Samstag, 16. März 2024

Etwas, womit viele schon nicht mehr gerechnet hatten: Das europäische Lieferkettengesetz kommt

 Euronews  hier  Von Jack Schickler & Andreas Rogal  15/03/2024

EU-Mitgliedsstaaten unterstützen neues Gesetz zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen für Lieferketten

Nach wochenlanger Ungewissheit sind die neuen EU-Vorschriften für nachhaltige Lieferketten nun auf dem Weg dazu, in Kraft zu treten.

Die EU-Mitgliedstaaten haben am Freitag für ein bahnbrechendes neues Gesetz gestimmt, das Unternehmen verpflichtet, ihre Lieferketten auf fragwürdige Umwelt- und Arbeitspraktiken zu überprüfen.

Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und Regierungsvertreter hatten sich im Dezember vorläufig auf die Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit (CSDDD) geeinigt, doch ihre Zukunft wurde durch das Zögern Deutschlands und Italiens in letzter Minute in Frage gestellt.

Jetzt scheint es wahrscheinlich, dass die Maßnahmen in Kraft treten, nachdem Italien bei einem regulären Diplomatentreffen in Brüssel einer abgespeckten Version der Richtlinie zugestimmt hat.

Die Europaabgeordnete Lara Wolters (S&D, Niederlande), die den Gesetzentwurf durch das Parlament gebracht hat, begrüßte die Entscheidung auf X:

"Due Diligence im Rat verabschiedet!
Die Menschen und der Planet haben über den Zynismus gesiegt.
Vielen Dank an die belgische Präsidentschaft für all ihre Bemühungen!" 


Umwelt- und Sozialaktivisten wie Oxfam und Amnesty International hoffen, dass die Vorschriften Unternehmen daran hindern werden, aus menschlichem Leid Profit zu schlagen.

Steve Trent, CEO und Gründer der Environmental Justice Foundation, sagte in einer Erklärung: 
"Dies ist ein wichtiger Schritt in den Bemühungen um den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt in der EU und weltweit. Er ist von entscheidender Bedeutung für die europäischen Interessen und zeigt, dass der Block bereit ist, sich auf die Seite der Menschen und unserer gemeinsamen natürlichen Welt zu stellen."

Die Europäische Kommission hat außerdem erklärt, dass damit vermieden werden soll, dass sich Unternehmen im Binnenmarkt der EU mit mehreren, möglicherweise unvereinbaren nationalen Vorschriften auseinandersetzen müssen.

Belgien, das den Vorsitz im EU-Rat innehat, der die Mitgliedstaaten vertritt, hat sich in den letzten Wochen bemüht, die Bedenken der Mitgliedstaaten hinsichtlich eines übermäßigen bürokratischen Aufwands zu zerstreuen, indem es den Schwellenwert verdreifacht hat, so dass die Vorschriften nur für Unternehmen mit einem weltweiten Umsatz von mehr als 450 Millionen Euro gelten würden, und so den letzten Versuch unternommen hat, eine Sackgasse zu überwinden.

Im jüngsten Entwurf wurden die Bestimmungen über die zivilrechtliche Haftung gestrichen, die es den Gewerkschaften ermöglichen würden, nicht konforme Unternehmen zu verklagen - eine umstrittene Maßnahme, die von Ländern wie Finnland abgelehnt wurde.

Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments müssen noch über die Vorschriften abstimmen, und der April ist die letzte Gelegenheit, dies vor den Wahlen im Juni zu tun.

Die Zustimmung des Rates ist ein "Sieg im Kampf, Unternehmen für Menschen und Umwelt verantwortlich zu machen", sagte die Verhandlungsführerin des Parlaments, Lara Wolters (Niederlande, Sozialisten und Demokraten), in einer Erklärung. "Es ist höchste Zeit, einen großen Schritt in Richtung einer gerechteren Wirtschaft der Zukunft zu machen."

Doch andere sind weniger überzeugt, auch in der größten Fraktion des Parlaments.

Am Dienstag argumentierte die Ko-Vorsitzende der CDU/CSU-Delegation, Angelika Niebler (EVP, Deutschland), dass die abgeschwächten Pläne immer noch indirekte Auswirkungen auf kleinere Unternehmen hätten und einige dazu bewegen könnten, sich ganz aus den Entwicklungsländern zurückzuziehen.


Spiegel hier  Von Timo Lehmann, Brüssel  15.03.2024

Einigung auf EU-Lieferkettengesetz

Wie die FDP blockierte – und doch verlor

Die deutschen Liberalen wollten das Lieferkettengesetz in Brüssel stoppen. Über Wochen konnten sie eine Einigung verzögern – bis heute. War das zum Schaden der Bundesregierung?

Es hatte sich schon am Donnerstagabend langsam herumgesprochen. »Vorsichtig optimistisch« sei man, hieß es von einer EU-Abgeordneten, ein anderer schaute »zuversichtlich« auf die Abstimmung. Tatsächlich geschah dann am Freitagmittag etwas, womit viele nicht mehr gerechnet hatten: Die EU-Regierungen einigten sich auf das Lieferkettengesetz.

