinden auch wir. Das ist in etwa so, als wenn wir jeden Tag aufs Neue unsere Lebensversicherung kündigen, schreibt die deutsche Biologin Katrin Böhning-Gaese in ihrem kürzlich erschienenen Buch "Vom Verschwinden der Arten". Dennoch werde dem Verlust der Arten immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Gerade in der Landwirtschaft könne das langfristig zu Ernährungskrisen führen, wenn die Böden immer ausgelaugter würden. Durch relativ einfache Maßnahmen ließe sich die Artenvielfalt jedoch auch in der konventionellen Landwirtschaft schnell erhöhen, sagt Böhning-Gaese. Zentral sei nach wie vor, dass weniger Fleisch gegessen werde.

STANDARD: Frau Böhning-Gaese, sprechen wir zu oft über den Klimawandel und zu wenig über das Artensterben?

Böhning-Gaese: Ja. Wir sollten über das Artensterben mindestens genauso häufig und genauso intensiv sprechen wie über den Klimawandel. Beim Klimawandel geht es letztlich darum, wie wir als Menschheit in Zukunft auf der Erde leben, beim Artensterben, ob wir als Menschheit überleben werden.

STANDARD: Inwiefern?

Böhning-Gaese: Letztlich ist die Diversität unsere menschliche Existenzgrundlage. Fast alles, was wir brauchen, gewinnen wir aus der Natur. Das fängt an mit der Luft, die wir atmen, sauberem Trinkwasser, unserer Nahrung, unserer Kleidung, unserem Bauholz. Selbst moderne Medikamente kommen immer noch aus der Natur. Wenn wir diese Grundlage verlieren, dann wird unser menschliches Leben und auch Überleben gefährdet.

STANDARD: Woran liegt das, dass über das Artensterben meist weniger gesprochen wird?

Böhning-Gaese: Die meisten Menschen nehmen nicht wahr, dass die Biodiversität so dramatisch zurückgeht. Wir haben bei den Säugetieren, Vögeln, Reptilien und Amphibien, wo es ganz gute Langzeitdaten gibt, die letzten 50 Jahre über 60 Prozent der Individuen verloren. Seit meiner Grundschulzeit sind zwei Drittel aller Tiere auf der Erde verschwunden. Das ist ein dramatischer Rückgang. Aber wer von uns hat das wirklich wahrgenommen? Das liegt auch daran, dass man die Arten gar nicht mehr so kennt. Wer kennt heute noch die Feldlerche oder ein Rebhuhn? Das Zweite ist, dass wir gar nicht merken, wie abhängig wird von der Natur sind. Wir gehen in den Supermarkt und kaufen da unsere Lebensmittel, und die Regale sind gefüllt. Aber dass das irgendwann auf einem Acker, auf der Wiese oder im Wald produziert werden musste, das sehen wir nicht. Am ehesten merken wir es manchmal an Preisschwankungen. Wenn zum Beispiel die Schokoladenpreise plötzlich nach oben gehen, weil die Produktion in irgendeinem Land der Erde eingebrochen ist. Aber diese Abhängigkeit, die nehmen wir nicht wirklich wahr.

STANDARD: Könnte auch ein Grund dafür sein, dass Biodiversität als viel komplexeres Thema wahrgenommen wird als der Klimawandel, der häufig nur über CO2-Bilanzen erfasst wird?

Böhning-Gaese: Das spielt auf jeden Fall eine Rolle. In der Biodiversität schauen wir auf die Ausdehnung von Wäldern, die Bestandstrends von Arten, aber auch auf die genetische Diversität. Es gibt ein breites Spektrum an Indikatoren, die mit unterschiedlichen Werten zusammenhängen. Das ist aber kein Nachteil, sondern eine Stärke, weil man damit Menschen auf unterschiedliche Art und Weise ansprechen und erreichen kann. Viele Menschen berührt die Gefährdung der Wale oder der sibirischen Tiger, andere sehen in einer intakten Natur ein Geschäftsmodell, etwa zur Herstellung von Medikamenten, für wieder andere ist die Natur stark mit Kindheitserinnerungen verbunden. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass auch das Klimathema eigentlich viel komplexer ist. Wir haben das in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Diskurs auf wenige Parameter reduziert, auf die Temperatur und vielleicht noch auf die Niederschläge und CO2-Bilanzen. Wir haben uns stark auf technische Lösungen wie erneuerbare Energien fokussiert. Dass wir eigentlich viel breitere Lösungen bräuchten, naturbasierte Lösungen, ein gutes Zusammenleben und Änderungen im Konsum, das ist in den ganzen Debatten der letzten Jahrzehnte fast gar nicht diskutiert worden.

