Mittwoch, 20. März 2024

Bericht: Das hohe Maß an Armut und sozialer Benachteiligung in Deutschland steht in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes

 hier  19. März 2024, Süddeutsche Zeitung

Bericht: Europarat sieht in Deutschland hohes Maß an Armut und sozialer Benachteiligung 
Den Europarat besorgt unter anderem die zunehmende Obdachlosigkeit in Deutschland.

Die unabhängige internationale Organisation hat die Bundesrepublik besucht - und stellt ihr bei der Sozialpolitik kein gutes Zeugnis aus. Vor allem für drei Gruppen muss demnach mehr getan werden.

Deutschland muss nach Ansicht des Europarats bei der Bekämpfung von Armut, Wohnungsnot und Ausgrenzung behinderter Menschen deutlich mehr tun. Das hohe Maß an Armut und sozialer Benachteiligung in Deutschland stehe in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes, heißt es in einem Bericht des Europarats, der am Dienstag in Straßburg veröffentlicht wird.

Auch wenn Berlin begrüßenswerte Schritte für ein zugängliches Sozialsystem unternommen habe, brauche es weitere Anstrengungen gegen die wachsende Ungleichheit. Denn soziale Rechte würden in Deutschland nicht immer als rechtsverbindliche Verpflichtung betrachtet, sondern seien abhängig von den Ressourcen. Armut sei vor allem für Kinder, Senioren und Menschen mit Behinderungen ein großes Problem.

Vor allem die Armut von Kindern und Senioren sieht der Europarat als Problem

Es brauche entschlossene Schritte, um den Kreislauf der Kinderarmut zu durchbrechen, heißt es in dem Bericht. Auch müssten die Kinderrechte gestärkt und etwa mit einer zentralen Behörde koordiniert werden, weil sonst die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen bei politischen Entscheidungen übersehen würden - wie beispielsweise während der Corona-Pandemie, so der Europarat. Außerdem müsse gegen die hohe Armutsquote bei Seniorinnen und Senioren vorgegangen werden.

Auch bei den Rechten behinderter Menschen wurden den Angaben zufolge insgesamt nur begrenzte Fortschritte erzielt: Inklusion und Teilhabe seien in vielen Bereichen nicht möglich. Der Europarat begründet das mit mangelndem politischem Engagement, und zwar gut finanzierten, aber ausgrenzenden Strukturen wie Behindertenwerkstätten, Förderschulen oder Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen. Damit könnte ein unabhängiges Leben nur schwer verwirklicht werden. Stattdessen brauche es integrative Strukturen.

Beim fehlenden Wohnraum begrüßte der Europarat zwar das Engagement der Regierung, die Krise zu bekämpfen. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, zeigte sich allerdings besorgt über die zunehmende Obdachlosigkeit in Deutschland. Das Recht auf Wohnen als Menschenrecht für alle werde leider nur begrenzt anerkannt. Deutschland müsse alle zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, einschließlich Eingriffen in den Wohnungsmarkt und Änderungen des Mietrechts.

Auch müsse das Gleichstellungsgesetz deutlich verbessert werden, um die Diskriminierung in verschiedenen Bereichen einzuschränken. Besondere Aufmerksamkeit sollte demnach dem wachsenden Rassismus gewidmet werden, der das Potenzial habe, den sozialen Zusammenhalt zu untergraben und demokratische Institutionen zu destabilisieren, heißt es in dem Bericht des Europarats.

Der Europarat wurde 1949 zum Schutz von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat in Europa gegründet. Er ist von der Europäischen Union unabhängig. Ihm gehören 46 europäische Staaten an. Die Experten besuchten Deutschland im November vergangenen Jahres.


RND  hier Sven Christian Schulz 19.03.2024

Menschenrechtskommissarin bemängelt Defizite

Kritik des Europarats: Deutschland zu reich für „hohes Maß an Armut“

Ein neuer Bericht der europäischen Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatović hat strukturelle Defizite des deutschen Sozialstaats kritisiert. Die Bundesregierung müsse mehr tun, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, die Rechte von Kindern zu wahren und eine barrierefreie Umgebung zu schaffen.

Die europäische Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatović hat Deutschland aufgefordert, den Schutz der Menschenrechte voranzutreiben und die soziale Situation der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Das „hohe Maß an Armut und sozialer Ausgrenzung“ stehe in keinem Verhältnis zum Reichtum Deutschlands. Zwar habe die Bundesregierung Maßnahmen zur Reform des Sozialsystems ergriffen. Es seien jedoch deutlich mehr Anstrengungen erforderlich, um gegen die „wachsende Ungleichheit“ in Deutschland anzugehen, heißt es in dem am Dienstag vorgelegten Bericht.

Die Regierung müsse die Langzeitfolgen von Armut auf die Gesundheit, Bildung und Arbeitsplatzaussichten minimieren. Mijatović zufolge müsse Deutschland auch mehr tun, um den Kreislauf der Armut bei Kindern, die Armut bei älteren Menschen und bei Personen mit Behinderungen zu bekämpfen.

Kritisch äußerte sich die Menschenrechtskommissarin des Europarates zum Recht auf Wohnraum in Deutschland. Zu den größten Problemen für ein menschenwürdiges Wohnen zählen laut Mijatović die hohen Mietpreise in vielen deutschen Städten. Sie spricht sich für Eingriffe in den Wohnungsmarkt aus. „Umfassende und langfristige Maßnahmen, inklusive durch entsprechende Änderungen des Mietrechts, sind erforderlich, um Obdachlosigkeit zu verhindern und zu beseitigen“, sagte Mijatović. Sie forderte die Behörden auf, eine auf den Menschenrechten basierende Wohnungsstrategie zu entwickeln und einen Nationalen Aktionsplan zur Überwindung von Obdachlosigkeit zu verabschieden.

Die Bundesregierung hatte sich zum Ziel gesetzt, jährlich 400.000 Wohnungen zu bauen, davon 100.000 Sozialwohnungen. Doch 2022 wurden lediglich 295.000 fertiggestellt, für 2023 gibt es noch keine offiziellen Zahlen. Das Ifo-Institut geht aber von rund 245.000 Wohnungen aus.

Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren 2022 in Deutschland mehr als 600.000 Menschen zeitweise wohnungslos. Etwa 50.000 von ihnen lebten auf der Straße, die anderen kamen bei Verwandten und Freunden unter oder schliefen in Notunterkünften.

Deutlich mehr muss Deutschland nach Einschätzung der Menschenrechtskommissarin auch bei der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung und der Durchsetzung von Kinderrechten tun. „Es gibt keine zentrale Behörde, die die Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Kinderrechte auf allen Ebenen und in allen Ressorts wirksam koordinieren könnte“, kritisierte Mijatović. Daher kämen Kinder häufig zu kurz, wie die Corona-Pandemie gezeigt habe.

Besondere Aufmerksamkeit sollte Deutschland der wachsenden Fremdenfeindlichkeit und dem Rassismus widmen. Sie hätten das Potenzial, den sozialen Zusammenhalt zu untergraben und demokratische Institutionen zu destabilisieren. Erst im Herbst hatte eine Studie der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) gezeigt, dass Rassismus gegenüber Schwarzen in Deutschland so groß wie in keinem anderen untersuchten EU-Land ist. 76 Prozent der Befragten gaben an, in den letzten fünf Jahren wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft Opfer von Rassismus gewesen zu sein.

Mijatović hatte mit ihrem Team im November und Dezember letzten Jahres Deutschland besucht und mit Behörden, Menschenrechtsaktivisten, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Kinder- und Jugendvertretern gesprochen.

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