Ein wochenlanges Ringen in Brüssel nahm damit ein Ende. Ausgelöst wurde das Hin und Her von der kleinen FDP, die vor einigen Wochen den gesamten Entscheidungsprozess in Brüssel durcheinanderbrachte. Zwar enthielt sich am Freitag die Bundesregierung, wie es seit Wochen klar war. Doch die notwendige qualifizierte Mehrheit kam auch ohne Deutschland zustande. Hat die FDP den Ruf der Bundesregierung in der EU beschädigt? Das meinen zumindest manche bei SPD und Grünen.

Dabei ging es im Kern um ein nicht sonderlich parteipolitisches Thema. Das Lieferkettengesetz soll sicherstellen, dass in der EU keine Waren verkauft werden, die durch Kinderarbeit produziert werden oder die bei ihrer Produktion Umweltschäden verursachen. Wer sollte etwas dagegen haben?

Eigentlich galt das Vorhaben deshalb auch schon lange als ausgemachte Sache. Im Dezember hatten sich die Unterhändler der EU-Regierungen und des Parlaments im informellen Trilogverfahren geeinigt.

Erst als es vor wenigen Wochen zur konkreten Abstimmung kam, stellte sich unerwartet die FDP quer. Die Bundesregierung agiert in Brüssel im einvernehmlichen Verfahren. Heißt: Wenn sich die Koalition in Berlin nicht einig ist, führt das bei Abstimmungen zur Enthaltung, was jedoch einer Ablehnung gleichkommt. Für eine Zustimmung braucht es eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 15 Mitgliedstaaten, die zusammen für 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen.

Justizminister Marco Buschmann und Finanzminister Christian Lindner (beide FDP) machten Stimmung gegen das Vorhaben und verschickten einen Brief an EU-Regierungen. Ihnen ging die geplante Regelung zu weit. Sie kritisierten die mögliche Haftung für Unternehmen, die strikteren Regelungen für Risikosektoren, etwa die Baubranche, und sie warnten vor übertriebener Bürokratie. Plötzlich schlossen sich mehrere andere Regierungen der Ablehnung an – etwa Italien und Frankreich, womit das Vorhaben keine Mehrheit mehr fand.

Es folgte ein wochenlanges Tauziehen unter den Mitgliedstaaten. Mehrere Entwürfe kursierten, mehrere Abstimmungen wurden angekündigt – und wieder abgesagt. Schließlich wurde ein Kompromisstext ausgearbeitet, der den Kritikern deutlich entgegenkam:

Statt für Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten und 150 Millionen Euro Umsatz, soll das Lieferkettengesetz nur für Firmen gelten, die mehr als 1000 Beschäftigte und 450 Millionen Euro Umsatz haben.

Das Konzept der Risikosektoren wurde getilgt, die Frage der Haftung abgemildert.

Die FDP blieb dennoch beim Nein, umgestimmt wurden Italien und Frankreich. Verärgert hat die Bundesregierung damit mehrere Mitgliedstaaten, die FDP aber vor allem die eigenen Koalitionspartner.

FDP im Wahlkampf gegen von der Leyen

Pikant ist der Vorgang vor allem auch deshalb, weil er nicht der einzige dieser Art war. Bereits am Montag wurde das Gesetz zur sogenannten Plattformarbeit ohne Zustimmung der Bundesregierung angenommen, das Beschäftigten von Taxidiensten wie »Uber« oder Essenslieferanten bei »Deliveroo« oder »Bolt« mehr Rechte geben soll. Blockierer in der Bundesregierung war auch hier: die FDP.

»Je mehr ›German vote‹, desto mehr wird einfach ohne die Bundesregierung entschieden«, beklagt sich die EU-Grünenabgeordnete Anna Cavazzini. Noch deutlicher wird der Sozialdemokrat Tiemo Wölken. »Die Fundamentalopposition der FDP ist Gift für das europäische Projekt und sie gefährdet deutsche Interessen, weil sie die Bundesrepublik als Verhandlungspartner aus dem Spiel nimmt und so europäische Gesetze an Deutschland vorbei entstehen«, sagt er dem SPIEGEL.

Und die deutsche Europa-Staatsministerin Anna Lührmann (Grüne) spricht davon, dass der europapolitische Ruf Deutschlands und dessen Einfluss »beschädigt« sei.

Die FDP kündigte bereits an, ihren Widerstand aufrechtzuerhalten und nutzt es als Wahlkampfthema gegen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Die Liberalen taumeln nur wenige Monate vor der Europawahl bei rund drei Prozent in den Umfragen.

Der Widerstand sei nicht umsonst gewesen, sagte Lindner nach der Einigung. »Frau von der Leyen musste wesentlich abrüsten bei ihren Plänen.« FDP-Fraktionschef Christian Dürr holte ebenfalls gegen die Kommissionspräsidentin aus: »Dass es in Brüssel keine ausreichende Mehrheit gegen Ursula von der Leyens Bürokratiewahn gab, heißt für uns vor allem eines: Wir werden im Kampf für wirtschaftlichen Erfolg standhaft bleiben.«


Zeit hier  Aktualisiert am 15. März 2024   Quelle: ZEIT ONLINE, dpa

Lieferkettenrichtlinie: EU-Staaten einigen sich auf Lieferkettengesetz

Eine ausreichende Mehrheit der EU-Staaten unterstützt ein europäisches Lieferkettengesetz. Deutschland enthielt sich auf Drängen der FDP – und wurde nun überstimmt.