STANDARD: Mit dem Klimaschutz und dem Ausbau erneuerbarer Energien machen viele Unternehmen bereits gute Geschäfte. Fehlt es im Naturschutz an solchen unternehmerischen Interessen?

Böhning-Gaese: Es wäre kein Fehler, wenn dieses Interesse stärker da wäre. Das sollte sich entwickeln, weil es in Zukunft genauso wie beim Klimaschutz die Pionierunternehmen sind, die die neuen Marktnischen entdecken und sich da etablieren können. Aber auf der anderen Seite muss man auch sehen: Mit dem Verlust der Biodiversität ist auch ein unternehmerisches Risiko verbunden. Es gibt auf europäischer Ebene dazu neue Berichtspflichten. Unternehmen müssen prüfen, wie abhängig sie von der Natur sind. Und wenn da eine hohe Abhängigkeit besteht und die Unternehmen diese nicht beziffern und keine Gegenmaßnahmen für den Artenverlust nennen können, dann hat das auch Folgen für Investitionen in ihr Unternehmen. Es kann schnell sehr teuer werden, wenn man als Unternehmen nicht gewappnet ist, mit diesen Risiken umzugehen.

STANDARD: Was ist der Hauptgrund für den Artenrückgang?

Böhning-Gaese: Der letzte große Bericht des Biodiversitätsrats hat 2019 die großen Ursachen für den Verlust der Biodiversität identifiziert – die sogenannten Big Five

Auf Platz eins ist der Landnutzungswandel, vor allen Dingen die Landwirtschaft, die sich in tropische Wälder, Savannen oder Feuchtgebiete frisst. In Europa ist es die intensive Landwirtschaft, die Monokulturen, die Schädlingsbekämpfungsmittel, aber auch der Verlust von Hecken und anderen Strukturen. 

Auf Platz zwei liegt die Ausbeutung von Arten: etwa der Fischfang oder die Jagd nach Wild. 

Auf Platz drei kommt der Klimawandel, der derzeit noch kein dramatischer Faktor für den Rückgang der Biodiversität ist, der aber in Zukunft sicher eine ganz große Rolle spielen wird. 

Dann kommt die Umweltverschmutzung, zum Beispiel die Plastikverschmutzung. 

Auf Platz fünf folgt die Einwanderung von exotischen Arten.

STANDARD: Was läuft in der Landwirtschaft konkret falsch?

Böhning-Gaese: Was in der Landwirtschaft erst richtig und dann falsch gelaufen ist, ist, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärker auf die Produktion gesetzt hat. Das war direkt nach dem Krieg zentral, weil die Menschen Hunger hatten und Nahrungsmittel brauchten. Aber in der Zwischenzeit hat das ein Maß an Perfektion erreicht, die praktisch keinem anderen Lebewesen noch irgendwas gönnt. Die Hecken sind verschwunden, damit man mit großen Erntemaschinen schnell über die Felder fahren kann. Man baut Kulturen an, die den größten ökonomischen Gewinn erwarten lassen. Dafür sind Wiesen und Weiden verschwunden. Alles ist auf Produktivität hin optimiert.

STANDARD: Bietet das nicht theoretisch auch wieder mehr Platz für die Natur, wenn die Erträge pro Fläche immer weiter steigen?

Böhning-Gaese: Im konventionellen Anbau sind die Erträge etwa 25 Prozent höher als im Ökolandbau. Je nachdem, wie man Ökolandbau betreibt, können die Erträge dort aber zum Teil auch gleich hoch sein wie im konventionellen Anbau. Letztlich brauchen wir auch für die langfristige Produktivität einen ökologischen oder biodiversitätsfreundlichen Landbau. Wenn wir alles aus den Böden rausholen und diese immer humusärmer werden, dann werden diese Böden keine Nahrungsmittel mehr produzieren. Da laufen wir in ein großes Risiko der Ernährungssicherung rein. Im Mittel ist im Ökolandbau die Biodiversität etwa 30 Prozent höher als im konventionellen Anbau. Aber auch im konventionellen Anbau ist mit relativ einfachen Maßnahmen innerhalb kurzer Zeit mehr Biodiversität zu erreichen: mit Blühstreifen, mit Brachflächen, mit Hecken oder mit Anbaumethoden, bei denen man nicht so dicht sät, bei denen man Untersaaten hat und mehrere Kulturen auf einem Acker anbaut. Letztlich geht sich das Ganze aber nur aus, wenn man auch beim Konsum und bei der Ernährung ansetzt.