Nach langem Ringen unterstützt eine ausreichende Mehrheit der EU-Staaten ein abgeschwächtes europäisches Lieferkettengesetz zum Schutz der Menschenrechte. Die Ständigen Vertreter der Mitgliedsländer nahmen die entsprechende Richtlinie mit qualifizierter Mehrheit an, wie die belgische Ratspräsidentschaft mitteilte. Deutschland enthielt sich wie angekündigt auf Drängen der FDP und wurde überstimmt.

In Deutschland gilt seit dem vergangenen Jahr bereits ein nationales Lieferkettengesetz. Die FDP sieht das EU-Vorhaben kritisch, weil es etwa die Haftungsregeln für Unternehmen verschärft. Dafür sollen nun längere Umsetzungsfristen gelten, wie die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn sagte.

Unterhändler des Europaparlaments und der EU-Staaten hatten sich bereits im Dezember auf ein Lieferkettengesetz geeinigt. Damit sollen große Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie etwa von Kinder- oder Zwangsarbeit außerhalb der EU profitieren. Größere Unternehmen müssen zudem einen Plan erstellen, der sicherstellt, dass ihr Geschäftsmodell und ihre Strategie mit dem Pariser Abkommen zum Klimawandel vereinbar sind.

Weil die Einigung aus dem Dezember zunächst keine ausreichende Mehrheit unter den EU-Staaten fand, wurde das Vorhaben deutlich abgeschwächt: Statt wie ursprünglich geplant, soll es etwa nicht mehr für Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten und mindestens 150 Millionen Euro Umsatz gelten. 

Lange Übergangsfristen im EU-Lieferkettengesetz

Die Grenze wurde den Angaben zufolge auf 1.000 Beschäftigte und 450 Millionen Euro angehoben, nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren. An diesen Geltungsbereich soll sich stufenweise herangetastet werden. Nach einer Übergangsfrist von drei Jahren sollen die Vorgaben zunächst für Firmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten und mehr als 1,5 Milliarden Euro Umsatz weltweit gelten, nach vier Jahren sinkt die Grenze auf 4.000 Mitarbeitende und 900 Millionen Umsatz. 

Die EU-Kommission soll zudem eine Liste der betroffenen Nicht-EU-Unternehmen veröffentlichen. Für sie könnten die Vorgaben gelten, wenn sie mit ihrem Geschäft einen bestimmten Umsatz in der EU erzielen.

Zudem wurden demnach sogenannte Risikosektoren gestrichen. Damit sind Wirtschaftszweige gemeint, in denen das Risiko für Menschenrechtsverletzungen höher bewertet wird – wie etwa in der Landwirtschaft oder der Textilindustrie. Dort hätten auch Unternehmen mit weniger Mitarbeitenden betroffen sein können. Vorgesehen ist aber weiterhin, dass Unternehmen vor europäischen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie von Menschenrechtsverletzungen profitieren.

SPD-Minister für Einigung

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) begrüßte die Einigung der EU-Staaten. "Das ist gut für die Menschenrechte und die deutsche Wirtschaft, denn dadurch schaffen wir faire Wettbewerbsbedingungen für alle Unternehmen in Europa", sagte er. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) zeigte sich ebenfalls erfreut, dass das EU-Lieferkettengesetz "nach langer Zitterpartie diese Hürde genommen" habe. Ihr Ministerium stehe bereit, Unternehmen in Deutschland und in Partnerländern dabei zu unterstützen, die neuen Anforderungen umzusetzen und für faire Lieferketten einzutreten.

Die Deutsche Umwelthilfe wertete die Einigung zwar als "wichtigen Zwischenschritt". Sie kritisierte jedoch, dass das Gesetz erneut abgeschwächt worden sei und erst ab 2032 vollumfänglich gelten solle. Die Menschenrechtsorganisation Oxfam sprach von einem "Meilenstein mit Abstrichen". Wichtige Punkte seien auf der Zielgeraden verwässert worden.

"Sieg für die Bürokratie"

Auch aus der Wirtschaft kam Kritik. Das Gesetz sei "ein weiterer Rückschlag für Europas Wettbewerbsfähigkeit", sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Siegfried Russwurm. "Das Ergebnis ist kein Sieg für die Menschenrechte, sondern ein Sieg für die Bürokratie", sagte der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Dirk Jandura.

Die Nachverhandlungen in den vergangenen Wochen hätten zwar Änderungen gebracht, "die aus Sicht der Wirtschaft durchaus positiv zu bewerten sind", sagte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Peter Adrian. Dennoch bleibe es für Unternehmen "eine große Belastung, weltweite Lieferketten und direkte sowie indirekte Geschäftspartner zu kontrollieren".

Das EU-Parlament muss dem Vorhaben noch zustimmen. Hier gilt eine Mehrheit als wahrscheinlich.

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