STANDARD: Müsste Fleisch in Zukunft teurer werden?

Böhning-Gaese: Der Fleischkonsum, aber auch die Lebensmittelverschwendung sind wirklich zentral. Für ein Kilogramm Rindfleisch brauche ich das 160-Fache der Fläche wie für ein Kilogramm Kartoffeln. Wenn man den Konsum auch nur halbiert, bekommt man so viel Fläche frei, um einen naturfreundlichen Landbau zu machen, aber auch, um Schutzgebiete auszuweiten. Würde der Staat die Mehrwertsteuer auf Fleisch erhöhen und im Gegenzug die für Obst, Gemüse, Getreide und Vollkornprodukte reduzieren oder idealerweise auf null setzen, würde unterm Strich das, was im Einkaufskorb landet, nicht unbedingt teurer werden. Fleisch wird immer noch mit unglaublich viel Geld und Subventionen künstlich billiger gemacht, wo wir eigentlich genau das Gegenteil bräuchten.

STANDARD: In Ihrem Buch "Vom Verschwinden der Arten" sprechen Sie sich für eine Ausweitung von Schutzgebieten aus. Ist das angesichts der wachsenden Weltbevölkerung realistisch?

Böhning-Gaese: Schon vor einigen Jahren hat eine Kommission eine Empfehlung für eine sogenannte planetare Ernährung aufgestellt. Wie sollte man sich gesund ernähren und gleichzeitig so, dass man den Planeten möglichst wenig belastet? Da geht es zum Beispiel um 300 Gramm Fleisch in der Woche. Das wäre das Zurück zum Sonntagsbraten, den wir eigentlich in den 1950er-Jahren noch hatten. Oder 200 Gramm Fisch in der Woche. Das war der Freitagsfisch, den wir früher hatten. Und ansonsten eben viel Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Nüsse und Vollkorngetreide. Mit dieser Ernährung könnte man sogar zehn Milliarden Menschen auf der Erde ernähren und gleichzeitig die Regenwälder, das Klima und das Wasser besser schützen. Und man könnte noch viel mehr Schutzgebiete errichten.

STANDARD: Müssten wir die Natur in solchen Schutzgebieten künftig vermehrt in Ruhe zu lassen?

Böhning-Gaese: Ja, wir brauchen Flächen, wo man Natur auch Natur sein lässt. Beim Weltnaturgipfel in Montreal im Jahr 2022 hat sich die Weltgemeinschaft darauf geeinigt, 30 Prozent der Flächen an Land und in den Meeren bis zum Jahr 2030 unter Schutz zu stellen. In der europäischen Biodiversitätsstrategie ist noch eine zusätzliche Verschärfung drin, nämlich dass insgesamt zehn Prozent der Flächen streng geschützt sind. Das bedeutet, Natur auch mal Natur sein zu lassen, vielleicht mehr Wildnis zuzulassen. Das geht durchaus. Wir haben in den Alpen Gebiete, wo das bereits gelebte Praxis ist und wo das wunderbar funktioniert. Schutzgebiete bieten die Möglichkeit, die Kraft der Natur wirklich zu erleben, aber auch zu sehen, wie sich die Natur ohne menschliche Eingriffe entwickeln würde. Gerade bei Wäldern ist es wichtig zu schauen, welche Baumarten sich dort ansiedeln, welche unter dem derzeitigen Dürre- und Temperaturstress keine Schwierigkeiten haben und ganz von allein wachsen.

STANDARD: Ein Ziel des Weltnaturgipfels ist es auch, in Zukunft wieder im Einklang mit der Natur zu leben. Was bedeutet das?

Böhning-Gaese: Das bedeutet, dass man die anderen Arten auf der Erde wirklich wahrnimmt und ernst nimmt und ihnen auch Respekt entgegenbringt. Es bedeutet auch, dass wir Fürsorge und Verantwortung für diese Arten übernehmen. Das ist eine andere Art des Naturumgangs als den, den wir bisher haben. (Jakob Pallinger, 25.3.2024)


Katrin Böhning-Gaese ist eine deutsche Biologin, Professorin an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt und Direktorin des "Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum". Im vergangenen Jahr erschien ihr Buch "Vom Verschwinden der Arten", das sie gemeinsam mit der Journalistin Friederike Bauer schrieb.

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